# taz.de -- Green Deal der EU: Die Revolution der Eurokraten | |
> Die EU-Kommission hat Vorschläge für den Green Deal präsentiert. Der | |
> Kampf um das Ende des fossilen Regimes wird die nächsten Jahre prägen. | |
Bild: Windkraftwerk bei Marsberg im Sauerland | |
Nein, nein, versichert die Mitarbeiterin von EU-Kommissar Frans Timmermans, | |
„der Termin war wirklich reiner Zufall“. Das „[1][Fit for 55“-Paket] f�… | |
den Klimaschutz stellte die EU-Kommission in Brüssel am 14. Juli vor, dem | |
französischen Nationalfeiertag. Dass die Abschlusssitzung der Kommission | |
ausgerechnet an diesem Tag stattfand, ist ein historisch durchaus passender | |
Zufall: Was die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, umringt von | |
sechs KommissarInnen, in dieser Woche präsentierte, ist tatsächlich so | |
etwas wie eine Revolution. | |
Es ist der Fahrplan für eine grundlegende Neuordnung von Wirtschaft und | |
Politik in Europa. Es ist ein Wagnis, das bereits jetzt viele Gegner hat | |
und eine Vision für eine bessere Zukunft. Es geht um jede Menge ungelöster | |
Probleme und ein deutliches Signal in die Hauptstädte der EU, an den Rest | |
der Welt und vor allem auch an die Börsen und Vorstandsetagen. | |
Wie es sich für eine Revolution von Eurokraten gehört, beruft sie sich auf | |
Recht und Gesetz: auf das [2][Klimagesetz, vom Europäischen Parlament Ende | |
Juni beschlossen]. Und auf die Entscheidung des Ministerrats vom Dezember | |
2020. Beide haben die neuen Klimaziele der Union zementiert: 55 Prozent | |
weniger Treibhausgase im Jahr 2030 gegenüber 1990 und Klimaneutralität bis | |
2050. | |
Beide Zahlen waren in der EU hart umkämpft, wurden von der deutschen | |
Kommissionschefin vor zwei Jahren bei ihrer Bewerbungsrede angestoßen und | |
von der deutschen Kanzlerin in ihrer Ratspräsidentschaft 2020 endgültig | |
durchgesetzt. „Viele der Premiers und Präsidenten haben nicht verstanden, | |
welche Konsequenzen das hat, was sie unterschrieben haben“, sagt ein | |
ehemaliger ranghoher EU-Beamter. | |
Seit Mittwoch können sie es nun schwarz auf weiß in den Vorschlägen der | |
Kommission lesen (siehe weiter unten). 12 Gesetze, Verordnungen und | |
Richtlinien der EU sollen geändert werden, um einen der größten | |
Binnenmärkte der Welt mit 445 Millionen EinwohnerInnen fit zu machen für | |
die Herausforderungen der Klimakrise. Das „Freiheit, Gleichheit, | |
Brüderlichkeit“ der französischen Revolution heißt jetzt Klimaschutz, | |
Wachstum und Zusammenhalt der EU. „Europa ist der erste Kontinent, der | |
einen umfassenden Rahmen präsentiert, um unsere Ziele zu erreichen“, sagt | |
von der Leyen. | |
Ausgerechnet die EU, dieses seltsame Gebilde aus Staatenbund, ökonomischem | |
Zweckverband und teilweiser Währungsunion, geteilt und zusammengehalten | |
durch gemeinsame Geschichte und 24 offizielle Sprachen, macht sich nun also | |
auf den Weg zum „ersten klimaneutralen Kontinent“. US-Präsident Joe Biden | |
hat große Pläne für eine klimaneutrale Wirtschaft verkündet, kämpft aber | |
mit seinem Kongress um die Finanzierung. Und China verkündet ein CO2-freies | |
Land für 2060. Aber wie genau das aussehen soll, weiß niemand. | |
Diese europäische Revolution soll umfassend sein, und alles hängt mit allem | |
zusammen. Es seien „viele Baustellen und Konflikte aufgemacht“ worden, | |
