# taz.de -- Italien nach dem EU-Gipfel: Europäische Umarmung | |
> Lange hatten die EU und insbesondere Deutschland keinen guten Ruf in | |
> Italien. Nach dem EU-Gipfel singen selbst rechte Politiker „O sole mio | |
> Europa“. | |
Bild: „O sole mio“ singt man zwar in Neapel, nicht in Venedig. Aber singen … | |
ROM taz | Der ältere Herr aus der Nachbarschaft kriegt sich gar nicht mehr | |
ein. „Fantastisch!“, sprudelt es aus ihm heraus, „Europa lebt, es ist | |
wieder da, und das haben wir dem Dreigestirn Conte, Merkel und Macron zu | |
verdanken!“ | |
Der Mann, vor der Verrentung beim Olympischen Komitee Italiens beschäftigt, | |
ließ in den vergangenen Jahren eigentlich nie ein gutes Haar an „la | |
Merkel“, kein gutes Haar auch nicht an Germania, doch jetzt erweckt er den | |
Eindruck, als wolle er dem deutschen Journalisten gleich um den Hals | |
fallen, wenn da nur nicht das Coronavirus wäre. | |
„Wenn die drei so weitermachen, können sie noch Großes für Europa | |
erreichen“, schließt der Nachbar seine enthusiastische Bilanz des | |
EU-Gipfels. | |
## Gipfelnachlese | |
Der Mann steht nicht allein. Medienleute, Minister*innen, Vertreter*innen | |
der Regierungsparteien: Ihnen allen scheint ein Stein vom Herzen gefallen | |
zu sein. | |
Ein Ökonom kommentierte in der Nachrichtensendung des Staatsfernsehens | |
RAI1, Europa habe jetzt endlich „den Weg von der Austerität zur | |
Solidarität“ gefunden, im Parlament feierten die Regierungsfraktionen den | |
Ministerpräsidenten Giuseppe Conte mit stehenden Ovationen, als der sich | |
zur Gipfelnachlese einfand, und Andrea Marcucci, Fraktionsvorsitzender der | |
Partito Democratico (PD) im Senat, befand, Italien dürfe jetzt feiern „wie | |
bei einer Weltmeisterschaft“. | |
Autocorsos gab es zwar keine in Rom oder Mailand, doch die Begeisterung ist | |
echt. Vier Tage lang hatte das Gezerre im Europäischen Rat den Eindruck | |
hinterlassen, Italien müsse große Abstriche gegenüber den | |
Ursprungsvorschlägen der Kommission hinnehmen – doch am Ende kam weit mehr | |
heraus als erwartet. | |
Nach dem Kommissionsplan sollten 172 Milliarden Euro aus dem Recovery Fund | |
Italien zugutekommen, im finalen Beschluss beträgt diese Summe jetzt 209 | |
Milliarden. | |
Italien darf sich jetzt darüber freuen, dass es den dicksten Batzen aus den | |
europäischen Aufbaumitteln bekommt. Gerechtfertigt ist das dadurch, dass es | |
mit der Pandemie auch den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch erlebte. 11,2 | |
Prozent soll im Jahr 2020 nach einer Prognose der EU-Kommission der Verlust | |
beim Bruttoinlandsprodukt betragen, so viel wie in keinem anderen Land der | |
EU. Zum Vergleich: In Deutschland wird ein Minus von 6,3 Prozent erwartet. | |
Die Misere lässt sich im Alltag beobachten. Zwar pulsiert in Rom an den | |
Wochenendabenden das Leben rund um die Ausgeh-Hotspots so wie vor | |
Covid-Zeiten. Der Umsatz der Lokale in Trastevere brummt, die Tische auf | |
der Piazza sind voll besetzt, Hunderte Leute, vor allem jüngere, stehen | |
drum herum, Bier in der Hand, in den Gassen herrscht weitgehend masken- und | |
abstandsfreies Gedränge. | |
## Das Pantheon ist gähnend leer | |
Doch das Bild täuscht. Tagsüber ist Roms Zentrum ungewohnt ruhig. Der | |
