# taz.de -- Ein Jahr nach „Charlie Hebdo“: Gott hat sie nicht getötet | |
> Es ist ein Denkfehler der Trauernden um Charlie Hebdo, dass | |
> antirepublikanisch ist, wer noch etwas mit Religion zu tun haben will. | |
> Eine Gegenrede. | |
Bild: Bei aller Trauer: Die KollegInnen von „Charlie Hebdo“ machen es sich … | |
Darf man trauernden Menschen sagen, dass sie Quatsch erzählen? Gebietet es | |
nicht der Respekt vor ihnen und ihrem Schmerz, der Anstand, ja die | |
Menschlichkeit, dass man schweigt und nur in sich hinein spricht: Aber das | |
stimmt doch nicht, was die da sagen? | |
Der Terroranschlag auf Charlie Hebdo, das ist richtig, war ein Angriff auf | |
die Werte des Westens, die – so viel Selbstbewusstsein muss sein – die | |
Werte der ganzen Welt sein sollten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und | |
Religionsfreiheit, also die Freiheit zu glauben, was man will – oder eben | |
gar nichts zu glauben. Das ist Teil der Aufklärung für alle, Ausgang aus | |
der selbst verschuldeten Unmündigkeit, um Kant zu zitieren. | |
Man kann dies als republikanische Werte benennen. Dies bedeutet aber nicht, | |
und das ist der Denkfehler der trauernden Kolleginnen und Kollegen von | |
Charlie Hebdo, dass deshalb schon antirepublikanisch ist, wer doch noch | |
etwas mit Religion zu tun haben will oder gläubig ist. Dies bedeutet auch | |
nicht, dass die Religion das eigentliche Problem der Anschläge war, wie die | |
Charlie-Hebdo-Journalistinnen und -Journalisten in ihrem Titelbild der | |
Ausgabe zum Jahrestag der Anschläge unterstellen. Denn das zeigt Gott mit | |
einer Kalaschnikow und blutigen Händen auf der Flucht, dazu die | |
Überschrift: „Ein Jahr danach – der Mörder läuft noch immer frei umher.�… | |
Nein, Gott war es nicht, der gemordet hat – es waren Menschen. Es war auch | |
nicht DIE Religion, sondern es war die Verirrung, der Missbrauch und die | |
totale Missinterpretation EINER Religion. Mit der selben überaus simplen | |
Logik des neuen Charlie-Hebdo-Titelbilds müsste man fordern, die Polizei | |
abzuschaffen, weil immer wieder mal Polizisten Menschen erschießen, ohne in | |
Notwehr zu sein. Aber will man in so einem Staat ohne Polizei leben? | |
## Religion einhegen | |
Man muss die Religion einhegen, wie man die Polizei bändigt. Und beide | |
Sphären oder Institutionen müssen immer wieder sich selbst hinterfragen, | |
sich ihrer eigenen Gefährlichkeit bewusst sein und ihren Irrungen und dem | |
internen Korpsgeist widerstehen. Aber zu glauben, man kommt in komplexen | |
Gemeinschaften wie dem Staat ohne Polizei aus, halte ich für naiv. Genauso | |
wie es naiv ist zu hoffen, es könnte in unserer Lebenszeit eine Welt ohne | |
Religion geben – und dass dies auch noch eine friedlichere Welt wäre. | |
Jeglicher Beweis dafür fehlt. | |
Die real existierenden sozialistischen Staaten im Ostblock, im Nahen Osten, | |
in Afrika, in Asien und in Lateinamerika haben mehrere Jahrzehnte lang | |
einen radikalen Säkularismus verfolgt, Religion wurde an den Rand gedrängt, | |
oft auch eine Religionsfeindlichkeit gepflegt – und diese Staaten haben | |
sich immer auch auf die Aufklärung berufen. Das Marx’sche Diktum, dass | |
Religion Opium des Volkes sei, war, ausgesprochen oder unausgesprochen, | |
stets Teil der Staatsräson: Waren diese Staaten trotz der Marginalisierung | |
der Religion in ihnen friedlicher als der Westen, weniger gewaltvoll? | |
Ach, der Sozialismus wurde nur missverstanden?! Es fehlte die Freiheit, | |
klar – aber irgendwann, irgendwo wird ein Sozialismus in Freiheit möglich | |
