| # taz.de -- Islamexperte über Dschihadisten: „Sie wollen einen Bürgerkrieg�… | |
| > Gilles Kepel, ein Kenner des politischen Islam, über die neue Generation | |
| > der Dschihadisten, die extreme Rechte und das Problem mit dem | |
| > Islamophobie-Begriff. | |
| Bild: Frankreich trauert nach dem Terroranschlag auf das Satiremagazin „Charl… | |
| taz.am wochenende: Herr Kepel, aus keinem anderen westlichen Land reisen so | |
| viele Dschihadisten aus wie aus Frankreich. Was ist da los? | |
| Gilles Kepel: Die Mehrheit der Muslime in Frankreich hat nichts mit der | |
| ultrakonservativen Strömung des Islam zu tun. Der Salafismus hat es jedoch | |
| geschafft, eine Anziehungskraft zu entwickeln und den islamischen Diskurs | |
| zu dominieren. | |
| Der Salafismus versucht die Deutungshoheit über den Islam zu gewinnen? | |
| Der nordafrikanische Islam etwa, der sich nicht auf den Salafismus bezieht, | |
| hat große Schwierigkeiten, sich heute in Frankreich Gehör zu verschaffen. | |
| In Deutschland gibt es nicht das koloniale Erbe, und die muslimische | |
| Bevölkerung kommt vor allem aus der Türkei, wo es keine salafistische | |
| Tradition gibt. Dennoch wächst auch in Deutschland die salafistische Szene. | |
| Was kennzeichnet den Salafismus? | |
| Er betreibt eine wortwörtliche Auslegung der „Heiligen Schriften“. Die | |
| salafistische Lehre ist eine von den Rechtsgelehrten der Ölmonarchien der | |
| Golfstaaten geförderte strenge Auslegung des Islam. Er bietet | |
| Glaubensgrundsätze, Verhaltensnormen und Readymade-Lösungen für alle | |
| sozialen Probleme an. | |
| Das Problem ist, dass die alten muslimischen Institutionen an Einfluss | |
| verloren haben? | |
| Die zweite Generation der muslimischen Einwander war Ende des 20. | |
| Jahrhunderts stark geprägt durch die Muslimbrüder, die noch in Nordafrika | |
| geboren waren, Arabisch sprachen und von denen die meisten noch keine | |
| französischen Staatsbürger waren. Während die erste Generation von | |
| Arbeitern noch auf den Bau von Moscheen konzentriert war, baute die zweite | |
| Einwanderergeneration, die blédards, muslimische Verbände und Institutionen | |
| auf und wollten mit dem französischen Staat verhandeln, etwa in der | |
| Kopftuchdebatte. Kulturell und sozial unterschieden sie sich von den in | |
| Frankreich geborenen und ausgebildeten Kindern der ersten Einwanderer; | |
| diese dritte Generation akzeptiert die Stellvertreterschaft der blédards | |
| nicht mehr. Manche lehnen den französischen Staat ab und wollen ihre | |
| Dissidenz im Innern der französischen Gesellschaft ausdrücken. | |
| Weil sie sich ausgeschlossen fühlen? | |
| In Frankreich, das traditionell ein Einwanderungsland ist, besagte der | |
| große politische Mythos, dass ein Franzose ist, der Französisch spricht, | |
| französische Schulen besucht und die französische Kultur teilt. Aber statt | |
| Integration hat ein Prozess der Desintegration stattgefunden: sowohl in | |
| Bezug auf soziale Ausgrenzung wie auch in Bezug auf das Misstrauen jener, | |
| die in prekären Verhältnissen oder Problemvierteln lebten und deren | |
| Religion abgelehnt wurde. | |
| Und der Salafismus ist die Alternative? | |
| Der Salafismus ist eine imaginäre Alternative: Er erzählt von einer reinen | |
| Gesellschaft mit strengen Normen und davon, eine Enklave aufzubauen oder in | |
| der muslimischen Welt sein Leben zu leben. Wo dieses Denken extrem wird, | |