meint Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Berliner Thinktanks Mercator | |
Institute on Global Commons and Climate Change. Es drohten | |
Auseinandersetzungen mit Osteuropa über den zweiten Emissionshandel, in der | |
Außenpolitik durch den Grenzausgleich CBAM, mit der Industrie über freie | |
Zuteilung von CO2-Lizenzen, mit den Bauern über die Landwirtschaftsregeln | |
und mit der Autoindustrie über die CO2-Standards. Ihre bange Frage: „Wird | |
die Kommission alle diese Konflikte lösen können?“ | |
Das weiß die Kommission selbst auch noch nicht. Es werde „natürlich | |
verdammt hart, das zu schaffen“, sagt Frans Timmermans. Vizechef der | |
EU-Kommission und zuständig für den Green Deal. Er macht aber auch | |
deutlich, dass die Kommission vom Ziel nicht abrücken wolle. Timmermans | |
weiß, dass der Kampf um die kohlenstofffreie Zukunft Europas jetzt erst | |
anfängt, nachdem er seine Beamten bis zur Erschöpfung durch die Dossiers | |
gehetzt hat. | |
Auch in der Kommission gab es Streit, manche KollegInnen fühlten sich | |
übergangen, Haushaltskommissar Johannes Hahn widersprach offen den Plänen. | |
Timmermans meinte, es sei „klar, dass es in diesem Paket Dinge gibt, die | |
manche nicht mögen.“ Sie könnten gern eigene Vorschläge machen – aber das | |
Ziel müsse bleiben. | |
Wie sehr die „Fit for 55“-Ideen aus Brüssel in den europäischen | |
Hauptstädten und im Parlament angenommen werden, wird sich zeigen. Für alle | |
Änderungen braucht die Kommission die Zustimmung von Europäischem Rat und | |
vom Parlament. Im Idealfall dauert das neun Monate. EU-Insider sind | |
skeptisch. „Das wird sich bis Mitte der 20er Jahre hinziehen“, meint ein | |
altgedienter Experte. Doch die Zeit drängt: Wenn das Paket erst 2025 in | |
Kraft tritt, bleiben nur noch 5 Jahre, um die extrem ehrgeizigen Ziele zu | |
erreichen. | |
Wie viel der Green Deal wie schnell der Umwelt nützt, ist allerdings auch | |
noch unklar. Die Reaktionen der UmweltschützerInnen auf das Paket reichen | |
von „enorm wichtig“ und „wegweisend“ bis „zu vorsichtig“. Die schwe… | |
Klimaaktivistin Greta Thunberg twitterte, „wenn die EU nicht ihr ‚Fit for | |
55‘-Paket zerreißt, hat die Welt keine Chance, unter 1,5 Grad Erwärmung zu | |
bleiben.“ | |
Thunberg hatte 2018 mit ihrem Schulstreik, der daraus erwachsenden Welle | |
von „Fridays for Future“-Protesten in ganz Europa und danach mit ihren | |
öffentlichen Auftritten vor der UNO und der EU maßgeblich dazu beigetragen, | |
dass die EU-Wahlen 2019 eine grüne Welle ins EU-Parlament gespült hatten. | |
Und auch von der Leyens „Mondlandungsprojekt“ für einen Green Deal hätte … | |
ohne die Greta-Mania so wohl nicht gegeben. | |
Sozialdemokrat Timmermans will dafür sorgen, dass bei der grünen Revolution | |
nicht wie sonst immer die Armen unter die Räder geraten. Sein Plan sieht | |
vor, dass ein Viertel der Erlöse aus dem neuen Emissionshandel zu Transport | |
und Gebäuden, immerhin etwa 10 Milliarden jährlich, in einen | |
Klimasozialfonds fließen. | |
Daraus sollen Hilfen finanziert werden, um bei steigenden Energiepreisen | |
niemanden zu überfordern. Ob die EU-Länder diesen Fonds noch einmal wie | |
geplant um die gleiche Summe aufstocken, ist unklar. Die EU hat auch schon | |
