# taz.de -- Graphic Novel zu japanischer Kultur: Wenn der Tanuki den Pinsel fü… | |
> In „Nami und das Meer“ taucht Catherina Meurisse ein in die japanische | |
> Kultur. Der Band ist ein von Humor getragener ost-westlicher | |
> Schnupperkurs. | |
Bild: Teile des Titelbildes von „Nami und das Meer“ | |
Die schmale Französin mit den dunklen, halblangen Haaren ist gerade in | |
ihrem japanischen Domizil angekommen und fühlt sich überwältigt von der | |
Fülle der Natur in der Umgebung, als sie ein Schatten nach draußen lockt. | |
„Ein Tanuki!“ meint sie zu erkennen. Sie erklimmt einen Felsen, folgt dem | |
quirligen Tier in den Wald. | |
Sie stellt fest, dass sie sich angesichts der dichten Vegetation „wie in | |
einem Miyazaki-Film“ vorkommt. Der Tanuki wartet schon auf sie im Gebüsch | |
und überrascht sie damit, dass er sprechen kann – und sogar etwas von | |
japanischer Zeichenkunst versteht. | |
Die französische Zeichnerin Catherine Meurisse beginnt ihre neue Graphic | |
Novel „Nami und das Meer“ mit entspanntem, pfiffigem Humor. Geradezu | |
spielerisch wechselt sie von einer realistischen Exposition in eine leicht | |
fantastische, märchenhafte Szene. Denn das Tanuki, ein Marderhund, der | |
wegen seiner äußeren Ähnlichkeit häufig als „japanischer Waschbär“ | |
bezeichnet wird, ist nicht nur eine typische japanische Wildtierart, | |
sondern auch ein wichtiges mythologisches Fabeltier. | |
Als Yōkai (Dämon) hat er meist den Charakter eines Vagabunden und | |
draufgängerischen Trunkenbolds. Meurisse zeichnet ihn als sympathischen | |
Prahlhans, der dem aus der westlichen Kultur kommenden „Greenhorn“ gerne so | |
einiges erklärt. Aus seinem Anus heraus zaubert er etwa den japanischen | |
Zeichenpinsel, mit dem sie die Landschaft einfangen soll. | |
Die 1980 geborene [1][Catherine Meurisse wurde als | |
Charlie-Hebdo-Karikaturistin] bekannt. Sie verdankte es einem glücklichen | |
Zufall, dass sie am 7. Januar 2015, dem Tag des islamistischen Massakers an | |
mehreren Zeichnern und Redaktionsmitgliedern von Charlie Hebdo, zu spät kam | |
und so überlebte. | |
Das traumatische Ereignis und die sich anschließende Trauerphase | |
verarbeitete sie 2016 in der Graphic Novel „Die Leichtigkeit“. 2018 knüpfte | |
Meurisse in der ebenfalls autobiografischen [2][Graphic Novel „Weites | |
Land“] daran an und versuchte, dem nachhaltigen Schrecken der Ereignisse | |
die Beschreibung der eigenen, idyllischen Kindheitserinnerungen auf dem | |
Lande entgegenzusetzen. | |
„Nami und das Meer“ wurde durch einen 2018 erlebten Aufenthalt der | |
Künstlerin in der Villa Kujoyama bei Kyoto, die dem Institut Français und | |
der Stiftung Bettencourt-Schueller gehört, inspiriert. Protagonistin ist | |
wieder ihr erwachsenes Alter Ego, gezeichnet in Meurisses typischem, | |
karikierenden Charlie-Stil. Auch die anderen Figuren sind meist als | |
ausdrucksstarke Karikaturen angelegt, jede davon mit pointierten | |
persönlichen Schrullen ausgestattet. | |
Die wissbegierige Zeichnerin möchte der japanischen Natur und Kultur | |
zeichnerisch auf die Spur kommen und bekommt dazu allerlei Ratschläge von | |
den Leuten, die ihr begegnen. Neben dem Tanuki sind das ein Maler, der zum | |
Malen jedoch nicht fähig ist und stattdessen Haikus dichtet, sowie die | |
schöne Nami, die die beiden bewirtet und mal bodenständig, mal als | |
unwirkliche, mystische Figur auftritt. Sie scheint der alten japanischen | |
Legende von der „Schönen von Nagara“ zu entsprechen, die einst von zwei | |
Männern zugleich geliebt wurde und sich deshalb ertränkte. | |
## Das perfekte Porträt | |
Namis rätselhaftes Wesen inspiriert den (weiterhin nicht zum Pinsel | |
greifenden) Maler zur Vison eines perfekten Porträts. Die Zeichnerin kommt | |
durch Nami auch der Natur näher, da sie vorgibt, als „Wetterfee“ den | |
nächsten Taifun vorherzusagen. | |
In ihrer Reiseerzählung, die im Grunde die Erkundung einer betörend | |
schönen, jedoch von Tsunami-Wällen und anderen modernen Elementen | |
durchsetzten japanischen Landschaft und der dortigen Kultur ist, huldigt | |
Meurisse auch einem literarischen Werk: dem 1906 geschriebenen Roman | |
„Kusamakura“ (dt. „Graskissenbuch“) von Natsume Sōseki. Der Schriftste… | |
erzählt darin von einem Kunstmaler, der auf der Suche nach Motiven ein | |
Bergdorf besucht und die schöne Tochter seines Gastwirtes dafür auswählt. | |
In dem Roman geht es außerdem um die Begegnung zwischen östlicher und | |
westlicher Kultur, was im Japan um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur | |
auf dem Gebiet der Kunst eine große Rolle spielte: Die Gesellschaft war | |
während der Meiji-Periode (1868–1912) im Umbruch, der frühere Feudalstaat | |
öffnete sich allmählich der Moderne und damit westlichen Einflüssen. | |
## Östliche Kultur und Haikus | |
Meurisse greift diesen Hintergrund und Motive aus Natsumes Roman auf, um | |
den umgekehrten Weg zu gehen: Sie öffnet sich der östlichen Kultur, saugt | |
die Besonderheiten der japanischen Flora und Fauna auf und hört sich | |
japanische Weisheiten – meist in praktischer Haiku-Kürze – gerne an, | |
manchmal stellt sie Vergleiche zwischen Ost und West auf, ähnlich wie der | |
Maler im „Graskissenbuch“. | |
Dabei taucht Meurisse nicht so tief in die japanische Kultur ein wie etwa | |
ihr italienischer Zeichnerkollege Igort, der selbst jahrelang in Japan | |
lebte und als Mangaka arbeitete. Ihre Begegnung gleicht eher einem | |
zwanglosen Schnupperkurs, der etwa die Werke Hokusais wie dessen berühmte | |
„Große Welle“ würdigt. (Dass Hokusai den Begriff Manga prägte, lässt sie | |
unerwähnt.) | |
Besonders gelungen sind ihre Hintergründe, die gar nichts Karikaturhaftes | |
haben und mittels feinster Aquarelltechnik Japans Blütenwelt auf berückende | |
Weise einfangen. | |
Auf einigen seitenfüllenden Panels erreicht sie sogar die Wirkung der | |
schönsten ukiyo-e („Bilder der heiteren, vergänglichen Welt“), der | |
japanischen Farbholzschnitte wie die Hokusais, die schon im 19. Jahrhundert | |
die Europäer verzauberten und den Japonismus insbesondere unter Frankreichs | |
Künstlern auslösten, Impressionisten wie Expressionisten inspirierten. | |
Catherine Meurisse erschafft so eine humorvolle, fast schwerelose Hommage | |
an japanische Kunst und Literatur. | |
22 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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