# taz.de -- „Der Fetzen“ von Philippe Lançon: Das Gesicht eines Überleben… | |
> Philippe Lançon hat den Anschlag auf „Charlie Hebdo“ überlebt. In seinem | |
> Buch schreibt er darüber – aber nicht als Selbsttherapie. | |
Bild: Der Bart verdeckt die Narben von Philippe Lançon, Journalist von Charlie… | |
Mit dem Label „Selbsthilfebuch“ ist nicht einverstanden. Aus guten Gründen: | |
Selbsthilfebücher lassen an Plattitüden und Binsenweisheiten denken, an | |
Hauptsatzreihen und Stilblüten. „Ich kann diese Art Buch nicht lesen“, sagt | |
er im Gespräch. „Ich hab’s versucht.“ | |
Als er schwerverletzt im Krankenhaus lag, über Monate und Monate, brachte | |
ihm seine amerikanische Freundin inspirierende Autobiografien mit, von | |
Leuten, die Haiangriffe überlebt haben zum Beispiel. „Musterüberlebende im | |
prophetischen Auferstehungszustand“, nennt er sie spöttisch in seinem | |
eigenen Überlebensbericht „Der Fetzen“. Die lebensverändernde Katastrophe | |
deuten sie rückwirkend zur lebensintensivierenden Prüfung um. So ein Buch | |
wollte Lançon nicht schreiben. | |
Die drei Autoren, die in „Der Fetzen“ immer wieder auftauchen, sind Kafka, | |
Thomas Mann und Proust. An ihnen – und vor allem an Letzterem – hat Lançon | |
sich stilistisch orientiert; Schreiben als Erkundung des Halbdunkels | |
zwischen Wachen und Träumen, Bewusstsein und Unbewusstem, Erinnerung und | |
Tatsachen. Keine einfache Auflösung, keine lineare Entwicklung von der | |
Stunde null der Katastrophe zum lebensbejahenden Endpunkt der Genesung. | |
Und doch hat Lançon auch ein Selbsthilfebuch geschrieben. Zumindest wird es | |
von vielen Lesern so rezipiert. Er bekomme Unmengen an Briefen, erzählt er, | |
seit das Buch letzten April in Frankreich erschienen ist. Leserinnen, die | |
seine Leidensgeschichte zu ihrer eigenen gemacht haben, schreiben ihm, wie | |
sehr sein Buch ihnen dabei helfe, den Schock der Anschläge zu verarbeiten. | |
## Nicht zu begreifende Gewalt | |
Trotz der Tragödie, die dem Buch zugrunde liegt, ist allein seine Existenz | |
ein Trost: Denn Lançon ist ein Überlebender, der ein Buch über das | |
Überleben geschrieben hat. Über seine lange, qualvolle Rehabilitierung – | |
oder eher: Rekonstruktion –, über den Versuch, an das Leben anzuschließen, | |
das er vorher geführt hat. | |
Vorher heißt: vor dem 7. Januar 2015, dem [1][Anschlag auf die Redaktion] | |
der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Als Kolumnist des | |
Blattes nahm er an diesem Mittwochmorgen an der Konferenz teil, die das | |
islamistische Brüderpaar Kouachi mit Kalaschnikows stürmte. „Wie in einem | |
schrecklichen Theaterstück“, sagt Lançon heute. „Wie in einem Horrorfilm. | |
Einer Performance. Die Typen in Schwarz, ‚Allahu akbar, allahu akbar‘. | |
Absurd. Entsetzlich. Lächerlich.“ | |
Der plötzliche Ausbruch ungeheuerlicher Gewalt war nicht zu begreifen, es | |
musste sich um einen Scherz handeln, so dachte er in der Situation, einen | |
Streich Jugendlicher. Lançon überlebte den Anschlag mit schwersten | |
Verletzungen; das untere Drittel seines Gesichts war zerstört, der | |
titelgebende Fleischfetzen. Die Infamie, so schreibt er, triumphierte über | |
alle Diskurse und Argumente. | |
„Wenn ich heute ein Foto von mir sehe, das vor dem Anschlag gemacht wurde“, | |
sagt Lançon, „dann bin das nicht mehr ich auf dem Foto. Der Typ auf dem | |
Bild ist gestorben. Ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlte, dieser | |
Mensch zu sein.“ | |
## Die eigene Geschichte deuten | |
Sein Buch ist der Versuch, den Mann, der er vor dem Anschlag war, mit dem | |