mit dem „Just Transition“-Fonds Milliarden ausgelobt, um Kohleregionen den | |
Ausstieg aus dem dreckigen Brennstoff zu erleichtern. Die offizielle | |
Politik aus Brüssel dazu lautet: „Wir dürfen niemanden zurücklassen.“ | |
Das ist sozial gedacht, aber auch realpolitisch. Frankreichs Präsident | |
Emmanuel Macron fürchtet um seine Wiederwahl im nächsten Jahr, vor allem | |
wenn es zu einem Wiedererstarken der „Gelbwesten“-Proteste von 2018 kommen | |
sollte. Deshalb hat Macron hinter den Kulissen gegen den „kleinen | |
Emissionshandel“ agitiert, heißt es in Brüssel. Es ist eine deutsche Idee, | |
die dem Franzosen schaden könne. | |
Frankreich aber wird eine entscheidende Rolle spielen im entscheidenden | |
Frühjahr 2022. Denn dann hat das Land den EU-Ratsvorsitz und es finden | |
Präsidentschaftswahlen statt. Wenn Macron den Elysee-Palast an Marine Le | |
Pen verlieren sollte, würde Frankreich seinen Trump-Moment erleben und auch | |
beim Klimaschutz viele europäische Ideen auf den Misthaufen werfen. Dann | |
könnte es mit dem „Fit for 55“-Paket und dem Green Deal schnell vorbei | |
sein. Die europäische Revolution wäre gescheitert. | |
Eine Auswahl der wichtigsten Neuerungen: | |
## Schnellere Emissionssenkung | |
Das größte und wirksamste Instrument der EU im Klimaschutz soll noch | |
effektiver werden: Der EU-Emissionshandel (ETS). Er reguliert bisher 41 | |
Prozent aller Treibhausgase in der EU, die insgesamt etwa 4 Milliarden | |
Tonnen CO2 im Jahr ausstößt, Deutschland etwa 800 Millionen. | |
Wer in den etwa 11.000 Fabriken und Kraftwerken Europas Kohle, Gas oder Öl | |
verbrennt, muss für jede ausgestoßene Tonne CO2 ein Zertifikat für derzeit | |
etwa 51 Euro kaufen. Seit der Einführung 2005 sind die Emissionen in diesem | |
Bereich um etwa 43 Prozent gesunken – deutlich mehr als die 24 Prozent, die | |
die gesamte EU vorzuweisen hat. | |
Das soll nun noch schneller gehen. Anders als bei Maßnahmen im Verkehr oder | |
bei Gebäuden sind hier schnell CO2-Reduzierungen durchzusetzen. Bisher | |
senkt die EU die Obergrenze der ETS-Zertifikate jedes Jahr um 2,2 Prozent. | |
Nach den Vorschlägen der Kommission soll sich dieses Tempo verdoppeln, der | |
Faktor auf 4,2 Prozent steigen. Gleichzeitig sollen auf einen Schlag 117 | |
Millionen Zertifikate gelöscht werden. | |
In der Vergangenheit gab es zu viele, und niedrige Preise verhinderten ein | |
Umschwenken auf saubere Energien. Durch kostenlose Zuteilung von | |
handelbaren Zertifikaten verdienten laut der Umweltgruppe „Carbon Market | |
Watch“ die großen Verschmutzer zwischen 2008 und 2019 ca. 50 Milliarden | |
Euro zusätzlich. Für sie reicht auch die geplante Verschärfung im ETS | |
nicht, um Europa auf das 1,5-Grad-Ziel zu bringen. | |
Trotzdem werden knappe Zertifikate die Preise steigen lassen und fossile | |
Energien aus dem Markt drängen. Der deutsche Kohleausstieg, der von der | |
„Kohlekommission“ für 2038 datiert wurde, könnte durch höhere Preise im … | |
schon 2030 stattfinden. | |
## Der kleine ETS | |
Hier ist Deutschland Vorbild und Problem. Was bei uns als „Emissionshandel“ | |
für Verkehr und Gebäude seit Januar 2021 gilt, soll ab 2026 auch in der EU | |
kommen: Obergrenzen und CO2-Preise für Benzin, Diesel, Heizöl und Gas. | |
Dieser „kleine Bruder“ des ETS sieht in Deutschland bis 2025 Preise bis 55 | |
