| # taz.de -- Im Wahlkreis von Robert Habeck: Mehr als Minderheit | |
| > Der Südschleswigsche Wählerverband strebt nach 60 Jahren wieder einen | |
| > Sitz im Bundestag an. Warum das gar nicht mal so aussichtslos ist. | |
| Bild: Listenplatz eins: Stefan Seidler will für den SSW nach Berlin | |
| Flensburg taz | Es ist keine alltägliche Unterrichtsstunde, die an diesem | |
| Morgen in der Flensburger Duborg-Skolen stattfindet – eine von zwei | |
| Gemeinschaftsschulen der dänischen Minderheit mit gymnasialer Oberstufe in | |
| Schleswig-Holstein. Die Turnhalle, eng bestuhlt, ist mit rund 200 | |
| Schüler*innen der Jahrgangsstufen 10 bis 13 gut gefüllt. Einige haben | |
| sich, samt Regenbogenflagge, in der ersten Reihe auf den Boden gekauert. | |
| Heute gibt es hier, knapp anderthalb Wochen vor der Bundestagswahl am 26. | |
| September, heimische Politiker*innen zum Anfassen. Von elf | |
| Direktkandidat*innen im Wahlkreis 1, der die Stadt Flensburg und den | |
| Kreis Schleswig-Flensburg umfasst, sind neun zum Schaulaufen erschienen. | |
| Der [1][Grüne Robert Habeck] lässt sich durch seinen Parteifreund Rasmus | |
| Andresen, seit 2019 Abgeordneter im EU-Parlament, vertreten. Auch die | |
| CDU-Frontfrau Petra Nicolaisen, die 2017 mit 40 Prozent der Stimmen den | |
| Wahlkreis holte, hat einen jungen Ersatzmann in die Schule geschickt. | |
| Doch ein bisschen Schwund ist immer und die Zeit an diesem Vormittag knapp. | |
| Mirco Reimer-Elster, Moderator der Debatte, hält sich nicht lange mit | |
| Vorreden auf. „Das Triell kann einpacken“, sagt Reimer-Elster, der ein | |
| beiges Jackett mit schwarz-rot-goldenen Streifen trägt. Er selbst ist | |
| Absolvent der Duborg-Skolen und als Journalist des dänischen Fernsehsenders | |
| TV2 so etwas wie ein Star bei den nördlichen Nachbar*innen. | |
| Die erste Runde ist eingeläutet – zwei Minuten für jede/n. Jan | |
| Petersen-Brendel von der AfD versucht, sich als Opfer in Szene zu setzen Er | |
| beklagt die negative Berichterstattung in den Medien, die ihm doch allen | |
| Ernstes eine Nähe zu Adolf Hitler unterstellten. Die Rede ist von einem | |
| Facebook-Post Brendels am 20. April vergangenen Jahres, in dem er | |
| Geburtstagsgrüße an das deutsche Volk richtete. | |
| Damit sei das Ende des ersten Lockdowns in der Coronapandemie gemeint | |
| gewesen, sagt er, was viele Schüler*innen mit höhnischem Gelächter | |
| quittieren. Auch bei der AfD scheint der Post nicht auf fruchtbaren braunen | |
| Boden gefallen zu sein. Unlängst wurde bekannt, dass gegen Petersen-Brendel | |
| ein Parteiausschlussverfahren läuft. | |
| ## Auftritt Stefan Seidler | |
| Das Kandidat*innenkarussell dreht sich weiter, jetzt ist Stefan | |
| Seidler an der Reihe. Er steigt für den Südschleswigschen Wählerverband | |
| (SSW) in den Ring, der rund 3.000 Mitglieder hat und die dänische und | |
| friesische Minderheit im Bundesland vertritt – schätzungsweise und auf der | |
| Grundlage eines Selbstbekenntnisses von jeweils 50.000 bis 60.000 Menschen. | |
| Sie sind, neben den Sorben sowie Roma und Sinti, als Minoritäten offiziell | |
| anerkannt. Es sei schön, wieder an seiner alten Schule zu sein, den Duft | |
| und die Atmosphäre zu spüren, hier habe er seine politische Karriere | |
| begonnen“, sagt der 41-Jährige auf Dänisch und spielt damit auf seine | |
| damalige Tätigkeit für die Jugendorganisation des SSW an. | |
| Dann platzt ihm der Kragen. „Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich | |
