| # taz.de -- Grüner Wahlkampf in Brandenburg: Die Antifa heißt hier Alexander | |
| > In Thüringen und Sachsen haben die Grünen verloren. Auch in Brandenburg | |
| > drohen sie aus dem Landtag zu fliegen. Jetzt kommt westliche | |
| > Wahlkampfhilfe. | |
| Bild: Grüne haben es schwer auf dem Land in Brandenburg | |
| Senftenberg taz | Das Büro der Grünen in der Bahnhofstraße von Senftenberg | |
| ist so voll wie noch nie. Nicht mal die Stühle reichen für alle. Fünf | |
| einheimische Wahlkämpfer*innen sind an diesem Samstag für die Partei | |
| unterwegs – und sechs weitere aus Recklinghausen. Nach drei Stunden am | |
| Wahlkampfstand machen nun alle gerade Mittagspause. Auf dem Tisch steht | |
| Sahnetorte aus dem veganen Café in der Innenstadt – so etwas gibt es | |
| mittlerweile sogar im Süden Brandenburgs, wo bei der [1][Europawahl nur 2,6 | |
| Prozent die Grünen] wählten. | |
| „Mit so vielen Leuten macht der Wahlkampf eine ganz andere Wirkung. Es gibt | |
| auch ein Stück Sicherheit. Zu zweit hat man das nicht“, sagt Anne | |
| Zimmermann, die 15 Kilometer entfernt in Ruhland lebt und dort mit ihrem | |
| Mann bei der letzten Kommunalwahl kandidiert hat. | |
| „Ist euch denn schon mal was Schlimmeres am Stand passiert?“, fragt einer | |
| der Gäste aus Nordrhein-Westfalen. | |
| „Nee. Wir haben bisher keinen gemacht“, antwortet Zimmermann. | |
| Solche Gespräche gibt es in diesen Wochen oft bei den Grünen. Im Osten | |
| passiert im Moment [2][eigentlich wenig, was der Partei Mut macht]. Bei der | |
| Landtagswahl in Thüringen ist sie aus dem Parlament geflogen, in Sachsen | |
| hat sie fast die Hälfte ihrer Mandate eingebüßt. Auch in Brandenburg droht | |
| bei der Wahl in einer Woche das Aus, in den letzten Umfragen stehen die | |
| Grünen bei 4,5 bis 5 Prozent. Mit den Parlamentssitzen gehen Macht, | |
| Personal und Geld verloren – ein Problem gerade auf dem Land, wo die Grünen | |
| ohnehin schwach vertreten sind. | |
| ## Drei Wahlkämpfe kosten viel Kraft | |
| Zumindest etwas Gutes hat der Gegenwind aber: Das Interesse am Osten ist in | |
| der Partei so groß wie lange nicht. Auf dem Parteitag im letzten Herbst | |
| hatte der Bundesverband die Kreisverbände aufgerufen, Partnerschaften | |
| zwischen West und Ost zu bilden. In den letzten Wochen sind Hunderte | |
| Mitglieder und etliche Abgeordnete nach Sachsen, Thüringen und Brandenburg | |
| gereist. Manche Grüne nahmen sich sogar wochenlang Urlaub oder verlegten | |
| ihr Homeoffice, um vor Ort anzupacken. | |
| Sie helfen dort, wo die Grünen ihre Wahlkämpfe traditionell mit wenigen | |
| Leuten stemmen müssen und wo mittlerweile viele ausgelaugt sind. Der | |
| Europa- und Kommunalwahlkampf hat den Mitgliedern dieses Jahr schon viel | |
| abverlangt, und dann hat sich der Einsatz vielerorts nicht mal ausgezahlt. | |
| Der Rechtsruck nagt an den Reserven. Die Unterstützung aus dem Westen, | |
| heißt es aus der Partei, ist da eine große Hilfe. | |
| „Für manche von unseren Leuten ist das ein Grund, überhaupt in den | |
| Wahlkampf zu starten“, sagt Carolin Poensgen, die [3][als | |
| Kreisgeschäftsführerin die wenigen Fäden der Grünen in Senftenberg | |
| zusammenhält]. „Wenn extra Besuch aus Recklinghausen kommt, müssen wir ja | |
| was machen.“ | |
| 36 Mitglieder hat die Partei im Landkreis, rund 10 davon sind regelmäßig | |
| aktiv, alle neben ihren Jobs und manche neben der Familie. Zu wenig für | |
| einen effektiven Wahlkampf in einer Region, die flächenmäßig so groß ist | |