Euro pro Tonne CO2 vor. EU-weit könnte der Preis bis 2030 auf bis zu 200 | |
Euro klettern. Aber das ist so unklar wie die Frage, ob, wann und wie der | |
kleine mit dem großen ETS zusammengeführt wird. | |
Hier muss sich die EU dringend etwas einfallen lassen. Bei Gebäuden, die 40 | |
Prozent des EU-Energieverbrauchs ausmachen, und beim Verkehr sind die | |
Emissionen in den letzten Jahren gestiegen. Das müssten eigentlich die | |
Mitgliedsstaaten im Rahmen der „Aufgabenteilung“ (ESR) selbst regeln. Nach | |
den Projektionen der Kommission verfehlen die EU-Staaten aber die für sie | |
gesetzten Klimaziele im ESR schon in den nächsten Jahren, wenn der jetzige | |
Trend anhält. | |
Trotzdem ist die Idee mit dem „kleinen ETS“ durchaus umstritten: Weil hier | |
eine deutsche Kommissionspräsidentin mit CDU-Parteibuch etwas für Europa | |
durchsetzt, was auch in Deutschland vor allem die CDU will. Und auch, weil | |
Frankreich die Rückkehr der „Gelbwesten“-Proteste gegen höhere Spritpreise | |
fürchtet. Dem soll ein „Klimasozialfonds“ entgegenwirken, der das Geld aus | |
dem „kleinen“ ETS – man rechnet mit 40 Milliarden Euro jährlich – zu e… | |
Viertel an die Menschen zurückgibt. Die genaue Finanzierung ist noch | |
unklar. | |
Die Kommission plant, 72 Milliarden aus EU-Töpfen und noch einmal so viel | |
aus den EU-Ländern über sieben Jahre für arme Haushalte aufzuwenden, die | |
höhere Preise beim Tanken und Heizen besonders treffen. Ein Teil davon soll | |
allerdings bei der EU verbleiben, um Schulden aus der Coronakrise | |
abzubauen. | |
## Zoll für CO2 | |
Die „Festung Europa“ soll es jetzt auch im Green Deal geben: Mit einem | |
„CO2-Grenzausgleich“ (CBAM) will die EU-Kommission an den Außengrenzen | |
Europas einen Aufschlag auf Produkte erheben, die ohne Rücksicht aufs Klima | |
produziert werden. | |
Damit will Brüssel mehrere Probleme gleichzeitig lösen: die heimische | |
Industrie schützen, die Abwanderung von europäischer Grundstoffindustrie | |
und deren Arbeitsplätzen ins Ausland (Fachbegriff: „Carbon Leakage“, ein | |
CO2-Leck) verhindern und eine erhöhte Klimabelastung durch dreckige | |
Produktion außerhalb der EU unterbinden. | |
Wer also in Zukunft Strom, Stahl, Zement, Chemieprodukte oder Düngemittel | |
nach Europa einführt, wird CO2-Zertifikate kaufen müssen, die den | |
Preisunterschied zwischen EU-Preisen und dem Ausland ausgleichen. Dafür | |
will die EU eine eigene Behörde gründen. Experten fürchten schon ein | |
Bürokratiemonster. | |
Ein solcher „Carbon Border Adjustment Mechanism“ hat aber darüber hinaus | |
seine Tücken. Staaten wie China, Indien oder die Türkei protestieren schon, | |
das sei ungerechtfertigter Protektionismus, der ihre billigeren Produkte | |
aus Europa fernhalten solle. Um diesem Vorwurf entgegenzutreten, muss die | |
EU den CBAM so ausgestalten, dass er mit den Regeln der | |
Welthandelsorganisation WTO übereinstimmt. | |
Und das bedeutet: EU-Unternehmen, die bislang freie Zuteilungen von | |
ETS-Zertifikaten bekommen, um „Carbon Leakage“ zu vermeiden, dürften diese | |
nicht mehr bekommen. Die Kommission überlegt deshalb auch, CBAM langsam | |
einzuführen und die freien Zertifikate bis Mitte der 20er Jahre langsam | |
auslaufen zu lassen. | |
Dagegen wiederum machen die Industrieverbände Front, die beides wollen: | |
