# taz.de -- Grüner Nouripour zur Energiekrise: „Wir halten am Atomausstieg f… | |
> Grünen-Co-Chef Omid Nouripour bekräftigt im taz-Interview das Festhalten | |
> der Partei am Atomausstieg: „Wir werden sicher keine neuen Brennstäbe | |
> bestellen.“ | |
Bild: Freude auf den ersten analogen Bundesparteitag seit 2019: Grünen-Co-Chef… | |
taz: Herr Nouripour, am Freitag beginnt der Bundesparteitag der Grünen. | |
Macht er Ihnen große Sorgen? | |
Omid Nouripour: Ich spüre große Vorfreude. Es ist der erste richtige | |
Parteitag seit 2019, danach war alles nur digital oder hybrid. Jetzt kommen | |
wir wieder zusammen. Und ich freue mich sehr darauf, viele alte und neue | |
Gesichter zu sehen, miteinander zu diskutieren, zu lachen und auch ein | |
bisschen feiern zu können – zum Beispiel die erfolgreichen Landtagswahlen, | |
zuletzt die in Niedersachsen. | |
Vor der Party kommen erst mal die Debatten, und die könnten hart werden. | |
Die Zahl der Kompromisse, die für Grüne schwer zu ertragen sind, hat | |
zuletzt noch mal zugenommen. [1][Irgendwann trägt die Partei vielleicht | |
nicht mehr alles mit.] | |
Diskussionen sind notwendig, deswegen führen wir sie auch durchgehend. Wir | |
haben seit Monaten jede Woche mehrere Calls mit den Landesverbänden. Wir | |
kommunizieren über alle Ebenen hinweg, erklären Entscheidungen und holen | |
Meinungsbilder ab. Auch am Wochenende wird es Diskussionen und Abstimmungen | |
über den richtigen Weg geben. Insgesamt spüre ich aber eine große | |
Geschlossenheit. | |
Auch in der Frage der Atomkraft? | |
Wir sind die Anti-Atom-Partei. Wir werden sicher keine neuen Brennstäbe und | |
damit neuen Atommüll bestellen. Was Robert Habeck und Steffi Lemke gerade | |
vorbereiten, ist eine Reserve für den Notfall, damit in Süddeutschland die | |
Netzstabilität erhalten bleibt. Was ist denn die Alternative? Nichts tun | |
und die Energiesicherheit aufs Spiel setzen? Wir halten am Atomausstieg | |
fest und zugleich ist die Breite der Partei nicht im großen Clinch mit dem | |
Reservebetrieb. Wir haben über 40 Jahre gewartet. Drei Monate machen nicht | |
den Unterschied. | |
In der Koalition stellt sich die [2][FDP quer, weil sie mehr als drei | |
Monate Reservebetrieb will.] Könnten die Grünen doch noch einknicken? | |
Nein. Der Atomausstieg steht. Aber es geht jetzt kurzfristig darum, wie wir | |
über den Winter kommen. Ich bin irritiert darüber, dass Absprachen über ein | |
so wichtiges Thema wie die Netzstabilität in Süddeutschland nach | |
Wahlergebnissen nicht mehr gelten sollen. Das ist kein Spiel. Auch mit dem | |
Zeitplan darf man nicht spielen, die Betreiber brauchen Planungssicherheit. | |
Wie sicher sind Sie sich, dass die Reserve am Ende wirklich benötigt wird? | |
Sicher bin ich nicht. Aber die Zahlen aus Frankreich sind eher Anlass zur | |
Sorge. | |
Überarbeiten Sie an dieser Stelle noch den Leitantrag des Bundesvorstands? | |
Darin hatten Sie vor gerade mal vier Wochen geschrieben, es sei sehr | |
unwahrscheinlich, dass die Reserve gebraucht wird. | |
Das schauen wir uns bis zum Parteitag noch mal an. | |
Dass die Grünen ihre Einschätzung so schnell fundamental geändert haben, | |
dient nicht gerade ihrer Glaubwürdigkeit. | |
Was ist denn glaubwürdiger, als Veränderungen in der Realität zur Grundlage | |
eigener Entscheidungen zu machen. Vor vier Wochen hatten uns die Franzosen | |
noch schriftlich gegeben, dass sie eine bestimmte Strommenge produzieren. | |
Nun rechnen sie mit deutlich weniger. | |
Malen Sie sich manchmal aus, was es bedeuten würde, wenn in den drei | |
Monaten Streckbetrieb eines der Atomkraftwerke in die Luft ginge? | |
An Ihrer Frage sieht man doch: Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie und | |
wir werden die AKWs keinen Tag länger laufen lassen dürfen als nötig. | |
Dennoch können wir die Menschen in Bayern nicht mit einem instabilen | |