| wie Berlin und München zusammen. Sie haben es zwar geschafft, ihre Plakate | |
| aufzuhängen, sogar in den Orten ohne Grünen-Mitglieder. Der letzte | |
| Social-Media-Eintrag auf den Parteikanälen ist aber zwei Monate alt. | |
| ## Hilfe aus Recklinghausen | |
| Fliegt die Partei aus dem Landtag, ist die Geschäftsstelle in der | |
| Bahnhofsstraße in Gefahr. Der Kreisvorstand hat schon nachgerechnet: An | |
| drei Tagen die Woche, so wie jetzt, könnten sie auf keinen Fall mehr | |
| öffnen. Vielleicht kriegen sie noch die Miete zusammen. Am | |
| Wahlkampfmaterial müssten sie dann aber sparen. Büro oder Plakate – nach | |
| der Landtagswahl ist das vielleicht die Frage. | |
| Der Kreisverband Recklinghausen, zwischen Ruhrpott und Münsterland gelegen, | |
| hat über 500 Mitglieder und kam bei der Europawahl auf knapp 10 Prozent. | |
| Nicole Uschmann, die Vorsitzende, hatte den Aufruf auf dem letzten | |
| Parteitag gehört. „Das müssen wir machen“, habe sie sofort gedacht – we… | |
| sie sah, wie wenige Leute für die Ostverbände auf der Bühne standen, und | |
| weil sich schon abzeichnete, dass die AfD bei den Wahlen weiter zulegt. | |
| „Das kann bei uns auch noch kommen“, sagt sie. „Warum sind die dort schon | |
| einen Schritt weiter? Man findet das am besten raus, wenn man hinfährt.“ | |
| Auf Senftenberg sind sie im Kreisverband dann gekommen, weil beide Regionen | |
| etwas gemeinsam haben. Die Lausitz ist wie das Ruhrgebiet eine Kohleregion. | |
| Der Strukturwandel trifft beide, im Westen sind sie nur etwas weiter. | |
| Gegen 9 Uhr trifft der Trupp auf dem Marktplatz ein, als Stand dient ein | |
| Lastenrad mit großem Grünen-Logo. CDU und SPD sind nicht am Platz. Am | |
| meisten Raum hat sich die AfD genommen, gleich vorne an der Kreuzung, wo | |
| jeder vorbei muss. Daneben stehen die Freien Wähler und das BSW. | |
| Die zwei Wagenknecht-Männer, ehemalige Linke, grüßen freundlich. Man kennt | |
| sich. So viele Grüne auf einem Haufen haben sie aber noch nie gesehen. | |
| „Bündnis 90 gab’s damals auch in Senftenberg“, sagt einer der beiden. �… | |
| sind aber alle nicht lange dabeigeblieben. Hat nicht gepasst.“ Einer, der | |
| in der DDR als Bürgerrechtler auf der Straße war, saß für die Grünen über | |
| 30 Jahre im Stadtrat von Senftenberg. Parteimitglied ist er bis heute | |
| nicht. | |
| ## Das grüne Milieu fehlt vielerorts | |
| Was den Gästen aus Recklinghausen als erstes auffällt: Es macht nichts, | |
| dass sie ohne die kleinen Windräder gekommen sind. Eigentlich wollten sie | |
| die Werbeartikel mitbringen, aus dem Europawahlkampf hatten sie welche | |
| übrig. Vor der Abfahrt haben sie dann aber den Schlüssel zum Lagerraum | |
| nicht gefunden. | |
| Machen sie zu Hause Wahlkampf, gehen die Windräder als erstes weg. Der | |
| Markt am Wochenende ist dort ein Hotspot für Familien. Die Eltern haben | |
| zwar keine Zeit für Gespräche, aber die Kinder lieben die Dinger. In | |
| Senftenberg dauert es eine halbe Stunde, bis der erste Vater einen | |
| Kinderanhänger am Stand vorbeizieht. Neben dem Jungen im Wagen steckt schon | |
| ein Flyer der AfD. | |
| Auch in Recklinghausen ist die Bevölkerung seit den Neunzigern geschrumpft, | |
| das Durchschnittsalter liegt dort aber immer noch vier Jahre unter dem in | |
| Senftenberg. Seit der Wende haben Millionen Menschen das Gebiet der | |
| ehemaligen DDR verlassen. Die Weggezogenen waren oft jung, gut gebildet und | |
| weiblich. Die Grünen sind eine Milieupartei, doch das Milieu, das sie | |