| lässt sich ein Übergang vom Salafismus zum Dschihadismus beobachten. | |
| Im Buch erwähnen Sie das „retrokoloniale Phänomen“. Welche Rolle spielt d… | |
| koloniale Vergangenheit Frankreichs für die Radikalisierung wirklich? | |
| Der Fall Mohammed Merah hat mich darauf aufmerksam gemacht. Merah, Sohn | |
| einer algerischen Familie, tötete am 19. März 2012 drei jüdische Kinder und | |
| deren Lehrer in Toulouse. Das war der 50. Jahrestag des Waffenstillstands | |
| zwischen der französischen Armee und dem FLN in Algerien. Er war in einer | |
| Familie aufgewachsen, die Frankreich sehr hasste. In gewissem Sinne hat er | |
| den Waffenstillstand gebrochen, aber in den französischen Metropolen und | |
| nicht auf kolonialem Gebiet. Seine Familie war stolz auf ihn, es gab dieses | |
| starke Gefühl der Rache. Für einige Jugendliche hat es damit zu tun, dass | |
| sie ihre Väter arbeitslos und gedemütigt sahen. | |
| Einige sehen im französischen Laizismus einen Deckmantel für | |
| Diskriminierung. | |
| Ja, der Publizist Emmanuel Todd zum Beispiel glaubt, dass es die Menschen | |
| nur deshalb zur „Je suis Charlie“-Demonstration drängte, weil sie dort ihr | |
| Recht wahrnehmen konnten, auf die Religion der Schwachen zu spucken. Aber | |
| die Menschen waren auf der Straße, weil sie es für falsch halten, wegen | |
| einer Karikatur zu töten. Todd verstand nicht, dass hinter der Aussage „Je | |
| ne suis pas Charlie“ eine gut organisierte Ideologie steht. | |
| Welche Ideologie? | |
| Die Kouachi-Brüder verfolgten die Strategie der dritten | |
| Dschihad-Generation. Sie beabsichtigt eine Spaltung der französischen | |
| Gesellschaft und einen ontologischen Bruch zwischen Muslimen und | |
| Nichtmuslimen. | |
| Wann entstand die dritte Dschihad-Generation? | |
| Das beginnt 2005, als der Syrer Abu Musab al-Suri sein Manifest „Aufruf zum | |
| globalen islamischen Widerstand“ im Internet veröffentlicht. Er zielte auf | |
| die jungen, schlecht integrierten Muslime in Europa und die Konvertiten. | |
| Sie wollen einen Bürgerkrieg herbeiführen, um das Kalifat in Europa zu | |
| errichten, was verrückt ist. Die erste Phase des Dschihadismus sahen wir im | |
| Afghanistankrieg und im Bürgerkrieg in Algerien. Die zweite repräsentieren | |
| bin Laden und die hierarchische Organisationsstruktur mit al-Qaida an der | |
| Spitze. Al-Suri setzte dem eine rhizomartige Struktur entgegen, ein | |
| Netzwerk, das von unten nach oben wirkt und die Bevölkerung mobilisiert – | |
| was bin Laden nie geschafft hat. Man muss die arabischen Texte im Original | |
| lesen, sie sind die ideologische Quelle all dessen und sie sind wichtig, um | |
| die innerarabischen Debatten zu verstehen. | |
| Texte übersetzen sich nicht selbstverständlich in Taten. | |
| Nein, wir müssen uns die Texte, aber auch die sozialen Bedingungen und | |
| individuellen psychologischen Gründe anschauen. Einige werfen mir vor, ein | |
| Essenzialist, ein Orientalist zu sein, aber ich denke, wir müssen alle drei | |
| Aspekte in der Analyse zusammenbringen. Oliver Roy sagt, man müsse nicht | |
| Arabisch verstehen, um über den Dschihad an französischen Werten zu | |
| sprechen, aber nehmen wir den Mörder in Magnanville, der im Juni den | |
| Polizist und seine Frau getötet hat: Er rechtfertigte alles über seine | |
| Lektüre der arabischen Texte. Die Ideologie ist wichtig, aber es dauerte | |
| sieben Jahre, sie zu implementieren. Sie musste durch die sozialen | |
