# taz.de -- Internationaler Holocaustgedenktag: Die Aufarbeitung kommt spät | |
> Zum ersten Mal bekommen queere Opfer der Naziverfolgung beim Gedenken im | |
> Bundestag Aufmerksamkeit. Überlebende gibt es heute nicht mehr. | |
Bild: Ein Porträt von Mary Pünjer an der Fotowand der Ermordeten in der Bernb… | |
In der Gedenkstunde im Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus, die | |
zuerst 1996 unter Bundespräsident Roman Herzog stattfand, wurden von Anfang | |
an auch Homosexuelle in einer Aufzählung der Opfergruppen erwähnt. Eine | |
eigene Aufmerksamkeit wurde sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten | |
bislang indes verweigert. | |
Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ließ im Januar 2019 | |
mitteilen, er stehe „der Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen | |
[…] aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüber“. Tatsächlich ga… | |
bereits eigene Gedenkstunden für Zwangsarbeiter*innen, behinderte Menschen, | |
Roma und Sinti. | |
Hoffnung auf ein besonderes Gedenken kam erst mit dem Regierungswechsel in | |
Berlin auf. Bereits im November 2021 schrieb die neue Bundestagspräsidentin | |
Bärbel Bas, dass unser Anliegen „besondere Berücksichtigung finden“ würde | |
und bestätigte dies im Juni 2022. Ein respektvoller Dialog begann, wobei es | |
auch in unserem Interesse war, dass dies eine offizielle Veranstaltung des | |
Bundestags bleiben würde mit Anwesenheitspflicht für alle Abgeordneten. | |
Da es heute keine Überlebenden mehr gibt, die selbst hätten berichten | |
können, entstand die Idee, die Geschichten zweier Opfer vorlesen zu lassen, | |
wofür die offen lesbische [1][Kabarettistin Maren Kroymann] und der offen | |
schwule Schauspieler [2][Jannik Schümann] gewonnen werden konnten. Beide | |
stehen auch für unterschiedliche Generationen. Bei Mary Pünjer (1904–1942) | |
wird deutlich, dass auch lesbische Frauen in der NS-Zeit verfolgt wurden, | |
auch wenn es keinen eigenen Strafparagrafen gegen sie gab. | |
## Zweimal vom gleichen Richter verurteilt | |
Mary Pünjer wurde als „Asoziale“ verhaftet und ins Konzentrationslager | |
Ravensbrück gebracht, obwohl sie auch als Jüdin hätte deportiert werden | |
können. Dem KZ-Arzt Friedrich Mennecke war es jedoch wichtig, ihre | |
„Unheilbarkeit“ als „Lesbierin“ als Grund anzugeben, um sie in der „H… | |
und Pflegeanstalt Bernburg“ vergasen zu lassen. Gleichwohl liegen keine | |
eigenen Aussagen von Mary Pünjer über ihr Lesbischsein vor. | |
Karl Gorath (1912–2003) wird 1934 im Alter von 22 Jahren nach Paragraf 175 | |
verurteilt. Eine erneute Verhaftung vier Jahre später führt zuerst zu einer | |
Zuchthausstrafe und anschließend, weil er als „Wiederholungstäter“ galt, | |
ins KZ Neuengamme. Von dort aus wird er 1943 nach Auschwitz deportiert und | |
überlebt die NS-Zeit nur knapp. Unfassbarerweise wird er bereits 1946 | |
erneut vom gleichen Richter verurteilt, der ihn schon während der NS-Zeit | |
schuldig gesprochen hatte. | |
1989, im Alter von 77 Jahren, fährt Karl Gorath mit uns, einer offen | |
schwulen Gruppe aus Norddeutschland, ins „Staatliche Museum Auschwitz“, um | |
vor allem herauszufinden, ob seine beiden jungen polnischen Liebhaber und | |
Mitgefangenen überlebt hatten. Die offiziellen Stellen lassen ihn damals | |
glauben, dass sie umgekommen waren, obwohl einer der beiden 1989 sogar noch | |
Führungen in Auschwitz leitete. | |
Der 27. Januar ist auch eine Erinnerung an die Befreiung des | |
