| # taz.de -- Aus der Sonderausgabe „Charlie Hebdo“: Meeresblick mit Sehschli… | |
| > Die Redaktion von „Charlie Hebdo“ schottet sich von der Außenwelt ab. Auf | |
| > der Suche nach dem Innenleben einer traumatisierten Satirezeitung. | |
| Paris taz | Wenn man Coco per Mail eine Frage stellt, antwortet sie mit | |
| einer Zeichnung. Auf die erste Frage am Telefon antwortet Delucq: „Treffen | |
| wir uns bei McDonald’s am Stade de France. Ein guter Ort, um über Charlie | |
| zu reden. Über Anschläge und ihre Folgen.“ | |
| Coco und Delucq. Beide zeichnen Cartoons und Comics in Paris. Die eine als | |
| Redakteurin bei Charlie Hebdo, der andere ist hauptberuflich Lehrer. | |
| „Zeichnen heißt für mich Abstand nehmen“, sagt Delucq. Er ist wortkarg, | |
| unprätentiös, leise. Delucq rührt seinen Kaffee um, dann schaut er durch | |
| die Scheibe auf jene graue Durchgangsstraße in der Pariser Vorstadt von | |
| Saint-Denis. Draußen wirbt Lancôme für einen Duft namens „La vie est | |
| belle“. | |
| Delucq, 45, ist ein guter Bekannter von Coco. Er hat sie seit dem Anschlag | |
| auf Charlie fast nicht mehr gesehen, einige Male haben sie kurz | |
| telefoniert. „Coco war immer schon umtriebig. Jetzt frage ich mich, wann | |
| sie schläft.“ Coco, 33, hat eine kleine Tochter, am 7. Januar 2015 will sie | |
| zum Kindergarten, als sie von den Kouachi-Brüdern im Treppenhaus mit | |
| Kalaschnikows bedroht wird. Coco gibt den Code für die damalige | |
| Redaktionsetage ein. | |
| Heute gleichen die neuen, fast 400 Quadratmeter großen Räume im 13. | |
| Arrondissement, die die Stadt Paris vermietet, einem | |
| Hochsicherheitsgefängnis, einem Bunker über Tage. Seit Ende September | |
| produziert Charlie dort. Wie es sich an jenem Ort arbeitet, wie man in | |
| einem solchen Zwangsbau kreativ sein kann? Es gibt einen Cartoon von Coco, | |
| in dem just jenes Gebäude aussieht wie eine Burka mit Sehschlitzen. Darüber | |
| steht „Vue sur mer“. | |
| ## Verkaufte Auflage bei 250.000 Stück | |
| Derzeit lässt sich der „Meerblick“ nicht vor Ort beurteilen – Externe | |
| dürfen das Gebäude nicht betreten, Mitarbeiter sollen eigentlich keinen | |
| Kontakt zu Journalisten aufnehmen. Coco schreibt in einer Mail an die taz: | |
| „Sagt mir einfach, was ich zeichnen soll, dann mache ich das. Ansonsten | |
| habe ich keine Zeit und keine Ruhe.“ Was sie gezeichnet hat, steht auf | |
| dieser Seite, und es ist ganz anders geworden als vorgeschlagen. Es ist ein | |
| Fries aus Paris. Ein Fries zum Weinen. Zum Lachen auch. | |
| Die Spurensuche nach dem Innenleben von Charlie, sie ist mühsam an jenen | |
| jours des fêtes, an welchen in Paris jede noch so piefige Einkaufsstraße | |
| trotzig knallbunt leuchtet und verwegen blinkt. Zahlen allerdings gibt es – | |
| und Anzeichen dafür, dass die Stimmung in der Redaktion momentan nicht die | |
| beste ist. Lag die verkaufte Auflage Ende 2014 bei zirka 30.000 Stück, so | |
| meldet der Verlag zur Zeit eine Verbreitung von 250.000, was aber nichts | |
| über den tatsächlichen Erlös aussagt. | |
| Rund 12 Millionen Euro Überschuss kamen durch die weltweit verkaufte Nummer | |