| hier in meiner alten Schule stehe und erlebe, wie sich dieser Mann von der | |
| AfD seine schmutzigen Hände wäscht“, ruft er auf Deutsch mit bebender | |
| Stimme. Die Verbalattacke bringt ihm Applaus des Publikums und den Hinweis | |
| des Moderators ein, dass bei dieser Veranstaltung Vertreter*innen aller | |
| Parteien gehört werden sollten, auch wenn man mit ihren Standpunkten nicht | |
| einverstanden sei. | |
| ## Wikingerschiff auf Kurs | |
| Nach 90 Minuten ist alles vorbei, nur Seidler und der Grünen-Vertreter | |
| werden noch von Schüler*innen belagert, um Fragen zu beantworten. „Ich | |
| wusste bislang nur wenig über den SSW, aber dessen Kandidat hat alle Punkte | |
| gut vertreten“, sagt Rasmus, ein Schüler, der einen Tag vor der | |
| Bundestagswahl 18 Jahre alt wird. „Die Partei könnte mehr Vielfalt in den | |
| Bundestag bringen, aber das Thema Minderheiten ist für mich nicht das | |
| wichtigste.“ | |
| Dass es für die auf Deutsch, Dänisch sowie in Leichter Sprache mit einem | |
| Wikingerschiff beworbene „Mission Bundestag“ heutzutage nicht nur bei der | |
| jungen Generation mehr „Butter bei die Fische“ braucht, ist auch dem SSW | |
| klar. Der letzte Versuch dieser Art liegt 60 Jahre zurück. Nach der Wahl | |
| 1949 stellte die ein Jahr zuvor gegründete Partei, die von der | |
| Fünfprozenthürde befreit ist, mit Hermann Clausen ihren bisher einzigen | |
| Abgeordneten im Bundestag. | |
| Nachdem Anläufe 1957 und 1961 gescheitert waren, verabschiedete sich der | |
| SSW von bundespolitischen Ambitionen, war jedoch mit einer Ausnahme | |
| (1954–58) durchgängig im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten. 2012 | |
| bis 2017 war der SSW erstmals an der Landesregierung beteiligt und stellte | |
| im Verbund mit SPD und Grünen in der „Küstenkoalition“, auch „Dänen-Am… | |
| genannt, mit Anke Spoorendonk die Ministerin für Justiz, Europa und Kultur. | |
| Sie holte Seidler, der im dänischen Aarhus Staats- und Politikwissenschaft | |
| sowie politische Kommunikation studiert hat, als Dänemark-Koordinator der | |
| Landesregierung nach Kiel. Diesen Job hat er bis heute. | |
| ## Die reelle Chance | |
| Nun nehmen er und der SSW unter dem Motto „Moin Berlin“ Kurs auf die | |
| Hauptstadt. Die Chancen, dort auch anzukommen, stehen so schlecht nicht. | |
| Zwischen 40.000 und 50.000 Zweitstimmen bräuchte die Partei, für die sich | |
| bei der letzten Landtagswahl 2017 47.000 Wähler*innen entschieden. Ob es | |
| dann für Seidler wirklich reicht, hängt neben der Anzahl von Überhangs- und | |
| Ausgleichsmandaten auch von der Wahlbeteiligung ab. | |
| Stefan Seidler verlässt das Schulgebäude, es ist 12.30 Uhr. Er müsse jetzt | |
| mal „früh“stücken, sagt er und schlägt ein Café in „seinem Kiez“ vo… | |
| gebe es aber auch Bier und gute Cocktails. | |
| Sein Kiez, wo auch der SSW in einem ehemaligen Spirituosenhandel | |
| vorübergehend seine Zelte aufgeschlagen hat, ist die Norderstrasse in der | |
| nördlichen Altstadt, ein jahrzehntelang vernachlässigter Wurmfortsatz der | |
| Fußgängerzone im Herzen Flensburgs. Anlaufpunkt war hier vor allem der | |
| Olof-Samson-Gang – eine Verbindungsgasse zum Hafen mit historischen | |
| Fischerhäuschen nebst umfassenden Angebot an körpernahen horizontalen | |
| Dienstleistungen. | |
| Doch das ist alles Geschichte. Jetzt reihen sich auf der Norderstrasse in | |
| Häusern mit frisch gestrichenen Fassaden kleine Geschäfte und hippe | |
