| # taz.de -- Gerhard Richter in Auschwitz: Bilder zur Shoah | |
| > Gerhard Richters Birkenau-Zyklus findet in Oświęcim (dt. Auschwitz) | |
| > seinen dauerhaften Ausstellungsort. Gedanken dazu aus polnischer | |
| > Perspektive. | |
| Bild: Schuld, Scham, wütendes Leiden: Gerhard Richters Birkenau-Zyklus an sein… | |
| Oświęcim taz | Ein gewöhnliches Fahrrad, so eines, mit dem viele von uns | |
| täglich zur Arbeit fahren, zur Schule oder am Wochenende zu einem Ausflug | |
| aufbrechen. Ein Gepäckträger, an den man Taschen hängen kann, ein breiter | |
| Sattel, ein Fahrradständer, der es uns erlaubt, für einen Moment | |
| auszuruhen. | |
| Ein solches Fahrrad stellte der Künstler Wilhelm Sasnal quer zur ehemaligen | |
| Lagerstraße des deutschen KZs Majdanek bei Lublin ab – in einem Bild, das | |
| er 2016 gemalt hatte. Das Gemälde ist nicht das berühmteste Werk Sasnals | |
| über den Holocaust. Als solches gilt „Shoah (Wald)“ aus dem Jahr 2003, auf | |
| dem lediglich breite grüne Streifen zu sehen sind. Aber das Fahrrad neben | |
| dem Wachturm, von dem aus vor 80 Jahren auf die Gefangenen geschossen | |
| wurde, ist unserer Erzählung näher – der Prosa des modernen Tourismus | |
| inmitten grenzenloser Grausamkeit. | |
| Als in Oświęcim der Gerhard-Richter-Pavillon mit dem „Birkenau“-Zyklus | |
| eröffnet wurde, erhielt ich die Anfrage der taz, ob ich einen Essay über | |
| die Bedeutung dieser Geste für die polnische Gesellschaft schreiben könnte. | |
| Als Autor, der die polnische Kunstkritik repräsentiert, hätte ich dieses | |
| Thema im Kontext des Kulturdialogs aufgreifen können. | |
| Ein möglicher Zugang wäre auch die unlängst verpasste Chance gewesen, die | |
| Arbeiten eines anderen großen Künstlers – [1][Anselm Kiefer] – in einer | |
| Ausstellung zu zeigen. Kiefers Werke sollten in der Ausstellung rund um | |
| Dantes „Hölle“ (Göttliche Komödie) im Warschauer Nationalmuseum zu sehen | |
| sein, doch die geplante große Schau wurde aus politischen Gründen abgesagt. | |
| In einem breiteren Kontext hätte ich auch am Beispiel Gerhard Richters den | |
| Mangel großer Werke von zeitgenössischen Künstlern in Polens | |
| Kulturinstitutionen thematisieren können. Aber ich will mit Ihnen meine | |
| Perspektive teilen, einer Person, die in Oświęcim geboren wurde und hier | |
| aufgewachsen ist. Denn so werden Sie leichter verstehen, was das Werk | |
| Gerhard Richters bedeutet, wenn es sich unmittelbar mit der Gegenwart des | |
| Lagers misst. | |
| ## Schulweg am Lager entlang | |
| Das Bild Sasnals mit dem Fahrrad vor den SS-Lagerbaracken in Majdanek wurde | |
| 2021 auf einer Ausstellung des jüdischen Geschichtsmuseums Polin in | |
| Warschau gezeigt. Zu sehen waren weitere Bilder, die die Gegenwart von | |
| nazi-deutschen Vernichtungslagern in der heutigen Landschaft Polens | |
| thematisieren. Eines davon lässt uns aus der Perspektive eines Autofahrers | |
| und wie bei einer Fotoaufnahme das Profil von Anka, der Ehefrau des | |
| Künstlers, sehen – mit dem Tor des ehemaligen SS-Vernichtungslagers | |
| Birkenau im Hintergrund. | |
| Das Bild beschreibt wie kaum ein anderes den Alltag von Menschen, die in | |
| Oświęcim (dt. Auschwitz) und dem dazugehörigen Dorf Brzezinka (dt. | |
| Birkenau) leben, wo das ehemalige Vernichtungslager einige Hektar Land | |
| einnimmt. Ich selbst bin jahrelang auf meinem Schulweg immer wieder am | |
| Eingangstor des ehemaligen NS-Lagers vorbeigegangen, mit dem Bus auf dem | |
| Weg zu meiner Mutter bin ich an Stacheldrahtzäunen und einer langen | |