Stromnetz allein lassen, nur weil die CSU jahrelang ihre Hausaufgaben nicht | |
gemacht hat. | |
Gerade weil es um einen Gründungsmythos der Grünen geht, könnte die Partei | |
wohl dichtmachen, falls es bis März einen Super-GAU gäbe. | |
Bei einem Super-Gau gäbe es wirklich andere Probleme als die | |
Parteienlandschaft. | |
Vergangene Woche hat Robert Habeck mit RWE einen Kompromiss zum | |
Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen vereinbart. Wird die Debatte darüber | |
auf dem Parteitag schwieriger oder einfacher als die zur Atomkraft? | |
Erst einmal: Dass der Kohleausstieg 2030 im Rheinischen Revier kommt, ist | |
ein großer Erfolg – für uns, aber auch für die Klimabewegung. Schmerzhaft | |
ist, dass jetzt kurzfristig mehr Kohle verstromt wird. Aber wir brauchen | |
schnelle Lösungen für diesen und vielleicht für den nächsten Winter. | |
Abgesehen davon geht es darum, jetzt den Ausbau der Erneuerbaren | |
hinzukriegen. In diesem Bereich haben wir trotz Krise schon mehr | |
vorangebracht als die Vorgängerregierungen in den letzten 16 Jahren. | |
Die Klimabewegung ist trotzdem wütend darüber, dass RWE die Kohle unter dem | |
Dorf Lützerath abbauen und verfeuern darf. Es gibt erste Parteiaustritte. | |
Wie gefährlich ist der Unmut der Bewegung für die Grünen? | |
Wir stehen mit vielen aus der Klimabewegung in engem Austausch. Auf der | |
anderen Seite mussten wir aber abwägen: Die Kohlekraftwerke im Westen acht | |
Jahre früher vom Netz nehmen, weniger Kohle verfeuern und mehrere Dörfer | |
retten oder Lützerath als Symbol schützen? In der Abwägung finde ich die | |
erzielte Vereinbarung richtig. | |
Es wird hässliche Bilder geben, wenn die Polizei im Auftrag einer grünen | |
Landesregierung in Lützerath gegen Aktivist*innen vorgeht. | |
Es ist im Sinne aller, dass es eine friedliche Lösung gibt. | |
Auf dem Parteitag wird es auch um die Inflation und deren soziale Folgen | |
gehen. Eine Gruppe um Katrin Göring-Eckardt fordert in einem Antrag eine | |
Vermögensabgabe zur Bewältigung der Krise. Werden Sie dafür stimmen? | |
Richtig ist, dass starke Schultern stärker tragen müssen. Richtig ist aber | |
auch, dass wir kleine und mittlere Unternehmen nicht noch mehr belasten | |
dürfen. Wir sind in guten Gesprächen über eine gemeinsame Formulierung, die | |
das alles zusammenbringt. | |
Eine Vermögensabgabe mit Ausnahmen für Betriebsvermögen also? | |
Wie gesagt: Wir sind darüber im Gespräch. | |
Laut einer Umfrage trauten in Niedersachsen nur 3 Prozent der | |
Wähler*innen Ihrer Partei am ehesten zu, die hohen Preise zu bekämpfen. | |
Liegt es an der Schwäche in sozialen Fragen, dass die Grünen bei der | |
Landtagswahl schlechter abgeschnitten haben als in Umfragen aus dem Sommer? | |
Es ist unser Job, alles dafür zu tun, dass Energie bezahlbar und die | |
Inflation beherrschbar bleibt. Deshalb haben wir auf gezielte Maßnahmen für | |
die unteren Einkommensgruppen gedrängt – mit Erfolg. Unter anderem gibt es | |
mehr Geld für Kinder, Familien, Wohngeldempfänger, wir haben in der Ampel | |
auch die Anhebung des Mindestlohns durchgesetzt. Die Energiepreise hingegen | |
bleiben nur auf einem Weg dauerhaft bezahlbar: durch den Ausbau der | |
Erneuerbaren. Deshalb haben wir hier das Tempo massiv erhöht. | |
Welche Möglichkeiten bleiben den Grünen nach Doppelwumms und Gaspreisbremse | |
aber unmittelbar noch, um ihr soziales Gewissen zu demonstrieren? | |
Wir sorgen in der Ampel für eine gute Sozialpolitik. Einerseits entlasten | |
wir kurzfristig. Dafür haben wir bisher drei Entlastungspakete in Höhe von | |
95 Milliarden Euro beschlossen. Wir haben die Wohngeldreform, die vielen | |
Einmalzahlungen, die Regelsatzerhöhung beim Bürgergeld und vieles mehr | |
herausverhandelt. Da ist also viel geschafft. Andererseits bleibt natürlich | |
noch etliches zu tun, und das geht über die Inflationsbekämpfung hinaus. | |
