# taz.de -- Nach dem EU-Gipfel: Alle feiern sich selbst | |
> Der EU-Gipfel ist vorbei – und alle fühlen sich als Gewinner. Die taz hat | |
> Reaktionen aus den Mitgliedstaaten zusammengetragen. | |
Bild: Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, und Charles Michel,… | |
Amsterdam/ Berlin/ Madrid/ Rom/ Stockholm/ Warschau taz | Es scheint, als | |
gibt es nur Gewinner beim jüngsten [1][EU-Verhandlungsmarathon]: Die | |
europäischen Milliarden lassen die coronagepeinigten Mitgliedstaaten | |
Spanien und Italien aufatmen. Die Niederlande und die skandinavischen | |
Staaten verbuchen die finanziellen Entlastungen als Sieg. Polen und Ungarn | |
freuen sich auf EU-Zuschüsse ohne Kopplung an die Rechtsstaatlichkeit. | |
## Jubel über historische Hilfe | |
Überschwänglicher als die Reaktionen in den beiden von Corona besonders | |
gebeutelten Ländern Italien und Spanien geht es kaum. Spaniens | |
Ministerpräsident Pedro Sánchez sprach von einer „der brillantesten Seiten | |
der Geschichte der Europäischen Union“. Italiens Ministerpräsident Giuseppe | |
Conte schlug hymnische Töne an: „Ich bin stolz auf dieses Resultat, ich bin | |
stolz, Italiener zu sein.“ | |
Für Italien kam am Ende sogar mehr raus, als der ursprüngliche | |
Kommissionsvorschlag vorsah. Statt 172 Milliarden Euro stehen für Rom jetzt | |
209 Milliarden in Aussicht. Da lässt sich verschmerzen, dass nur 81,4 | |
Milliarden davon Zuschüsse sind. Denn die Kredite für den Rest werden zu | |
einem Zinssatz nahe null kommen, rückzahlbar bis zum Jahr 2056. | |
Für Italien ist das Sauerstoff, den die Ökonomie dringend braucht. Dieses | |
Jahr soll das Bruttoinlandsprodukt nach Prognosen der EU-Kommission um 11,2 | |
Prozent einbrechen – der höchste Wert in der EU. Dieser Absturz trifft ein | |
Land, das schon vor der Pandemie die geringste Wachstumsdynamik in Europa | |
hatte. | |
Spanien erhält aus den Hilfen 140 Milliarden Euro, 72,7 Milliarden als | |
Zuschuss, den Rest als Kredit. Das Geld entspricht rund 11 Prozent des | |
spanischen Bruttoinlandsprodukts. Es sei „ein regelrechter Marshallplan“, | |
schwärmt Sánchez. Kein Land der EU hat einen so harten Lockdown durchlebt. | |
Dreieinhalb Monate mussten die Spanier zu Hause bleiben. Die Wirtschaft | |
brach fast komplett zusammen. Hunderte Milliarden werden die | |
Sozialprogramme, von Kurzarbeitergeld über Mindesteinkommen und Hilfen für | |
Selbstständige, kosten. | |
Es wird dauern, bis sich die Wirtschaft komplett erholt. Der Tourismus, der | |
nur schleppend wieder in die Gänge kommt, macht über 12,3 Prozent des BIPs | |
aus. Das wird in diesem Jahr um 11,1 Prozent zurückgehen – wenn keine | |
zweite Infektionswelle kommt. | |
Michael Braun, Rom, und Reiner Wandler, Madrid | |
## Jubel über Visegrád-Staaten | |
Etwas derangiert, aber glücklich sehen sie aus – die Premierminister von | |
Ungarn und Polen, Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki. Als sie am | |
Dienstagmorgen nach Abschluss des EU-Marathon-Gipfels gemeinsam vor die | |
Presse treten, sind ihnen die Strapazen der letzten Tage noch anzusehen. | |
„Wir müssen mit großer Freude feststellen, dass wir die Krise überwunden | |
haben, die zusammen mit dem EU-Budget vor uns auftauchte“, erläutert | |
Morawiecki. „Unsere gemeinsame Arbeit innerhalb der Visegrád-Gruppe und die | |
Koordination aller unserer Aktivitäten führten zu diesem großartigen | |
Erfolg“, führt er mit weit ausholenden Handbewegungen aus. | |