Souvenirshop gleich hinter dem Pantheon hat offen, doch er ist gähnend | |
leer. „Schatz, hier geht es lang“, erklingt plötzlich eine Stimme auf | |
Deutsch, und sie weckt ehrliches Erstaunen bei dem Zuhörer, der sich daran | |
gewöhnt hat, dass am Pantheon oder am Trevibrunnen nur noch Italienisch zu | |
hören ist. | |
„Wir haben uns mehr erhofft, als Anfang Juni die Schengen-Grenzen wieder | |
aufgemacht wurden“, sagt Giuseppe Roscioli, Präsident der Federalberghi, | |
des Hoteliersverbandes von Rom, „doch auch wenn die Leute in Europa jetzt | |
reisen dürfen, bleiben sie zu Hause“. Von den 1.200 Hotels in Rom sind | |
gegenwärtig nur 200 geöffnet, berichtet Roscioli, „und die sind auch nur zu | |
10 bis 15 Prozent ausgelastet“. | |
Die Statistik ist in der Tat trostlos. Im gesamten Juni verirrten sich | |
6.000 ausländische Gäste in Roms Hotels – 99 Prozent weniger als im | |
Vorjahr. Roscioli selbst hat drei seiner sechs Häuser wieder aufgemacht, | |
die anderen bleiben womöglich noch bis März 2021 zu. | |
Und die Beschäftigten? Die mit unbefristeter Anstellung befinden sich | |
allesamt in Kurzarbeit, dank eines in der Krise verabschiedeten und jetzt | |
noch einmal um gut vier Monate verlängerten Sonderprogramms komplett und | |
flächendeckend staatlich finanziert. Etwa vier Millionen Arbeitnehmer*innen | |
kamen in den Genuss dieser Maßnahme, flankiert durch einen bis Mitte August | |
geltenden Entlassungsstopp, den die Regierung jedoch ebenfalls bis zum | |
Jahresende verlängern will. | |
Dennoch steigt die Arbeitslosigkeit, allein schon, weil in den vergangenen | |
Monaten eine halbe Million Zeitverträge ausgelaufen sind, ohne dass sie | |
verlängert worden wären. Und da wären noch die Millionen kleinen | |
Selbstständigen, die Inhaber*innen von Läden, Bars und Restaurants, denen | |
die Umsätze weggebrochen sind, denen jetzt auch der Absturz in die Armut | |
droht. | |
Banco Alimentare, eine der wichtigsten karitativen Organisationen auf dem | |
Feld der Versorgung von Armen mit Lebensmitteln, fürchtet für das nächste | |
Jahr eine Verdoppelung der Zahl der absolut Armen von 5 auf 10 Millionen | |
Menschen. | |
Die Regierung hält dagegen, stützt Arbeitsplätze und Einkommen, stundet | |
Steuern für Selbstständige und Unternehmer. Im Staatshaushalt hinterlässt | |
das tiefe Spuren. Die zusätzliche Covid-bedingte Aufnahme von Schulden | |
liegt in diesem Jahr bei 100 Milliarden Euro, die Neuverschuldung geht | |
damit auf 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hoch, der gesamte | |
Schuldenberg wächst auf 160 Prozent des BIP. | |
## Zweifel an den Deutschen | |
Angesichts solcher Zahlen herrschte in Italien, in der politischen Klasse | |
genauso wie in der Bevölkerung, das sichere Gefühl, allein könne es das | |
Land nicht schaffen. Zugleich aber hatte Italien sich in den letzten zehn | |
Jahren immer wieder „von Europa allein gelassen“ gesehen, egal ob in der | |
Euro- oder in der Flüchtlingskrise. | |
Und auch in den ersten Wochen der Covid-Pandemie schien sich dieser | |
Eindruck wieder einmal zu bestätigen. Da war im März, als Italien schon | |