| Netzwerke, durch die Gefängnisse als Inkubator, bis sie sich schließlich in | |
| die erste Tat übersetzte: Mohammed Merah war 2012 der Erste, der nach | |
| diesem Muster vorging. | |
| Haben die Geheimdienste den Übergang mitgekriegt? | |
| Sie haben die kulturelle Revolution zwischen dem zweiten und dritten | |
| Dschihad verpasst. Sie waren immer noch auf die pyramidenartige Struktur | |
| eines bin Laden fokussiert und haben die netzwerkbasierte dschihadistische | |
| Revolution nicht verstanden. | |
| Zeugen die letzten Attentate eher von Stärke oder von Schwäche der | |
| Dschihadisten? | |
| Das Ziel ist die Mobilisierung der Massen, und da liegt der Unterschied | |
| zwischen Januar 2015 und Juli 2016. Die Ziele im Januar waren genau | |
| gewählt: Charlie Hebdo als die sogenannten Islamophoben, der Polizist ein | |
| Apostat und die Juden die ewigen Feinde. In Nizza aber waren von 86 Toten | |
| 30 Muslime, was ein Problem für die beabsichtigte Mobilisierung darstellt. | |
| Ich sprach mit muslimischen Gefängnisinsassen auch über den 13. November | |
| 2015. Einer sagte: „Verdammt, mein Bruder war in dem Stadion und Kinder aus | |
| der Nachbarschaft.“ Eine Verschwörungstheorie machte die Runde, der Mossad | |
| stecke dahinter, verrückt; jedenfalls machte das die Stadion-Attentäter | |
| nicht gerade populär. Der Dschihadist Omar Omsen sagte, der November sei | |
| eine Katastrophe, weil er Muslime entfremdet habe. Der IS antwortete, die | |
| muslimischen Kollateralopfer seien für den Heiligen Krieg gestorben. Sie | |
| multiplizieren die Anschläge in der Hoffnung, dass die Gesellschaft | |
| Vergeltung übt. Je mehr Anschläge, desto mehr werden den Front National | |
| wählen. | |
| Das ist es, was sie wollen? | |
| Zwischen den rechten Identitären und den Dschihadisten gibt es Passagen, | |
| Brücken. Der berühmte Terrorist Carlos etwa, ein früherer Leninist, schrieb | |
| mir aus dem Gefängnis begeistert, die Dschihadisten würden den | |
| psychologischen Krieg gegen den Westen gewinnen, etwas, wovon er immer | |
| geträumt, was aber nicht erreicht habe. Mittlerweile ist er auch zum Islam | |
| konvertiert. Die Dschihadisten wollen, dass die Mehrheitsgesellschaft | |
| Vergeltung an allen Muslimen übt, sodass die Muslime unter Führung der | |
| Radikalsten agieren können. Sie freuen sich über den Erfolg der extremen | |
| Rechten, weil sie wissen, dass sie dann mit ihrer Vision von einer | |
| islamophoben Gesellschaft am Ziel sind. | |
| 2012 haben 80 Prozent der Muslime für Hollande gestimmt. 2013 sahen wir | |
| muslimische Gruppierungen im „Marche pour tous“ Seite an Seite mit | |
| Reaktionären. | |
| Hollande bekommt die Stimmen nicht mehr. Es gibt einige neue politische | |
| islamische Unternehmer, die eine Affinität zu den Wertvorstellungen der | |
| Rechten zeigen und die Wahl zu ihren Gunsten kapern wollen. Und die | |
| Islamophobie-Gruppe möchte in den nächsten Wahlen ein Player werden. | |
| Wen meinen Sie damit? | |
| Der Begriff Islamophobie ist eine Erfindung der Muslimbrüder, er ist ein | |
| ideologisches Konstrukt und basiert auf einer Scheinsymmetrie zum | |
| Antisemitismus. Die Muslimbrüder und Salafisten prägten den Begriff, um | |
| Kritik an ihrem religiösen Dogma zu skandalisieren und mundtot zu machen. | |
| Es gibt eine neue Generation, die mit dem Begriff arbeitet, die Generation | |
| von Tariq Ramadan, einem Schweizer Publizisten ägyptischer Herkunft. Er ist | |