| trägt, fehlt im Osten vielerorts. | |
| Als einer der ersten tritt an diesem Tag ein Rentner im Camp-David-Shirt an | |
| den Grünen-Stand. „Der Fischer hat erst Polizisten verprügelt und ist dann | |
| Außenminister geworden“, sagt er. | |
| Betretene Blicke hinter dem Lastenrad. „Das war vor unserer Zeit“, murmelt | |
| einer. | |
| „Ich fand’s gut. Da war noch Power dahinter“, sagt der Rentner. Und dann | |
| weiter: „Schlimm ist das mit der AfD.“ | |
| Jetzt tauen die Gäste auf. „Was glauben Sie, warum die Leute AfD wählen? | |
| Würde mich mal interessieren“, fragt Nicole Uschmann. | |
| „Die haben keinen Grund. Den Leuten geht es doch nicht schlecht hier“, | |
| antwortet der Mann. Das ist natürlich eine Frage der Perspektive. | |
| Vergleicht man das Durchschnittseinkommen deutscher Landkreise, liegt die | |
| Region um Senftenberg im letzten Viertel. Der Kreis Recklinghausen liegt | |
| aber noch weiter hinten. | |
| Die Unterhaltung gestaltet sich dann jedenfalls sehr freundlich, es geht um | |
| die Auflagen für Angler in Deutschland und um die Nationale Volksarmee, die | |
| den Camp-David-Mann einst nicht nehmen wollte, weil seine Verwandten einen | |
| Ausreiseantrag gestellt hatten. „Wollen Sie noch Knete für die Enkel?“, | |
| fragt Uschmann den Mann zum Abschied. „Hören Sie auf, wir haben so viel | |
| Knete daheim!“, antwortet er. „Aber viel Erfolg, euer Engagement ist gut!“ | |
| ## Ein grüner Tankstellenbetreiber | |
| Der Vormittag auf dem Markt zeigt aber auch, warum es die Grünen in diesem | |
| Wahlkampf so schwer haben. Der nächste Passant, kurz vor dem Rentenalter, | |
| nimmt sich einen Flyer vom Stand und scannt das Programm. „Klingt ja | |
| wirklich gut“, sagt er dann. „Mir ist das zu eng an den fünf Prozent.“ D… | |
| ist er weg. | |
| Bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen haben die Grünen die meisten | |
| Stimmen an die CDU verloren. Die Union hatte auch um deren Wähler*innen | |
| geworben: Sie müssten verhindern, dass die AfD stärkste Kraft wird. In | |
| Brandenburg spitzt die SPD den Wahlkampf zu. Ministerpräsident Woidke hat | |
| angekündigt, dass er zurücktritt, falls seine Partei hinter den | |
| Rechtsextremen landet. Den Grünen hier kann das Stimmen kosten. | |
| Und natürlich machen ihnen auch ihre Inhalte Probleme. Kein Thema ist an | |
| diesem Vormittag zwar [4][der Kohleausstieg, den die Grünen in Brandenburg | |
| vorziehen wollen]. Über die Ausländer gibt es auch nur ein paar | |
| Beschwerden. Der Krieg in der Ukraine – der kommt aber immer wieder. | |
| Etwas im Hintergrund hält sich Heiko Richter. Er ist erst seit einem halben | |
| Jahr bei den Grünen, auch für ihn ist es der erste Wahlkampfstand. Er | |
| betreibt aber eine Tankstelle in der Nachbarstadt, und dort, sagt er, halte | |
| er schon lange dagegen, wenn sich Kunden über Flüchtlinge, über die | |
| Energiewende oder eben über die Ukraine beschweren. Das gehe ganz gut. Zum | |
| Tanken kämen trotzdem noch alle. | |
| Früher war er bei der Grenztruppe, erzählt Richter weiter, den Mauerfall | |
| habe er am Checkpoint Charlie in Berlin erlebt. Davor war er an der | |
| Offiziersschule in Suhl. „Wir haben gelernt, was jeder im Warschauer Pakt | |
| gelernt hat. Wie man angreift, wie man sabotiert, wie man sich auch den | |
| Rest Europas einverleibt. Putin wurde das damals auch beigebracht und heute | |
| weicht er keinen Millimeter von der Doktrin ab“, sagt er. Das geht also | |