Konzentrationslagers Auschwitz durch die sowjetrussische Armee 1945. 2005 | |
haben die Vereinten Nationen dieses Datum zum „Internationalen | |
[3][Holocaust-Gedenktag]“ erklärt. Obwohl die Gedenkstunde im Bundestag an | |
alle Opfer des Nazi-Terrors erinnern möchte, bleibt dieser Zusammenhang | |
bedeutsam. | |
## Paragraf 175 galt bis 1994 | |
Von Anfang an war es ein Anliegen unserer Petition, weit über unsere Gruppe | |
der „Betroffenen“ hinaus um Unterstützung zu werben. So gehörten auch | |
mehrere Holocaust-Überlebende zu unseren Unterzeichner*innen, wie Ruth | |
Weiss (*1924) und auch Rozette Kats (*1942), die als kleines Kind bei einem | |
niederländischen Ehepaar überlebte, bei dem ihre Eltern sie vor ihrer | |
Deportation nach Auschwitz zurückgelassen hatten. | |
Rozette Kats wird gleich im Anschluss an Bundestagspräsidentin Bas als | |
Erste reden, auch um deutlich zu machen, dass ein Verstecken der eigenen | |
Identität immer schrecklich ist. Zweifellos können in 60 Minuten nicht alle | |
wichtigen Aspekte dargestellt werden. Jedoch erstmals seit 1996 wird durch | |
den abschließenden Beitrag von Klaus Schirdewahn (*1947), der 1964 als | |
17-Jähriger nach Paragraf 175 verhaftet worden war, deutlich, wie die | |
Verfolgung einer Opfergruppe auch nach Kriegsende andauerte. | |
Der 1935 verschärfte [4][Nazi-Paragraf 175] wurde erst 1969 liberalisiert | |
und schließlich erst 1994 ganz abgeschafft. Rund 50.000 Urteile aus den | |
Jahren 1933 bis 1945 wurden erst 2002 für ungültig erklärt und als | |
Vorstrafen gelöscht. Weitere 50.000 nach 1945 gefällte Urteile wurden 2017 | |
aufgehoben. Unter Historiker*innen setzt sich die Kontroverse darüber | |
fort, wer als NS-Verfolgter anzuerkennen sei, zumal das Wort queer damals | |
noch nicht gebräuchlich war. | |
Es sollte jedoch niemals um eine Hierarchisierung der Opfer gehen, sondern | |
darum, die unterschiedlichen Verfolgungskriterien der Nazis zu demaskieren, | |
um konkrete Schicksale überhaupt erst zu erkennen. Bei Transsexuellen ist | |
die Forschung noch am Anfang, obwohl sie immer wieder Ziel transphober | |
Attacken werden, wie bei dem [5][Mord an Malte C.] (25) in Münster Anfang | |
September 2022, der sich beim Gay Pride mutig vor zwei lesbische Frauen | |
gestellt hatte. | |
Auch darum ist es gut, dass die Transkünstlerin Georgette Dee in der | |
Gedenkstunde zwei Lieder aus den 1920er Jahren vortragen wird, die unter | |
den Nazis verboten waren. Auch wenn queere Flüchtlinge in der Gedenkstunde | |
nicht selbst zu Wort kommen, soll es mehr als eine Geste sein, dass zu den | |
eingeladenen Ehrengästen heute Ali Tawakoli aus Afghanistan und Edward | |
Mutebi aus Uganda gehören. | |
Denn es gibt weiterhin mehr als 70 Länder, in denen Homosexuelle strenge | |
Haftstrafen fürchten müssen. In über 40 dieser Staaten werden [6][auch | |
lesbische Frauen geahndet]. Und in 13 Ländern besteht die Todesstrafe. So | |
soll die Gedenkstunde auch Ermutigung sein, zu weiter nötigem Engagement | |
und solidarischen Kontroversen. | |
27 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Maren-Kroymann/!t5612544 | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/jannik-schumann-ubers… | |
[3] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296 | |
[4] /Paragraf-175/!t5303960 | |
[5] /Getoeteter-trans-Mann-Malte-C/!5876441 | |
[6] /Gewalt-gegen-LGBTIQ-Community/!5738694 | |
## AUTOREN | |
Lutz van Dijk | |
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