CBAM und freie Zuteilung. Die kostenlosen Lizenzen seien „unter keinen | |
Umständen verhandelbar“, verkündete etwa der Bundesverband der Deutschen | |
Industrie BDI, ähnlich äußert sich die EU-weite Lobby „Business Europe“. | |
Für die EU-Kommission ist CBAM kein Protektionismus, sondern ein Anreiz für | |
andere, ebenfalls ein System der CO2-Preise aufzubauen. Am Tag nach der | |
Verkündung des EU-Programms erklärte China immerhin, man werde nun | |
ebenfalls den Emissionshandel einführen. | |
## Mehr Ökotechnik | |
Drei Viertel aller CO2-Emissionen in Europa kommen aus dem Energiesektor. | |
Dort ist also der größte Hebel, um etwas zu verändern: Wind aus der | |
Nordsee, Biomasse aus Osteuropa, Sonnenstrom und grüner Wasserstoff vom | |
Mittelmeer, so könnte der neue grüne Energiemix in Europa aussehen. | |
Dafür hat die EU-Kommission den Anteil von Ökotechniken am gesamten | |
Energieverbrauch noch einmal nach oben geschraubt. Bisher kommen nur etwa | |
15 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Das soll jetzt auf 40 Prozent | |
klettern. | |
Ein ehrgeiziges Ziel, denn das hieße, vor allem die Stromproduktion aus | |
Windparks und aus Solaranlagen in den nächsten Jahren massiv auszubauen. | |
Auch in der Biomasse liegt europaweit großes Potenzial, bisher kommt aus | |
ihr die Hälfte aller grünen Energie. Hier will die Kommission eine | |
nachhaltige Nutzung verabschieden – eine vermehrte Nutzung von Wäldern für | |
Biomasse soll nicht dazu führen, dass etwa die Ziele bei der Artenvielfalt | |
leiden. | |
Insgesamt gilt: Die Technik für Wind und Solar ist bereit, das Geld ist da, | |
aber oft gibt es bürokratische Hürden oder Widerstand der Bevölkerung. | |
Die EU-Regel hat allerdings einen Haken. Sie verpflichtet nur die EU als | |
ganze, nicht etwa einzelne Länder auf bestimmte Quoten für Erneuerbare. | |
Wenn EU-Staaten ihre Kapazitäten nicht ausbauen, kann Brüssel nur auf zwei | |
Dinge hoffen: dass andere Staaten mehr machen. Oder dass die | |
Energieunternehmen in den betreffenden Ländern selbst merken, dass | |
Erneuerbare inzwischen deutlich billiger sind als ihre klimaschädlichen | |
Alternativen. | |
## Vollbremsung für Verbrenner | |
Diese Meldung machte natürlich Schlagzeilen: EU verbietet ab 2035 den | |
Verbrennungsmotor! In der Tat zieht das „Fit for 55“-Paket der | |
EU-Kommission die Zügel für die Abgasregeln bei Pkw und kleinen | |
Nutzfahrzeugen noch einmal kräftig an. Ihr CO2-Ausstoß muss sich nach den | |
neuen Plänen bis 2030 gegenüber heute um 55 Prozent reduzieren. Und bis | |
2035 um satte 100 Prozent. Das heißt: Dann dürfen in Europa nur noch | |
Neuwagen zugelassen werden, die keine Treibhausgase ausstoßen. | |
Das ist eine Vollbremsung für die bisherige Antriebstechnik. Schon bisher | |
sorgten die CO2-Grenzwerte für die Autohersteller in Brüssel immer wieder | |
für Ärger. Denn weil viele Hersteller – mit freundlicher Unterstützung vor | |
allem auch der deutschen Regierung – sich über Jahrzehnte gegen striktere | |
Regeln gewehrt haben, sind die Vorgaben jetzt drastisch. Bisher sollten die | |
Motoren ihren CO2-Ausstoß bis 2030 nur um 37,5 Prozent mindern, jetzt | |
springt diese Anstrengung auf minus 55 Prozent. Autobauer und ihre | |
Dachverbände protestieren schon. Tatsächlich wird es wohl vor allem die | |