| das rolemodel für Michel Houellebecques Staatspräsidenten Mohamed Ben Abbes | |
| im Roman „Unterwerfung“. Ramadan nimmt das wörtlich und möchte nun Franzo… | |
| sein. | |
| Sie scherzen. | |
| Als Houellebecques Buch erscheinen sollte, rief mich seine Lektorin an und | |
| bat mich, die Fahne zu lesen. Ich war überrascht, wie gut er über den | |
| politischen Islam informiert war, dann trafen wir uns zum Dinner, und er | |
| sagte, er habe meine Bücher gelesen. Er sagte das auch am Morgen des 7. | |
| Januar im Radio, als er über sein Buch sprach, das an diesem Tag erschienen | |
| war und sofort der Islamophobie verdächtigt wurde. Daraufhin riefen mich | |
| Kollegen an, die ihn im Radio gehört hatten, und sagten, ich müsse mich von | |
| Houellebecque distanzieren, weil er ein Menschenfeind sei. Das habe ich | |
| abgelehnt. | |
| 18 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
| ## TAGS | |
| Dschihadisten | |
| Salafisten | |
| Islam | |
| Islamophobie | |
| Lesestück Interview | |
| Islamismus | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Bremen | |
| Dschihadisten | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Charlie Hebdo | |
| Paris | |
| Charlie Hebdo | |
| Islamismus | |
| Anschlag | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über Radikalisierung von Muslimen: Ende der Politik durch Religion | |
| Der Psychoanalytiker Fethi Benslama hat den Islamismus auf die Couch | |
| gelegt. Nun erscheint sein Essay „Der Übermuslim“ auf Deutsch. | |
| Aussteiger in Dänemark: Exitprogramm für Dschihadisten | |
| Die Stadt Aarhus geht mit „Aufmerksamkeit und Angeboten“ gegen | |
| Radikalisierte vor. Das Programm ist bislang recht erfolgreich. | |
| Polizei geht gegen Salafisten vor: Razzien im Morgengrauen | |
| Mit über einem Dutzend Durchsuchungen hat die Polizei radikale Islamisten | |
| im Norden unter Druck gesetzt. Die Koranverteilaktion „Lies!“ wurde | |
| verboten | |
| Prozess gegen Berliner Dschihadist: Milde wegen Teilgeständnis | |
| Das Kammergericht verurteilt einen 27-Jährigen wegen Mitgliedschaft in | |
| einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer dreijährigen | |
| Haftstrafe. | |
| Unterwegs in Nizza: Palmengärten mit Müllhalde | |
| An den Rändern der reichen Metropole Nizza liegen die Einwandererviertel. | |
| Doch sie sehen anders aus als die Banlieues von Paris und Lyon. | |
| Aus der Sonderausgabe „Charlie Hebdo“: Meeresblick mit Sehschlitzen | |
| Die Redaktion von „Charlie Hebdo“ schottet sich von der Außenwelt ab. Auf | |
| der Suche nach dem Innenleben einer traumatisierten Satirezeitung. | |
| Paris nach den Anschlägen: Reale und irreale Bedrohung | |
| In Paris scheint das Leben wieder seinen normalen Lauf zu nehmen. Doch in | |
| der lukrativen Vorweihnachtszeit haben sich die Verkäufe verringert. | |
| Migrantenviertel in Paris: Bloß nicht hinsehen | |
| Das Pariser Einwandererquartier La Goutte d’Or ist von „Fox News“ zur | |
| „No-go-Area“ für Nichtmuslime erklärt worden. Was ist da dran? Ein Besuch. | |
| Kommentar Reaktionen in Frankreich: Ungewollter Krieg | |
| Die Feinde kommen nicht aus der Ferne, sondern aus der Nachbarschaft: | |
| Frankreich befindet sich am Tag nach den Anschlägen im Schockzustand. | |
| Nach Anschlag auf Jüdisches Museum: Dschihadist gesteht Schüsse | |
| Ein 29-jähriger Franzose hat den Angriff auf das Jüdische Museum in Brüssel | |
| gestanden. Der Mann hatte sich 2013 syrischen Gotteskriegern angeschlossen. |