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# taz.de -- Flutkatastrophe und Klimawandel: Das unbewohnbare Haus
> Die Klimakatastrophe findet nicht nur in Bangladesch und am Pol statt,
> sondern nebenan. Spätestens jetzt muss sich alles ändern.
Bild: Verwüstung bei Bad Münstereifel. Nichts ist mehr wie es war
Ahrweiler, Erftstadt, Hagen, Schuld. 150, womöglich sogar 200 Tote in den
Ruinen [1][zerfetzter Ortschaften]. Die Klimakatastrophe hat ein Gesicht
und einen Namen bekommen. Statt abstrakter Temperaturskalen und
CO2-Hochrechnungen sehen wir weinende Mütter und fassungslose Väter; statt
irritierter Eisbären auf der Eisscholle sehen wir obdachlose Landsleute vor
den Trümmern ihrer Häuser.
Damit ist alles anders. Die Zukunft ist mit katastrophaler Wucht in der
Gegenwart angekommen. Das Klimadesaster findet vor der Haustüre statt und
es dringt sogar in unsere Wohnzimmer vor. Das Haus, individueller
Schutzraum und Inbegriff der Sicherheit und Geborgenheit, ist unbewohnbar
geworden. Abgerissene Giebelfronten gestatten Einblicke in unsere ehemals
heile Welt, die ihre offenen Wunden zeigt.
2003, als im Saharasommer 70.000 Menschen in Europa starben, verteilten
sich die Hitzeopfer übers ganze Land und blieben damit letztlich eine
unsichtbare statistische Größe. Sie waren nur ein kurzer Peak der
Übersterblichkeit. 2018, als im erneuten Hitzesommer die Wälder großflächig
dahinsiechten, war vor allem die Forstwirtschaft betroffen. 2019 und 2020
hat die fortgesetzte Dürre vor allem der Landwirtschaft geschadet.
Doch die meisten Menschen sind weder Forst- noch Landwirte, sie konnten vom
gemütlichen Sessel aus die Folgen der Erdüberhitzung entspannt betrachten.
Jetzt haben die Wassermassen halbe Ortschaften mitsamt des Fernsehsessels
fortgespült.
Mit der Tragödie im Rheinland sind auch die Generalausreden unterlassener
Klimapolitik zertrümmert worden. Die erste ist die Verlagerung des Unheils
in die Zukunft. Die mit viel Verdrängungsenergie gefütterte Hoffnung, dass
es uns jetzt und heute nicht erwischen wird, dass sich die Erde nur langsam
erwärmt und die großen Verheerungen irgendwann woanders auftreten werden –
sie liegen unter dem Schutt und Schlamm begraben, den die Flut
zurückgelassen hat.
## Die Katastrophe vor der Tür
Die Klimakatastrophe findet nicht nur in Bangladesch statt, nicht nur in
Australien, Kalifornien und an den Polkappen, sondern gleich nebenan bei
Müllers und bei Maiers. Sie droht nicht in der zweiten Jahrhunderthälfte,
wenn die Generation Fridays for Future erwachsen geworden ist, sondern ganz
akut. Es ist fünf nach zwölf.
Auch die gerade im Rheinland zur Lebensphilosophie gewordene Überzeugung,
es wird schon nicht so schlimm kommen und es ist doch noch immer gut
gegangen, ist auf ebenso grausame Weise widerlegt wie unsere ständige
Beruhigungsvokabel „Alles wird gut“. Nichts ist gut im Ahrtal, in Hagen und
im Dreiländereck. Es ist verheerend, nahezu apokalyptisch.
Das Hochwasser im Rheinland verändert die Geschäftsgrundlage der
Klimapolitik fundamental. Mit der Katastrophe baut sich ein Druck im Kessel
auf, wie wir ihn noch nie hatten. Deshalb wird die Politik mit den alten
Sprüchen nicht mehr durchkommen. Es wird nicht mehr reichen, ehrgeizige
Klimaziele für 2040 oder 2050 festzulegen, nur um dann genauso
weiterzumachen wie bisher.
## Ein klimapolitischer Neustart
Die Menschen wollen nicht wissen, wie viel Klimakiller wir bis zur
Jahrhundertmitte einsparen, sondern was die Politik jetzt, in diesem Jahr
und im nächsten ganz konkret unternehmen wird, um die Erde bewohnbar zu
halten.
Die Giftkatastrophe von Seveso, die Atomhavarien von Tschernobyl und
Fukushima, der große Chemieunfall von Sandoz – sie alle haben heftige
politische Konsequenzen nach sich gezogen. Das wird nach dieser
verheerenden Flutkatastrophe nicht anders sein. Es ist zu wenig, mit
aufgesetzter Betroffenheitsmiene durch den Schlamm zu waten und Nothilfe zu
versprechen. Es braucht politische Nothilfe fürs Klima, sehr viel mehr
Tempo und konkrete Maßnahmen. Es braucht einen klimapolitischen Neustart.
## Wann, wenn nicht jetzt
Und es ist absolut unerträglich, dass sich jetzt im Sog des Unglücks jene
Parteien und Politiker als die großen Klimaretter inszenieren, die über
Jahrzehnte im Verkehr, in der Energiepolitik und Landwirtschaft brutal auf
der Bremse standen und klimapolitische Weichenstellungen immer wieder
verhindert haben.
Beim Ausbau der erneuerbaren Energien oder bei der Bepreisung von
Kohlendioxid ist die Blockade ganz aktuell zu besichtigen. Unser Land
könnte binnen weniger Jahre ein Vielfaches an klimafreundlicher Energie
erzeugen und die CO2-Schleudern zügig vom Netz nehmen, [2][wenn es
politisch gewollt wäre]. Stattdessen baggern die Braunkohle-Taliban noch
immer ganze Dörfer weg, roden unsere Wälder, reißen Kulturdenkmäler und
Kirchen ab und hinterlassen Mondlandschaften.
Der Zeit-Journalist Bernd Ulrich nennt die deutsche Klimapolitik
„pantomimisch – es sieht wie Regieren aus, ist aber nur Fuchteln in der
Luft“. Seit dem 17. Juli 2021 steht den Pantomimen das Wasser bis zum Hals.
18 Jul 2021
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-hochwasser-103.html#Ende-des-…
[2] https://www.dw.com/de/deutschlands-kohleausstieg-viel-schneller-als-gedacht…
## AUTOREN
Manfred Kriener
## TAGS
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