Zulieferindustrie treffen und dort Jobs gefährden. Denn E-Autos haben | |
einfachere Motoren und brauchen weniger Wartung als die ausgeklügelten | |
Verbrennungsmotoren, mit denen vor allem die großen deutschen Marken wie | |
BMW und Mercedes bisher ihr Geld verdienen. | |
Doch die Autohersteller haben die Zeichen der Zeit erkannt. Schon bisher | |
drohten empfindliche Geldbußen, wenn die CO2-Grenzwerte der EU gerissen | |
werden. Und auf den wichtigen Exportmärkten der Zukunft wie China und | |
Kalifornien drohen seit langem Quoten für emissionsfreie Fahrzeuge. „In den | |
letzten Wochen haben etwa ein Dutzend Hersteller in der EU angekündigt, | |
zwischen 2028 und 2035 auf emissionsfreie Produktion umzusteigen“, meinte | |
Kommissionschefin von der Leyen. | |
Und die Kommission verspricht auch eine Neuregelung der Infrastruktur für | |
alternative Treibstoffe: Die EU-Länder sollen an ihren Fernstraßen | |
mindestens alle 60 Kilometer elektrische Schnellladesäulen errichten, alle | |
150 Kilometer Tankstellen für Wasserstoff. | |
## CO2-Preise für Luft. und Seefahrt | |
Die EU will mit einem Skandal Schluss machen, der sich seit Jahrzehnten vor | |
aller Augen abspielt: Während für Verbraucher und Industrie CO2-Preise und | |
Regeln gelten, kann die internationale Luft- und Seefahrt fröhlich und | |
praktisch unreglementiert das Klima ruinieren. | |
In der Luft und auf See ist bisher kaum jemand zuständig, aber damit ist es | |
wohl vorbei. Schiffstransporte müssen für ihre Passagen jetzt CO2-Lizenzen | |
erwerben – innerhalb der EU vollständig, wer von außen kommt oder | |
rausfährt, immerhin für die Hälfte seines CO2-Ausstoßes. Ähnlich ist es bei | |
den Flugzeugen. Die unterliegen bisher dem ETS, bekommen aber teilweise die | |
Zertifikate umsonst. Das endet nun. | |
Auch soll in der EU endlich eine Kerosinsteuer erhoben werden. Für den | |
internationalen Flugverkehr sollen die Airlines am Projekt Corsia | |
teilnehmen, das die Airline-Lobby selbst aufbaut. Das aber ist ein extrem | |
weiches Regime, das auch nur den Anstieg der Emissionen durch | |
Ausgleichszahlungen auf null setzen will. | |
Experten warnen schon lange davor, dass Corsia Greenwashing für die | |
Luftfahrtindustrie betreibt. Dazu sollen neue Verordnungen sicherstellen, | |
dass Schiffe in EU-Häfen sauberen Strom bekommen und ihre dreckigen Diesel | |
nicht am Kai weiterlaufen lassen. Flughäfen werden verpflichtet, dem | |
Kerosin immer mehr Biotreibstoffe beizumischen. | |
Ändern will die EU auch die Energiebesteuerung in den Mitgliedstaaten. Die | |
bevorzugt Gas, Öl und Kohle und macht Strom teuer. Das müsse umgedreht | |
werden, und Subventionen für Fossile (etwa die Vergünstigung von Diesel) | |
sollen verschwinden. „Einen Preis auf CO2 und die Dekarbonisierung billiger | |
machen“ will Kommissionsvize Frans Timmermans. Der Haken: Brüssel kann nur | |
Mindestsätze festlegen. Über konkrete Energiesteuern entscheiden die | |
Länder unabhängig. | |
## Weniger Energieverschwendung | |
Auch bei der Vorstellung des „Fit for 55“-Pakets tauchte er wieder auf, der | |
„schlafende Riese Energieeffizienz“. Alle sind sich einig: Wenn die | |
Klimaziele erreicht werden sollen, braucht es nicht nur mehr Öko-Energie, | |
sondern weniger Energieverschwendung. | |
Bisher hat die EU ein Ziel von 32,5 Prozent bis 2030 ausgeschrieben – pro | |