zu verbinden, der er seitdem ist, eine Kontinuität herzustellen, die seiner | |
Biografie gewaltvoll genommen wurde, auch: das Wiedererlangen der | |
Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Schreiben als Akt des Protests, | |
zunächst, dann als Akt der Akzeptanz. Im Gespräch betont Lançon, das | |
Schreiben hätte keine therapeutische Wirkung gehabt. „Ich habe mit dem | |
Buch angefangen, als es mir besser ging“, sagt er. „Es ging mir nicht | |
besser, weil ich das Buch geschrieben habe.“ | |
Und doch gibt es in seinem Buch viele Passagen, aus denen deutlich wird, | |
wie sehr das Schreiben und das Lesen ihn am Leben gehalten haben, ihn vor | |
dem Wahnsinn bewahren konnten. „Über meinen eigenen Fall zu schreiben“, | |
schreibt er, „war das beste Mittel, ihn zu verstehen und mir zu eigen zu | |
machen, aber auch, um mich abzulenken – denn für Minuten, für eine Stunde, | |
war der Schreibende nicht mehr der Patient, über den er schrieb: Er war | |
Reporter und Chronist einer Rekonstruktion.“ | |
Schreiben also auch als Mittel, aus dem schmerzenden Körper herauszutreten, | |
ihn mit Distanz zu betrachten, seine Person zu einer Figur zu machen, deren | |
Leben nun in ausgewählten Szenen und mit wohlüberlegter Symbolik erzählt | |
wird. „Ich wurde zu einer Fiktion“, schreibt er. „Es war die Wirklichkeit, | |
es war absurd und ich war frei.“ | |
Das Erzählen seiner Geschichte folgte nun den Regeln der Dramaturgie. „Ich | |
hätte das Buch mit dem Anschlag beginnen lassen können“, sagt Lançon im | |
Gespräch. „Aber das wäre falsch gewesen, es wäre banal gewesen. Zudem | |
handelt das Buch ja davon, wie ein derartiges Ereignis das Leben einer | |
Person und das der Menschen um sie herum verändert. Es war also notwendig, | |
mit dem Leben vorher zu beginnen.“ | |
## Die Überlebenden machen weiter | |
Das Buch beginnt mit einem Theaterbesuch. Lançons letzter Abend als | |
Unversehrter. Dann die morgendliche Routine am nächsten Tag. Gymnastische | |
Übungen vor dem Fernseher. [2][Michel Houellebecq im Bild], er hat gerade | |
seinen Roman „Unterwerfung“ veröffentlicht. Lançon hat das Buch bereits | |
gelesen, soll den Autor am nächsten Tag interviewen. Die Fahrt zur Arbeit | |
mit dem Fahrrad. Das Scherzen mit den Kollegen im Konferenzraum. | |
Eine Woche nach dem Anschlag, schwer verletzt im Krankenhaus liegend, | |
schreibt Lançon seine Kolumne für Charlie Hebdo. Die Überlebenden machen | |
weiter, das Blatt erscheint, das Interesse der Weltöffentlichkeit ist | |
überwältigend. Lançon schreibt, zum ersten Mal, über sich selbst, über die | |
Bedeutung seines Schreibens, eine Einstimmung auf den Stil, den er im | |
„Fetzen“ benutzen wird. | |
„Letztlich ist dieser Optimismus des Willens ein Lebenszeichen“, tippte er | |
damals langsam und beschwerlich in seinen Laptop. „Und doch bedeutet der | |
Text, als ich ihn schreibe, auch das Gegenteil: Ich wende mich an die, die | |
dort am Konferenztisch und in den Gängen von Charlie gestorben sind. Eine | |
posthume Klavierstunde: Während die rechte Hand für die Lebenden spielt, | |
spielt die Linke für die Toten und gibt den Takt vor.“ | |
Als mir der Ort für das Interview mitgeteilt wurde – ein Kreuzberger Hotel, | |
das sich auf seiner Webseite als „Retreat für reisende Ästheten“ beschrei… | |
–, bin ich davon ausgegangen, das Interview in einem anonymen Hotelzimmer | |
zu führen, wo mich Lançon unauffällig empfangen könnte. Besonders auffällig | |
ist er wirklich nicht; ein schmaler Mann im Wollpullover, die Barthaare | |