| auch: Aus einer Ostbiografie heraus begründen, warum die Ukraine noch mehr | |
| Waffen bräuchte. Allerdings ist Richter damit in der Minderheit. | |
| ## Früher war es besser | |
| Die Antifa sieht das anders. Die Antifa heißt hier Alexander. Er will | |
| seinen Nachnamen nicht nennen und wohnt in einem Dorf in der Umgebung. Mit | |
| seiner Fahne steht er schon den ganzen Morgen auf dem Markt: Er will der | |
| AfD zeigen, dass es noch Menschen gibt, die anders ticken als sie. | |
| Seit ein, zwei Jahren sind die Rechtsextremen seine größte Sorge. Schon | |
| davor sei er auf Demos gegangen, gegen den Überwachungsstaat und gegen | |
| Atomkraft. Er isst kein Fleisch, hat kein Auto, und seitdem es das | |
| 49-Euro-Ticket gibt, fährt er fast jedes Wochenende nach Kreuzberg. Das | |
| braucht er als Ausgleich zum Alltag in Brandenburg. | |
| Alexander ist ein prädestinierter Grünen-Wähler. Aber wenn es um den Krieg | |
| geht, sprudelt es aus ihm heraus: Schon in der Schule war ihm der | |
| Wehrkundeunterricht zuwider. Nach der Wende wollte er nicht zur Bundeswehr. | |
| Und als sich der Warschauer Pakt auflöste, dachte er, die Nato müsse jetzt | |
| nachziehen. Tat sie aber nicht. | |
| [5][Die Grünen wählt er seit dem Kosovokrieg nicht mehr]. Durch den | |
| Ukrainekrieg kommt alles wieder hoch. „Was für eine Doppelmoral“, sagt er. | |
| „Dort verteidigen wir angeblich Werte, aber an Saudi-Arabien verkaufen wir | |
| Waffen und die Amerikaner unterstützen wir bei allen möglichen | |
| Angriffskriegen.“ So gehe es hier vielen, die anderen zögen nur andere | |
| Schlüsse als er. Wen er noch wählen soll, weiß Alexander nicht. | |
| Am Grünen-Stand gerät derweil Anne Zimmermann, die zum ersten Mal für die | |
| Partei auf dem Markt steht, mit dem nächsten Rentner aneinander. | |
| „Man greift doch kein anderes Land an. Das ist Pfui!“, sagt sie. | |
| „Putin möchte die Vorherrschaft der Amerikaner in der Ukraine unterbinden. | |
| Kyjiw ist die Wiege der Russen“, antwortet der Rentner. „Die sind ja | |
| eigentlich Bruderstaaten.“ | |
| „Und einen Bruderstaat greift man an?“, fragt Zimmermann. | |
| „Sie haben mir nicht zugehört!“, ruft der Rentner. | |
| Irgendwann wechselt die Grüne das Thema, sie will lieber über die | |
| Energiewende sprechen, aber erfolgreicher wird das Gespräch trotzdem nicht | |
| („Das geht technisch doch gar nicht!“ – „Doch!“ – „Nein!“). | |
| Mit einem komplizierten Fall hat es währenddessen auch Nicole Uschmann aus | |
| Recklinghausen zu tun. Ein weiterer Rentner, natürlich, hat das Gespräch | |
| mit dem Vorwurf begonnen, die Grünen hätten ihm 50.000 Euro geklaut. Wie | |
| genau sie das gemacht haben, findet Uschmann nicht heraus, aber nach ein | |
| paar Minuten hört sie zumindest, was den Mann eigentlich bedrückt: In | |
| seinem Garten hegt er Pflanzen, die dort schon sein Großvater angebaut hat. | |
| Er macht sich Sorgen, ob er sie auch noch seiner Enkelin wird zeigen | |
| können. Weil er nicht weiß, ob er das Haus halten kann, und weil es sein | |
| kann, dass die Kinder wegziehen. | |
| Ein Anruf bei Uschmann ein paar Tage nach dem Wochenende in Senftenberg: | |
| Was ist bei ihr am stärksten hängengeblieben? „Früher war es besser und die | |
| Zukunft wird schlechter, das Thema kam immer wieder“, sagt sie. Die Leute | |
| hätten eine diffuse Angst, etwas zu verlieren. Die Erzählung, dass alles | |
| besser werde, funktioniere nicht mehr. Es bringe dann auch nichts, ihnen | |