sein, sicher! Was anderes ist dies als ein Glaube an eine Utopie, an ein | |
Paradies? Und was macht diesen Glauben rationaler, vernünftiger und | |
aufgeklärter als den Glauben an einen Gott, an eine Religion. | |
## Die strikte Trennung | |
Der Säkularismus in Frankreich, die Laizität, die strikte Trennung von | |
Staat und Religion, ist Teil der Staatsräson der französischen Republik – | |
und es gibt wenige Staaten, die säkularer sind als Frankreich. Diese | |
Marginalisierung der Religion aber hat die Anschläge von Charlie-Hebdo oder | |
die Anschläge vom November in Paris nicht verhindert. Auch die Anschläge | |
des irren „Kreuzritters“ Anders Behring Breivik in Norwegen fanden in einem | |
sehr säkularen Staat statt. Übrigens: Der Osten Deutschland ist auch | |
weitgehend säkularisiert. Wie steht es da mit der Gewaltlosigkeit der | |
Gottlosen? | |
In Deutschland, das schon verfassungsmäßig ein Kuddelmuddel von Staat und | |
Kirche seit bald 70 Jahren etabliert hat, wo der Säkularismus oder eine | |
Laizität wie in Frankreich also nicht konsequent durchgesetzt wurde, gab es | |
bisher kaum nennenswerte religiös motivierte Attentate. Liegt das nur an | |
unserem anscheinend so tollen Verfassungsschutz oder BND? Oder könnte es | |
nicht vielleicht auch daran liegen, dass das Einbinden und rechtliche | |
Einhegen der Religionen etwa als Körperschaften des öffentlichen Rechts | |
Radikalismus und Fundamentalismus in den Religionen verhindert? Das ist | |
durchaus möglich – und ebenso wenig zu beweisen wie die These, dass mehr | |
Säkularismus der richtige Weg gegen mehr religiösen Fundamentalismus oder | |
gar religiös verbrämten Terror ist. | |
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht alle Privilegien der | |
Religionsgemeinschaften in Deutschland sind gerechtfertigt – manche gehören | |
schlicht abgeschafft. Die religiösen Gemeinschaften müssen den | |
menschenfeindlichen Fundamentalismus in ihren Reihen bekämpfen. Sie haben | |
dabei auch in ihren heiligen Schriften viel bessere Argumente als die | |
blindwütigen Mörder von ihren Rändern. Und natürlich ist es die | |
republikanische Pflicht auch der Religionsgemeinschaften hierzulande, Werte | |
wie Presse- und Meinungsfreiheit hoch zu halten, auch wenn dies nicht | |
selten weh tut wie manche antireligiöse Karikaturen im Stile von Charlie | |
Hebdo. | |
Der Säkularismus und die Laizität in Frankreich aber scheinen selbst zu | |
einer Quasi-Religion vieler Linker in unserem Nachbarland verkommen zu sein | |
– fast das Einzige, auf das man sich noch einigen kann. Die Laizität | |
französischer facon mag eine Weile ihre historische Aufgabe gehabt haben, | |
ja notwendig gewesen sein, heute wirkt sie eher wie ein scheinbar | |
einigendes Relikt einer zersplitterten Gesellschaft. Der konstruierte | |
Gegensatz „Hier das freie Frankreich, das Spaß hat und Champagner trinkt– | |
dort die Religion, die unfrei macht und freudlos ist“, wirkt selbst nur | |
noch lächerlich. Das ist auch als Religionskritik eines angeblich so klugen | |
Blattes wie Charlie Hebdo intellektuell reichlich dürftig. | |
Nein, es braucht heute auch in Frankreich keines Mutes mehr, Gott oder | |
Religion als den angeblichen Kern des Bösen zu brandmarken. Das ist zu | |
billig und zu kurz gedacht. Euer Titelbild, liebe Kolleginnen und Kollegen | |
von Charlie Hebdo, ist Quatsch. Und trotzdem trauere ich noch immer mit | |
Euch. | |
8 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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