voll von der Pandemie getroffen war, als es schon Tausende Toten gab, das | |
von Frankreich ebenso wie von Deutschland verhängte Ausfuhrverbot für | |
Schutzmasken. Es wurde zwar schnell wieder aufgehoben, doch der dadurch | |
angerichtete Schaden blieb. | |
Dazu kam die deutsche Ablehnung einer gemeinsamen europäischen Antwort auf | |
die Covid-bedingte Rezession, die Italien verlangte. Eurobonds? Für | |
Wirtschaftsminister Peter Altmaier war das eine „Gespensterdebatte“, für | |
die Kommissionspräsidentin der EU Ursula von der Leyen ein „Slogan“, der | |
keiner weiteren Beachtung bedurfte. | |
Die Folge: In dem Land, dessen Bevölkerung einst ganz vorne lag, wenn es um | |
Europa-Begeisterung ging, konnten sich im April/Mai 50 Prozent der Menschen | |
in Meinungsumfragen einen Austritt Italiens aus EU und Euro vorstellen. | |
Platz eins und zwei als „Italien feindlich gesinnte Nationen“ gewannen | |
Frankreich und Deutschland, als wahre Freunde kamen dagegen China und | |
Russland – die damals öffentlichkeitswirksam Ärzteteams und medizinische | |
Hilfsgüter schickten – ganz oben aufs Treppchen. | |
Doch dann kam im Mai der Merkel-Macron-Vorstoß für einen europäischen | |
Recovery Fund von 500 Milliarden Euro, kam der Vorschlag der EU-Kommission, | |
der auf 750 Milliarden erhöhte, kam schließlich der Gipfel. Und plötzlich | |
hat „Europa“ wieder einen guten Klang in Italien, sind die Schurken nicht | |
mehr die EU und Deutschland, sondern bloß noch die „frugalen Vier“, | |
vorneweg der niederländische Premier Mark Rutte. | |
Schon vergangene Woche, noch vor dem EU-Gipfel, wollten nur noch 40 Prozent | |
der Italiener*innen raus aus der EU. Selbst Renato Brunetta, einer der | |
Frontmänner der Berlusconi-Partei Forza Italia, sieht jetzt in Angela | |
Merkel – von der er früher nie Gutes zu berichten hatte – „unsere | |
Alliierte“. | |
## Nur Salvini wettert wie gehabt | |
Wie sehr sich die Stimmung gedreht hat, zeigen nicht zuletzt die Reaktionen | |
aus den Rechtsparteien. Berlusconis Forza Italia lobt den europäischen | |
Recovery Fund über den grünen Klee, aber auch die postfaschistische Partei | |
Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) die unter ihrer Vorsitzenden | |
Giorgia Meloni mittlerweile in den Umfragen bei 14 Prozent liegt, | |
kritisiert nur vorsichtig. | |
Ministerpräsident Conte habe den EU-Gipfel „auf seinen eigenen Beinen“ | |
verlassen, sprich: er sei nicht umgefallen, bemerkte Meloni vorneweg, um | |
dann zu mosern, Conte hätte „mehr und Besseres“ rausholen können. | |
Einzig Matteo Salvini, der Chef der Lega, wettert wie gehabt. „Ein | |
Superschwindel“ sei in Brüssel verabschiedet worden, behauptete er nach | |
Ende des Gipfels, doch einen Tag später ruderte er schon vorsichtig zurück, | |
kündigte an, seine Lega werde „in den nächsten Monaten genau prüfen“, was | |
es mit den EU-Mitteln auf sich habe. | |
An der Regierungskoalition perlt das ab, sie spottet über den schlecht | |
gelaunten Lega-Chef. Der Europaabgeordnete der „Fünf Sterne“ Dino Giarrusso | |
kommentierte: „Conte schlägt Salvini mit 209 Milliarden zu 0 Cent.“ | |
25 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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