| etwas vorzumachen. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Leute dort | |
| politikverdrossener sind. Im Gegenteil. Aber sie haben keinen Bock mehr, | |
| etwas versprochen zu bekommen, was nicht eintreten wird.“ | |
| Am Nachmittag geht es nicht mehr zurück auf den Marktplatz, sondern um den | |
| Senftenberger See herum, der mal ein Tagebau war und schon zu DDR-Zeiten | |
| geflutet wurde. In den Dörfern am Ufer wollen die Grünen Flyer in die | |
| Briefkästen werfen. „Bitte nicht in die mit Aufklebern gegen Werbung“, | |
| mahnt Geschäftsführerin Poensgen. In der Landeszentrale gab es in den | |
| letzten Wochen schon massive Beschwerden. | |
| Das grüne Lastenrad ist wieder dabei, dazu ein paar Leihräder für die | |
| Gäste. Heiko Richter, der Mann von der Tankstelle, hat sich für sein | |
| Mountainbike eine Lenkertasche gekauft, in die die Flugblätter genau | |
| reinpassen. „Radfahrer absteigen“, steht auf einem Schild, das der Konvoi | |
| am Stadthafen passiert. „Radfahrer absteigen“, knurrt ein Rentner, der | |
| dahinter mit seinem Rollator den Weg quert. | |
| Der erste Ort auf der Strecke heißt Kleinkoschen. Dort stehen hübsche | |
| Einfamilienhäuser, einige mit Solaranlagen auf dem Dach, eines sogar mit | |
| Wärmepumpe und E-Auto in der Einfahrt. | |
| „Ist die AfD hier auch stark?“, fragt Nicole Uschmann. | |
| Anne Zimmermann nickt. 31,2 Prozent waren es bei der Europawahl, nur 4 | |
| Prozentpunkte weniger als im Landkreis insgesamt und doppelt so viel wie in | |
| Recklinghausen. | |
| „Krass“, sagt Uschmann. „Das ist so behütet hier. Ist das der blanke | |
| Rassismus? Oder die Angst vor dem Abstieg?“ | |
| Zimmermann erzählt vom hohen Altersschnitt, von der Wende und den zwei | |
| Wellen der Arbeitslosigkeit in den Neunziger- und Nullerjahren. „Das ist im | |
| Gedächtnis und sobald jemand Unruhe stiftet, wie die AfD, kocht es wieder | |
| hoch“, sagt sie. | |
| ## Betrunkene pöbeln die Grünen an | |
| Der nächste Ort heißt Großkoschen. Am Ufer mündet der Radweg in einen | |
| Gehweg. Die Grünen erwischen die Abfahrt nicht. Und dann wird es plötzlich | |
| hektisch: Der Konvoi wird blockiert. | |
| Männer mit Bierdosen in der Hand haben die Räder bemerkt. Die Gruppe war | |
| gerade aus einem Ausflugsbus mit Kennzeichen des Nachbarkreises gestiegen. | |
| Drei von ihnen bauen sich jetzt auf dem Gehweg auf und blöken los. Es geht | |
| ihnen um die Einhaltung der Verkehrsregeln einerseits und um das Lastenrad | |
| mit dem Parteilogo andererseits. Sie wollen den Grünen keinen Raum lassen. | |
| Aber die Grünen, zumindest die aus Recklinghausen, wollen den Raum auch | |
| nicht hergeben. „Ich schmeiß’ dich in den See“, brüllt einer der Ausfl�… | |
| einem der Westdeutschen ins Gesicht, als der den Gehweg partout nicht | |
| verlässt. Ein anderer Grüner hat da schon die 110 am Telefon. Alles riecht | |
| nach der nächsten Schlagzeile. „Grüne in Brandenburg angegriffen.“ | |
| Es geht dann doch gut aus. Der nüchterne Teil der Ausflugsgruppe ruft die | |
| eigenen Männer zurück, Geschäftsführerin Poensgen leitet den letzten | |
| West-Grünen auf die Straße, der Konvoi kann weiterfahren. Die Polizei lässt | |
| sich zwar nicht so schnell abwimmeln. Wenn sie das Stichwort Wahlkampf | |
| hört, ist sie mittlerweile auf Zack. Aber als die Beamten nach ihrem | |
| fünften Rückruf nicht mehr durchkommen, weil die Grünen mittlerweile eine | |
| Badepause eingelegt haben und auf ihrer Rast keinen Handyempfang haben, | |