distinguiert angegraut. | |
## Der Bart überdeckt die Narben | |
Jedoch wartet er nicht im versteckten Hotelzimmer, sondern unten im | |
loungeartigen Barbereich, auf einer Couch am Kamin, um ihn herum eine | |
Abendgesellschaft, hinter ihm eine große Fensterfront, in der | |
Gentrifizierungsgegner mächtige Sprünge hinterlassen haben. | |
Er sitzt da für alle sichtbar. Sein Bart überdeckt die Narben, die Form | |
seines Kinns ist unnatürlich. Bevor er spricht, hört man ein Klickgeräusch. | |
Wir sprechen Englisch, er spricht in gemächlichem Tempo, macht lange | |
Pausen, so dass ich manchmal verfrüht die nächste Frage stelle, weil ich | |
denke, dass er alles gesagt hat, was er sagen wollte. | |
Weil das Ende einer Erzählung allem Vorangegangenen seine Bedeutung | |
verleiht, überlegte Lançon sich gut, mit welcher Szene er sein Buch | |
beschließen wollte. Ein naheliegendes Ende verwarf er nicht nur, er strich | |
gleich das ganze Kapitel aus dem Buch. Es war der erste längere Freigang | |
nach einem halben Jahr Gefesseltsein ans Krankenbett. Freunde überraschten | |
ihn mit einem privaten Klavierkonzert. | |
## Keine Heldenreise | |
„Ein ganz wichtiger Tag für mich“, sagt Lançon. „Ein Tag, der bedeutete: | |
Jetzt lässt du diese Hölle hinter dir.“ Aber kein angemessenes Ende für | |
sein Buch. „Es wäre zu symbolisch gewesen. Dieser Tag, der in meinem Leben | |
eine gewaltige Bedeutung hat, passte nicht in das Buch. Es wäre dann keine | |
Literatur mehr gewesen. Den Lesern wäre es auch zu viel gewesen, sie hätten | |
sich gegen die Symbolik gewehrt. Es ist wirklich passiert, aber man hätte | |
es mir nicht abgekauft.“ | |
Es wäre der Endpunkt einer Art Heldenreise geworden: Ein Mann kehrt nach | |
überstandenen Herausforderungen wieder in die Welt zurück, aus der er | |
aufgebrochen war. Ein Musterüberlebender. Das ist nicht das Buch, das | |
Lançon geschrieben hat. | |
20 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Zwei-Jahre-Anschlag-auf-Charlie-Hebdo/!5372376 | |
[2] /Roman-von-Michel-Houellebecq/!5024623 | |
## AUTOREN | |
Jan Jekal | |
## TAGS | |
Charlie Hebdo | |
Anschlag | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Charlie Hebdo | |
taz.gazete | |
Thomas Gottschalk | |
Frankreich | |
Ausstellung | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Noch nicht vergessen | |
Fünf Jahre sind seit dem Anschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ | |
vergangen. Frankreich ist noch immer in Alarmbereitschaft. | |
Buch „Afrotopia“: „Der“ afrikanische Mensch | |
Felwine Sarr ist eine wichtige Stimme im Streit um koloniale Raubobjekte. | |
Doch sein Buch ist ein Pamphlet für ahnungslose Kulturalisten. | |
Literatursendung „Gottschalk liest?“: Gottschalk plaudert | |
In seiner neuen Literatursendung will Thomas Gottschalk mit Autoren über | |
neue Literatur sprechen. So richtig ernst scheint das niemand zu nehmen. | |
Graphic Novel „Weites Land“: Zwischen Proust und Kuhmist | |
In „Weites Land“ erzählt die ehemalige „Charlie-Hebdo“-Zeichnerin Cath… | |
Meurisse, wie ihre Kindheit auf dem Land sie fürs Leben stärkte. | |
Comiczeichner Jacques Tardi in Basel: Reise ans Ende der Nacht | |
Der französische Zeichner Jacques Tardi wird in Basel mit einer großen | |
Ausstellung gefeiert. Berühmt sind seine Comics zum Ersten Weltkrieg. | |
Kolumne Air de Paris: Fingerschnipsen für Frankreich | |
Wie naiv man doch sein kann! Unsere Autorin dachte, Emmanuel Macron könne | |
Frankreich befrieden. Aktuell wirkt er überfordert. |