Orbán nickt und fügt zufrieden hinzu, dass „jeder Versuch, | |
Rechtsstaatlichkeit und das EU-Budget miteinander zu verbinden, erfolgreich | |
zurückgewiesen werden konnte“. Die von einigen Staaten gewünschte | |
Verbindung von wirtschaftlichen und politischen Themen werde es nicht | |
geben. „Wäre dies anders, würde die Effizienz des ganzen Pakets wie auch | |
des Wirtschaftsplans deutlich reduziert.“ | |
Auch Ungarns Justizminister Judit Varga konnte auf Facebook nicht das | |
Wasser halten. Dass Budapest in den kommenden sieben Jahren 3 Milliarden | |
Euro mehr erhalte als ursprünglich vorgeschlagen, sei ein großer Sieg. | |
Demgegenüber hielt sich die Freude von Tibor Racz, freier Journalist in | |
Budapest, in Grenzen. Orbán schaffe es eben immer wieder, Nachrichten zu | |
seinen Gunsten und in seinem Interesse zu präsentieren, sagte er. Die | |
Entscheidung der europäischen Top-Politiker habe wieder einmal gezeigt, | |
dass sich die Entscheider in Brüssel nicht trauten, die Interessen Orbáns | |
und anderer autokratischer Führer zu verletzen. | |
Experten in Polen sind sich auch am Tag nach Ende des Gipfels noch nicht | |
sicher, was da eigentlich in Brüssel ausgehandelt wurde. Können | |
EU-Zuschüsse in Zukunft durch Brüssel gekappt werden, wenn ein EU-Mitglied | |
die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verletzt? Oder bleibt alles wie | |
bisher? | |
Gabriele Lesser, Warschau, und Barbara Oertel, Berlin | |
## Jubel über die Handbremse | |
Aus Sicht von Mark Rutte, der neuen Galionsfigur der [2][„Sparsamen Fünf“], | |
ist die Bilanz des Gipfels durchaus zufriedenstellend. Was nicht nur daran | |
liegt, dass deren Umfang von 500 auf 390 Milliarden Euro deutlich gedrückt | |
wurde. Auch die Strategie des niederländischen Regierungschefs ging auf: Er | |
schuf ein Junktim zwischen dieser Verschuldung und einer Reduzierung des | |
jährlichen Beitrags Den Haags zum EU-Haushalt. Zudem behalten die | |
Niederlande fortan 25 Prozent statt wie bisher 20 Prozent der | |
gemeinschaftlichen Zolleinnahmen im Rotterdamer Hafen. | |
Die Mitte-rechts-Regierung stellt die Resultate demnach als großen Erfolg | |
dar. Rutte betont vor allem die „Handbremse“, mit der Netto- Zahler bei | |
Zweifeln an wirtschaftlichen Reformen der Empfängerländer Zahlungen stoppen | |
könnten. | |
Nicht ganz so euphorisch sind die Reaktionen aus Skandinavien. „Akzeptabel“ | |
sei das Gipfelresultat, meinte etwa Schwedens Regierungschef Stefan Löfven. | |
Vor allem wenn man die Linie der Mehrheit der EU-Länder berücksichtige. Und | |
seine Kolleginnen aus Finnland und Dänemark, Sanna Marin und Mette | |
Frederiksen, hoben als positives Resultat der Marathonverhandlungen vor | |
allem hervor, dass man sich überhaupt auf einen Kompromiss einigen konnte. | |
So habe man, was die eigene Staatskasse angehe, zumindest Schlimmeres | |
verhindern können. | |
Gemessen an der Ausgangspositionen der drei sozialdemokratisch geführten | |
nordischen EU-Länder, zählen sie aber eher zu den Verlierern. Denn es ging | |
ihnen gar nicht in erster Linie ums Geld, sondern um die Wahrung ihrer | |
Prinzipien: Kooperation ja, aber möglichst keine tiefere als die aktuelle | |
EU-Integration. Dass man nun erstmals gemeinsame europäische Schulden | |
akzeptierte, rief bereits in allen drei Ländern die Opposition von rechts | |
und links auf den Plan. | |
Tobias Müller, Amsterdam, und Reinhard Wolff, Stockholm | |
22 Jul 2020 | |
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