| nach dem Attentat zusammen, dazu noch etwa 4,3 Millionen Euro, die 36.000 | |
| Menschen aus 84 Ländern für die Hinterbliebenen spendeten. Welche | |
| Hinterbliebenen? Einige Angehörige der Charlie-Opfer wollen, dass das Geld | |
| nur unter ihnen aufgeteilt wird und nicht unter allen, die Nahestehende in | |
| der Anschlagsserie verloren haben. Mittlerweile ist vom Justizministerium | |
| in der Angelegenheit ein Weisenrat einberufen worden, die Auszahlung kann | |
| sich hinziehen. | |
| ## „Charlie“ wird weiblicher | |
| Auch über die Verfasstheit der Redaktion gibt es Differenzen. Derzeit hält | |
| Riss, der 49-jährige Redaktionsdirektor und Zeichner, 70 Prozent Anteile | |
| der Zeitung. Finanzdirektor Eric Portheault gehören 30 Prozent. Davor | |
| erwarben die beiden von den Hinterbliebenen des Chefredakteurs Charb 40 | |
| Prozent. Der Zeichner Luz, der zu spät am 7. Januar kam, hatte abgewunken, | |
| Charbs Anteil zu übernehmen. Luz plädiert, wie auch der Exkolumnist Patrick | |
| Pelloux oder die Journalistin Zineb El Rhazoui, für weniger Hierarchie in | |
| der Redaktion: Charlie als Kooperative, in der das Team eine | |
| Aktionärsgemeinschaft bildet und nicht wie jetzt, da das Blatt im Besitz | |
| von wenigen Männern ist, die eng mit ihm verbunden sind. | |
| Luz hat sein facettenreiches Trauma in dem anrührenden Comicbuch | |
| „Katharsis“ (S. Fischer Verlag) aufgezeichnet. Er ist weggegangen von | |
| Charlie, Pelloux ebenso. Der hatte schon bald nach dem Verkaufserfolg | |
| gewarnt: „Die Millionen sind ein Albtraum – die können uns töten.“ Ob d… | |
| Aktie Charlie auch dauerhaft ihren hohen Kurs hält, wird zu beobachten | |
| sein. Bleiben die jüngeren Leser, die vor dem Anschlag das Blatt kaum mehr | |
| wahrnahmen? Bleiben sich solidarisch zeigende Intellektuelle und was dafür | |
| durchgeht, als Abonnenten erhalten? Sicherlich bleiben wird Charlie der | |
| Islamismus – „wir hatten schon überlegt, nur noch Sarkozy zu machen“, | |
| witzelte jüngst der amtierende Chefredakteur Gérard Biard. „Aber es haut | |
| einfach nicht hin.“ | |
| Wie wird sich also die Machart des Magazins entwickeln? „Charlie wird durch | |
| diese Tragödie definitiv weiblicher“, sagt Catherine Beaunez, 61, eine | |
| zierliche Grande Dame der französischen, feministischen Karikatur. Ihre | |
| wachen Augen umspielt ein gescheites Lächeln. „Frankreich ist seit eh und | |
| je ein Land des Katholizismus und des Machismus. Und Charlie, das war oft | |
| Machismus pur. Jetzt haben Frauen dort mehr Raum, sich auszudrücken.“ | |
| ## Kann ich unter Pseudonym veröffentlichen? | |
| Richtig viele Frauen sind es aber immer noch nicht: die extrem produktive | |
| Coco und die Zeichnerin Catherine Meurisse, 35, die bis zur Ermordung der | |
| Psychologin und Charlie-Mitarbeiterin Elsa Cayat auch deren Kolumnen dort | |
| illustriert hatte. Nicht zu vergessen Zineb El Rhazoui, 33, die über | |
| religiöse Themen schreibt, aber im Clinch mit der Direktion liegt. Beaunez | |
| selbst veröffentlicht hin und wieder in Charlie: „Früher ging es mir meist | |