| gastronomische Einrichtungen aneinander. | |
| Seidler steuert das Café Lykke („Glück“) an, ordert ein Sandwich und einen | |
| Kaffee. „Ein Start-up“, sagt er und lächelt. Die Betreiber*innen seien | |
| ebenfalls Absolvent*innen der Duborg-Skolen. Dann legt er los. „Wir | |
| müssen das Thema aller Minderheiten in Berlin auf die Tagesordnung setzen, | |
| deren Rechte müssen endlich im Grundgesetz verankert werden“, sagt er. | |
| Dabei ist die Lage der dänischen Minderheit im Vergleich zu den | |
| Fries*innen geradezu privilegiert. Während Letztere jährlich beim Bund | |
| Klinken putzen müssen, um an Mittel für Kultur und Bildung zu kommen, | |
| erhält die dänische Minderheit neben Geldern aus Berlin und Kiel auch noch | |
| Zuwendungen aus dem Mutterland Dänemark. | |
| ## Die skandinavische Note | |
| Wie störanfällig das Verhältnis, das so gerne als positives Beispiel für | |
| ein gedeihliches Mit- und Füreinander bemüht wird, dennoch ist, zeigen | |
| Streitigkeiten über Kürzungen deutscher Mittel für dänische Schulen, die in | |
| der Vergangenheit mehrmals zu lautstarken Protesten führten. Jüngstes | |
| Beispiel: der Digitalpakt. „Da sind die dänischen Einrichtungen schlichtweg | |
| vergessen worden“, ärgert sich Seidler. | |
| Doch das Trommeln für Minderheiten ist beileibe nicht das einzige Anliegen | |
| des SSW, der in deutschen Medien auch schon mal als Truppe von | |
| „Ikea-Sozialisten“ verspottet wird. Denn die Partei [2][propagiert | |
| skandinavische Lösungen]. Dazu gehören eine Bürgerrente, elternunabhängiges | |
| Bafög, gleiche Gehälter für Männer und Frauen sowie ein Ausbau der | |
| digitalen Infrastruktur – ein Bereich, in dem die Dän*innen ihrem | |
| Nachbarn haushoch überlegen sind und dessen Rückständigkeit nur müde | |
| belächeln. Mittlerweile läuft in Dänemark alles digital ab – auf dem | |
| Bürgerportal borger.dk kann, wer eine Rattenplage hat, sogar einen | |
| Kammerjäger bestellen. | |
| Dann kommt Seidler zu seinem Lieblingsthema, das, wie er zugibt, für ihn | |
| die größte Motivation sei, sich für ein Bundestagsmandat zu bewerben. „Ich | |
| will unsere Region als Ganzes stärken, denn wir kommen hier zu kurz“, sagt | |
| er und redet sich in Rage. So sei Schleswig-Holstein im | |
| Bundesverkehrswegeplan für 2030 nur mit 22 Initiativen drin, in Bayern | |
| seien das hingegen 325. Dabei habe die Region als Standort für Forschung | |
| und Innovation durchaus einiges zu bieten, die Voraussetzungen für eine | |
| wirtschaftliche Entwicklung seien daher gut. „Wir müssen in Berlin den | |
| Rüssel in die Kasse kriegen“, sagt Seidler und lacht. Das sei eine | |
| Formulierung aus dem Dänischen. | |
| Um den Norden voranzubringen, will er mit anderen schleswig-holsteinischen | |
| Abgeordneten ein parteiübergreifendes Bündnis schmieden. Um Allianzen wird | |
| Seidler ohnehin nicht herumkommen, hat ein einzelner Abgeordneter doch | |
| keine Fraktion hinter sich und ist bei Redezeiten und bei der Besetzung von | |
| Ausschüssen im Hintertreffen. | |
| Doch das schreckt Seidler weniger als die Aussicht, sollte er denn gewählt | |
| werden, in einem Büro direkt neben der AfD einquartiert zu werden. „Wenn | |
| das so kommt, werde ich sofort eine Eingabe beim Bundestagspräsidenten | |
| machen“, sagt er. Was er fordern wolle? Minderheitenschutz, was sonst. | |
| 20 Sep 2021 | |
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| Barbara Oertel | |
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