| holen auch sie ihre Streife zurück. | |
| „Ich habe in Gelsenkirchen gearbeitet, ich habe schon Schlimmeres erlebt“, | |
| sagt Nicole Uschmann. „Bei mir stand mal ein Nazi im Büro“, sagt ein | |
| anderer aus ihrer Delegation, der zu Hause in Nordrhein-Westfalen im | |
| Landtag sitzt. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt etwas leiser Heiko | |
| Richter, der Tankstellenpächter aus dem Kreis. Er ist aber auch noch nie | |
| mit zehn anderen Grünen und einem Lastenrad durch die Gegend gefahren. | |
| ## Schwieriges Mindset | |
| Was war nun in Senftenberg anders als in Recklinghausen? „Eigentlich | |
| vereint uns mehr, als uns trennt“, sagt Uschmann in dem Telefonat unter der | |
| Woche. „Hier wie dort kennen es die Leute, dass ihnen etwas genommen wurde, | |
| worauf sie stolz waren.“ Im Ruhrgebiet bleibe immerhin noch der Kult um die | |
| eigene Bergbaugeschichte. Im Osten nur das Gefühl, dass man einverleibt | |
| wurde. Und was kann man da im Wahlkampf machen? „Bei denen, die mit 150 | |
| Prozent reingehen: Einfach mal reden lassen. Die wollen erzählen. Die haben | |
| was. Es bringt nichts, wenn wir die mit Sachargumente volllabern.“ | |
| Am Samstagvormittag auf dem Marktplatz gibt es noch so einen speziellen | |
| Fall: „Alles für Deutschland“, sagt am Stand ein Rentner mit Hut zur | |
| Begrüßung. Die verbotene SA-Lösung, für die kürzlich Björn Höcke verurte… | |
| wurde. „Habe ich nur zitiert. Ist ja verboten.“ | |
| „Das hat ja auch einen historischen Hintergrund“, sagt Jan Matzoll, der | |
| Landtagsabgeordnete aus Recklinghausen. | |
| Der Hutrentner wechselt das Thema, kommt auf den Nahostkonflikt: „Die | |
| Juden, denen man so viel angetan hat, machen jetzt dasselbe.“ | |
| Dahinter stecke jetzt aber ein schwieriges Mindset, erwidert Matzoll. | |
| Der Hutrentner wechselt wieder das Thema: „In Schwarzheide hatten wir ja | |
| einen Betrieb mit sowjetischen Wissenschaftlern. Sind Sie von hier?“ – „I… | |
| bin Abgeordneter in Nordrhein-Westfalen.“ – „Ein Berufspolitiker! Die | |
| Elite!“ Der Rentner zieht die Vokale in die Länge. | |
| Matzoll könnte das Gespräch jetzt beenden, offensichtlich führt das hier zu | |
| nichts. Aber er hat Zeit, der Stand ist gut besetzt, und deshalb bleibt er | |
| dran. Fast eine Stunde lang wird er sich mit dem Mann unterhalten. | |
| Thematisch springen sie hin und her: Mal geht es um den Buddhismus in | |
| Tibet, dann um den alten polnischen Landadel und zwischendurch auch um die | |
| Wende und die Treuhand. Ob er danach anders über die Grünen denkt als | |
| zuvor? „Nö“, sagt der Rentner beim Abschied. | |
| War das Gespräch nicht vergeudete Zeit? „Nein“, sagt Matzoll. „Ich habe … | |
| nicht überzeugt. Aber vielleicht erzählt er jemandem, dass er einen Grünen | |
| aus dem Westen getroffen hat, der auch nicht findet, dass bei der Wende | |
| alles super gelaufen ist. Wäre doch schon mal was.“ | |
| Zwischendurch hatte der Mann mit dem Hut erwähnt, dass er die Grünen noch | |
| nie auf dem Marktplatz gesehen habe. Er wollte schon mal in das Büro in der | |
| Bahnhofstraße gehen, aber immer, wenn er vorbei kam, war es geschlossen. | |
| Die Grünen kannte er bisher nur aus dem Fernsehen. Der Abgeordnete aus | |
| Recklinghausen war der erste von ihnen, den er in echt erlebt hat. | |
| Wenn es blöd läuft, war er aber auch der Letzte. | |
| 14 Sep 2024 | |
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| Tobias Schulze | |
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