| zu brachial zu. Ich hab’s einfach nicht so mit gewaltiger Egozentrik.“ | |
| Neue Kreative zu finden war schwierig in den letzten Monaten. Nur wenige | |
| wollen noch für Charlie zeichnen oder schreiben. Riss drückt es in Le Monde | |
| so aus: „Nachwuchskräfte fragen jetzt: Muss ich auf die | |
| Redaktionskonferenz? Kann ich unter Pseudonym veröffentlichen? Oder sie | |
| meinen gleich: Schauen wir mal in einem halben Jahr.“ Doch nicht nur | |
| Hasenfüßigkeit ist ein Grund für die schleppende Rekrutierung – es gibt | |
| schlicht nicht mehr viele gute und willige Pressezeichner in Frankreich. | |
| Die meisten Künstler machen lieber besser bezahlte und planbare BD, bandes | |
| dessinées, oft opulente Comicbände, die im Land hohen Stellenwert besitzen. | |
| „Es war ein Scheißjahr für die Überlebenden“, sagt Emmanuel Leconte. „… | |
| sind sie starke Persönlichkeiten. Oder sie sind es geworden.“ Emmanuel hat | |
| zusammen mit seinem Vater Daniel, die Doku „Je suis Charlie“ produziert. | |
| Sie waren die Einzigen, die kurz nach dem Attentat in den temporären | |
| Redaktionsräumen bei der Tageszeitung Libération drehen durften. Im | |
| stärksten Filmmoment kommt eine Menschengruppe fünf Tage nach dem Attentat | |
| zusammen, arbeitet weiter und mittendrin macht einer den Kasper. | |
| ## Kein Zuhause mehr | |
| Zurück zu Delucq, dem Zeichner. Er schaut erneut auf die Straße, hier bei | |
| McDonald’s nahe dem Stade de France, er hat sich noch einen Kaffee schwarz | |
| geholt. Delucq hat keine Tränen in den Augen, aber sein Blick ist nahe am | |
| Wasser gebaut. „Die Mörder von Charlie haben ganze Arbeit geleistet. Sie | |
| haben nicht nur die überall in Frankreich bekannten, anarchischen | |
| Senior-Stars der Zeichnung erledigt. Sie haben auch auf einen Schlag ein | |
| historisch geprägtes Gefühl von Laisser-faire umgebracht. Der Mai 1968 von | |
| Paris ist im Januar 2015 ebendort brutal zu Ende gegangen.“ | |
| Maryse Wolinski, 72, nickt. Sie ist gerade umgezogen, in eine lichte, | |
| moderne Wohnung „mit ganz viel Himmelblick“. Madame ist filigran und | |
| zerbrechlich, traurig und unverzagt zugleich. Fast 50 Jahre war die | |
| Pariserin mit dem Zeichner Wolinski, oder kurz Wolin, wie sie ihn bei | |
| Charlie nannten, verheiratet. „Ich weiß gar nicht, ob ich ihm an diesem | |
| Morgen einen Abschiedskuss gegeben habe.“ Heute erscheint von ihr „Chérie, | |
| je vais à Charlie“ (Editions Seuil). Es waren Georges letzte Worte, die ihr | |
| im Gedächtnis haften geblieben sind. | |
| Apropos haften: Maryse Wolinski hat aus der alten Wohnung am Boulevard | |
| Saint-Germain auch eine kleine Kiste voll zitronengelber Haftzettelchen | |
| mitgenommen, Hunderte persönliche Posties von Wolinski, die meisten voller | |
| Zugetanheit. „Als ich in die neuen, leeren Räume kam, dachte ich, wenn ich | |
| die Zettel an die Wand klebe, bin ich wieder zu Hause. Aber das ist vorbei. | |
| Es gibt kein Zuhause mehr.“ | |
| 7 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Harriet Wolff | |
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