Produkteinheit sollen also 32,5 Prozent weniger Energie eingesetzt werden. | |
Die Staaten sind allerdings auf dem Weg, dieses Ziel zu verfehlen. Deshalb | |
erhöht die EU das Ziel auf 40 Prozent im Jahr 2030. | |
Die Berechnung ist kompliziert, denn es zählen auch Dinge wie der Umstieg | |
auf E-Mobilität, das Design von Produkten oder die Sanierung von Gebäuden | |
dazu. Eine Menge nachgeordneter EU-Vorschriften wie die | |
Ecodesign-Richtlinie sind betroffen. | |
Die öffentliche Hand in der EU ist selbst ein wichtiger Akteur: 5 bis 10 | |
Prozent des gesamten EU-Energiebedarfs kommen von Behörden, die öffentliche | |
Hand gibt in Europa jedes Jahr 1,8 Billionen Euro für Energie aus, das sind | |
14 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Kontinents. Hier will die | |
EU-Kommission Geld und Emissionen einsparen: Jedes Jahr sollen 3 Prozent | |
aller öffentlichen Gebäude in der EU energetisch saniert werden. Das soll | |
die Energierechnung senken, den CO2-Ausstoß mindern und gleichzeitig Jobs | |
im Handwerk schaffen. | |
Drei Prozent Sanierungsrate sind sehr ehrgeizig: Für die deutschen Ziele | |
der Klimaneutralität wünschen sich Experten eine Quotensteigerung auf knapp | |
2 Prozent – derzeit liegt sie bei etwa 1 Prozent. | |
## Bäume als Müllschlucker | |
Die englische Abkürzung ist so kompliziert wie das Thema: LULUCF, | |
Landnutzung und Wälder, ist in den Klimabilanzen immer heikel. Wie viel CO2 | |
Wälder, Böden und Moore binden oder freigeben, ist so komplex, dass die | |
Berechnungen aus den offiziellen Klimastatistiken herausgehalten werden. | |
Jetzt sollen diese natürlichen Systeme in die Rechnung der Kommission | |
einfließen. Bis 2030 sollen die natürlichen „Senken“ jedes Jahr 310 | |
Millionen Tonnen Klimagas speichern. Bisher liegt diese kostenlose | |
Müllschlucker-Funktion der Natur bei etwa 250 Millionen Tonnen. Da muss | |
sich in Wald und Flur also etwas tun. Vor allem, weil der gesamte Sektor | |
Landwirtschaft und Forst schon 2035 klimaneutral sein soll – also | |
ausgeglichene Emissionsbilanzen zwischen den Treibhausgasen aus | |
Düngemitteln, Viehhaltung und industrieller Landwirtschaft einerseits und | |
den Senken andererseits. | |
KlimaschützerInnen sind alarmiert. Sie fürchten, dass Waldländer wie Polen | |
ihre Emissionen aus Kraftwerken und Autos über ihre Wälder schönrechnen. | |
Aber die Kommission plant, dass sich die „Senkenfunktion“ des Waldes | |
überall erhöhen muss. Bis 2050 will die EU 500 Millionen Tonnen jährlich | |
binden – auch über Biomasse, die verfeuert wird, ihr CO2 abscheidet und | |
speichert, oder über CO2-Waschung aus der Luft (nicht über das umstrittene | |
CCS aus der Industrie). | |
Intern gibt die Kommission zu, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, | |
denn Dürre, Schädlinge und die vermehrte Nachfrage nach Holz setzen den | |
Wäldern schwer zu. Ob sie ihre bisherige Funktion als CO2-Speicher halten | |
können, ist unklar. Auch deshalb plant die Kommission, drei Milliarden | |
Bäume neu zu pflanzen. | |
17 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /EU-ringt-um-Klimapaket/!5779379 | |
[2] /Neues-Klimagesetz-verabschiedet/!5777935 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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