Nach 16 Jahren Entscheidungsstau stellt sich die Frage: Wie machen wir das | |
Land krisenfest? Das betrifft auch strukturelle Herausforderungen wie den | |
Einsatz gegen Kinderarmut. Ein zentrales Projekt dafür ist die | |
Kindergrundsicherung, die die Familienministerin in dieser Legislatur auf | |
den Weg bringt. Und natürlich müssen wir über die Finanzierung reden, das | |
betrifft auch die Schuldenbremse. | |
Aber es gibt doch jetzt den kreditfinanzierten 200-Milliarden-Topf. | |
Die 200 Milliarden sind ein Riesenschritt nach vorne, damit schützen wir | |
die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die vielen kleinen und mittleren | |
Unternehmen. Aber wir stehen vor Transformationsaufgaben, die der | |
Abwehrschirm ja nicht umfasst. Das betrifft natürlich die Energiepolitik, | |
aber damit hört es nicht auf. Ganz akut sehen wir das beim Schutz der | |
kritischen Infrastruktur. Fragen Sie mal beim Katastrophenschutz, wie viele | |
Hubschrauber sie zur Verfügung haben. Wir müssen in den Schutz unserer | |
kritischen Infrastruktur investieren, in den Bevölkerungsschutz, aber | |
auch in Bereiche wie die Anpassung an die Klimakrise. Das kostet Geld, ist | |
aber wichtig, damit der Staat weiterhin seine Kernaufgaben erfüllen kann. | |
Die Aussetzung der Schuldenbremse im nächsten Jahr wird mit der FDP aber | |
nicht zu machen sein, schon gar nicht nach deren Wahlniederlage in | |
Niedersachsen. Das hat Christian Lindner sehr deutlich gemacht. | |
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ergebnis in Niedersachsen | |
irgendjemanden auf die Idee bringt, weniger Verantwortung zu übernehmen. | |
Alle im Bund und alle in der Koalition wissen, dass wir in schwierigen | |
Zeiten handeln müssen. | |
Letztes Thema für den Parteitag: Außenpolitik. [3][Die Bundesregierung hat | |
vergangene Woche den Export von Kampfjet-Zubehör nach Saudi-Arabien | |
genehmigt.] In einem breit getragenen Dringlichkeitsantrag gibt es daran | |
starke Kritik. | |
Ich halte Lieferungen an Saudi-Arabien angesichts der dortigen | |
Menschenrechtslage und der Lage im Jemen grundsätzlich für falsch. Egal, | |
wer liefert. Gleichzeitig müssen wir im Rüstungsbereich europäischer werden | |
und wir haben es in Europa mit Partnern zu tun, die in der Frage ganz | |
anders denken als wir. Der deutsche Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien | |
bleibt. Die Frage ist, wie wir ihn ausgeweitet bekommen auf europäische | |
Gemeinschaftsprojekte, um die es in der jüngsten Entscheidung ging. | |
Wie könnte ein Kompromiss aussehen? | |
Darüber sprechen wir gerade. Im jüngsten Fall ging es ja um Altverträge, | |
die noch auf eine Entscheidung der GroKo zurückgehen. Entscheidend für die | |
Zukunft wird sein, wie wir ein Rüstungsexportgesetz ausgestalten. Davon | |
unbenommen empfinde ich es als misslich, dass die Bundesregierung nicht | |
auch öffentlich machen darf, welche Exportanträge sie bisher schon alle | |
abgelehnt hat. | |
Vor Ihrem Amtsantritt sagten Sie uns in einem Interview, dass Sie den | |
Grünen-Vorsitz als Scharnier sehen würden: Sie erklären der Partei das | |
Regierungshandeln und tragen umgekehrt Wünsche der Partei an die grünen | |
Kabinettsmitglieder heran. Gerade haben Sie aber vor allem in eine Richtung | |
argumentiert: Sie werben um Verständnis für die Nöte Ihrer Minister*innen. | |
Ich habe ja gerade gesagt: Jede einzelne Lieferung, die Saudi-Arabien | |
nutzt, um weiter Krieg im Jemen zu führen, ist eine zu viel. Trotzdem | |
bleibt es dabei, dass es europäische Partner gibt, die weiter in diese | |
Länder liefern wollen. Ich könnte zwar mit einer Justitia-Waage nach Leuten | |
schmeißen. Am Ende löse ich damit aber kein Problem. Ich kann versichern, | |
dass wir dazu auf allen Ebenen der Partei in einem ständigen offenen | |
Austausch sind. | |
11 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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