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# taz.de -- Graphic Novel „Weites Land“: Zwischen Proust und Kuhmist
> In „Weites Land“ erzählt die ehemalige „Charlie-Hebdo“-Zeichnerin
> Catherine Meurisse, wie ihre Kindheit auf dem Land sie fürs Leben
> stärkte.
Bild: Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ verlor Catherine Meurisse das G…
Die zentrale Frage stellt sie gleich zu Beginn. „Was ist das:
'Nostalgie“?“, lässt Catherine Meurisse ihr kindliches Comic-Alter-Ego
fragen. Und ihre Schwester antwortet: „So was für Alte.“
Man könnte hinzufügen: Was für Intellektuelle. Schließlich sind die
bildungsbürgerlichen Eltern [1][der Zeichnerin Catherine Meurisse] einst
von der Stadt ins ländliche Frankreich gezogen, damit ihre Töchter behütet
aufwachsen können. Aber auch ein wenig, um sich zwischen Kirschbäumen und
Weißdornbüschen vor der Gegenwart zu verschanzen. Von dieser Kindheit
erzählt Meurisse nun in ihrer Graphic Novel „Weites Land“.
Noch zu Studienzeiten begann Meurisse, geboren in Niort, beim Satiremagazin
[2][Charlie Hebdo] zu arbeiten. Am Morgen des 7. Januar 2015 verschlief
Meurisse – und überlebte so den islamistischen Anschlag auf die Redaktion.
[3][Ihr Trauma] verarbeitete sie vor zwei Jahren mit der Graphic Novel „Die
Leichtigkeit“, nun veröffentlicht sie mit „Weites Land“ ein weiteres
autobiografisches Werk.
Wenn Intellektuelle und Kunstschaffende zuletzt das Frankreich außerhalb
der Metropolen erforscht haben, dann meist aus soziologischem Interesse.
[4][Didier Eribon] und [5][Édouard Louis], sein jüngerer Schüler im Geiste,
fanden in der Beschäftigung mit dem Land und ihrer eigenen Vergangenheit
als Kinder der Arbeiterklasse Antworten auf einige Fragen der Zeit.
Meurisse kennt, ihrer liebevollen, aber eben auch intellektuellen Eltern
wegen, eine andere Provinz als Eribon oder Louis.
## An den Tod gewöhnt man sich
So erfahren wir nicht, wie viel Prozent der Wählerstimmen der Front
National (heute Rassemblement National) zuletzt in Meurisses nicht näher
lokalisiertem Kindheitsparadies holte, sondern folgen der wehmütig
gestimmten Künstlerin durch eine Tür in ihrer Pariser Wohnung in jenes Dorf
mit 200 Einwohnern, Sonnenblumenfeldern und Ziegen, in dem sie aufgewachsen
ist. War die Anmutung ihrer Graphic Novel „Die Leichtigkeit“ noch geprägt
vom harten Bruch zwischen schwarzer Tusche und Pastellkreide, betrachtet
Meurisse ihr „Weites Land“ durch den Filter der glücklichen Kindheit. Und
der lässt alles in warmem Licht erscheinen.
Während die Eltern einen alten Hof zum Familienheim umbauen, eröffnen
Meurisse und ihre Schwester auf der ewigen Baustelle ein Museum mit Steinen
und anderen Artefakten. Meurisses Berater in Lebensfragen wird ein
Gartenzwerg, die Eltern widmen Michel de Montaigne die Pflanzen ihres
Gartens, und dem Bauern von nebenan gucken die Schwestern beim Schlachten
zu. An den Tod, schreibt Meurisse, gewöhne man sich auf dem Land. Nur an
eines mag sich die Familie nicht gewöhnen: Auf den Feldern stinkt es nach
dem Blut der Tiere, die man im Schlachthof nebenan mit Antibiotika füttert.
Die Methoden der modernen Landwirtschaft gehen den Eltern gegen den Strich,
als beleidigten sie sie und ihren Aussteigertraum persönlich. Als die
kleine Catherine ihren Vater fragt, wieso die Bauern die Flure von den
schönen Wacholderbüschen befreit haben, antwortet der folgerichtig: „Um
deine Eltern melancholisch zu machen.“ Meurisse betrachtet den Ort ihrer
Kindheit mit liebevollem Blick, erkennt aber an: Die Natursteinmauern, die
ihr Vater so gern baut, sind eine Grenze zur Restprovinz – wenn auch eine
durchlässige.
## Das Land als Projektionsfläche
Denn die Menschen vor den Toren des Denker-Arkadiens interessieren sich
nicht für Proust, sondern für Handfestes wie Strohschuhweitwurf und das
örtliche Ziegenkäsefest. Jene Form von entrückter Nostalgie, die Familie
Meurisse kultiviert, können oder wollen sie sich nicht leisten. Wer in der
Gegenwart wenig zu lachen hat, findet beim Stöbern in der Vergangenheit
eher reaktionäre Ideen als Inspiration.
„Weites Land“ skizziert das ländliche Frankreich nicht als Hort der
Abgehängten, sondern als Projektionsfläche: für
Selbstverwirklichungsfantasien, die vor der Kulisse des Echten und
Ursprünglichen besser gedeihen als anderswo. Hier hat jeder seine
Vorstellung von Freiheit, ob er mit dem Quad über Felder brettern oder
Liguster als Sichtschutz gegen die Zumutungen der Moderne pflanzen mag.
Meurisse formuliert es so: „Das Land ist eine Spielothek und weiß nichts
davon.“
Aber „Weites Land“ erzählt auch davon, dass es am Ende doch eher die
Familie als die Provinz ist, die Meurisse für ihr Leben rüstet: Bei einem
Ausflug in den Pariser Louvre kommt den Landkindern alles bekannt vor. Das
Museum ist ihr Habitat, obwohl sie zu Hause im Kuhmist spielen.
Wenn Meurisse schließlich den Ort der Kindheit verlässt, über die Felder
der Kindheit hinein ins neue Leben in der Großstadt spaziert, dann weiß
man: So schmerzhaft wie [6][Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“] wird
Meurisse das Heimkehren in die Provinz nie sein.
25 Feb 2019
## LINKS
[1] /Zwei-Jahre-Anschlag-auf-Charlie-Hebdo/!5368863
[2] /!t5009694/
[3] /Aus-der-Sonderausgabe-Charlie-Hebdo/!5262382
[4] /Debatte-Rueckkehr-nach-Reims/!5382418
[5] /Franzoesischer-Autor-ueber-die-Gelbwesten/!5557499
[6] /Didier-Eribon-zur-Krise-der-Linken/!5340042
## AUTOREN
Julia Lorenz
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Schwerpunkt Frankreich
Comic
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