| Ziegelsteinmauer entlanggefahren. | |
| Wenn ich meinen Vater auf seiner Arbeitsstelle besuchte, der in den 1990er | |
| Jahren als Archivar in der Gedenkstätte Auschwitz tätig war, musste ich an | |
| den Krematorien vorbeigehen. Seit vielen Jahren lebe ich in Warschau, alle | |
| paar Monate kehre ich mit dem Auto zurück in das Haus meiner Familie. Dabei | |
| vergesse ich manchmal, müde von der stundenlangen Fahrt, dass hinter der | |
| Kurve das Tor lauert, und erst wenn die Holzkonstruktion des SS-Lagers | |
| auftaucht, erinnere ich mich, dass dieser Ort immer noch da ist. | |
| Dabei könnte es ganz anders sein. 1957 hatte das berühmte | |
| Architekten-Ehepaar Zofia und Oskar Hansen vorgeschlagen, im früheren | |
| NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ein Denkmal für die Opfer des | |
| Faschismus zu errichten. Es sollte eine gigantische, sich über das ganze | |
| Lager spannende Brücke sein, wobei das darunter liegende eigentliche | |
| Lagergelände für Besucher gesperrt sein sollte. Was zwischen 1940 und 1945 | |
| eine deutsche Todesfabrik war, sollte allmählich aus der öffentlichen | |
| Wahrnehmung verschwinden. | |
| ## Wie eine Wunde vernarben | |
| Die Erinnerung an diese Geschichte sollte wie bei einer offenen Wunde | |
| langsam vernarben. Aber die Schicksale der Lager-Erinnerungen waren ganz | |
| andere. Auf dem Gelände des Lagers, vor 1989 und nach dem Fall des Eisernen | |
| Vorhangs, ist nicht nur die Erinnerung an die hier ermordeten Menschen | |
| lebendig. Vielmehr nähern sich in einem steten politischen Spiel die | |
| Opfer-Nachkommen den Täter-Nachkommen an und entfernen sich wieder | |
| voneinander. Zum Teil trifft dies auch für die einzelnen Opfergruppen | |
| untereinander zu. | |
| Dabei gibt es das ehemalige NS-Lagergelände noch, wird instand gehalten, | |
| regelmäßig renoviert und am Leben gehalten. Zudem übernimmt es immer neue | |
| Funktionen. In den 1990er Jahren befand sich in einem der Blocks des | |
| deutschen Konzentrationslagers Auschwitz das Stadtarchiv von Oświęcim, das | |
| nichts mit der Geschichte des Lagers zu tun hatte. | |
| Während des Zweiten Weltkriegs mussten tausende Menschen in den Orten | |
| Oświęcim und Brzezinka lernen, mit dem Alltag rund um das Lager | |
| klarzukommen. Davon erzählt auch der Film [2][„The Zone of Interest“ von | |
| Jonathan Glazer] – auf der einen Seite der Mauer grauenhaftes Sterben, auf | |
| der anderen eine Pergola, an der Erbsen, Tomaten und süße Trauben | |
| emporranken. | |
| Manchmal drangen nur Rauch und Schreie über die Betonwand hinweg. Diese vom | |
| Regisseur forcierte Trennung der beiden Welten scheint mir eine äußerst | |
| tragfähige Metapher für das zu sein, was die Bewohner von Orten wie | |
| Oświęcim heutzutage erleben. Das Vorhandensein eines ehemaligen | |
| NS-Vernichtungslagers in der unmittelbaren Nachbarschaft führt dazu, dass | |
| das Lager im Bewusstsein der Einwohner ständig da und auch nicht da ist. | |
| Auf der einen Seite weiß jeder, dass hier ein Ort war, an dem über eine | |
| Million Juden ermordet wurden, auf der anderen Seite ist es unmöglich, sich | |
| dessen ununterbrochen bewusst zu sein. Es ist ein bisschen so wie bei einem | |
| Krieg, von dem wir wissen, dass er unweit von hier tobt. | |
| ## Adornos Diktum | |
| Diese Gegenwart der Shoah ist in die Landschaft eingeschrieben, in der ich | |
| großgeworden bin. Nicht umsonst widmet László Nemes in seinem | |
| Oscar-gekrönten Film [3][„Son of Saul“ (dt. Sauls Sohn)] fast so viel Zeit | |
| der Hölle des NS-Lagers wie dem Wald entlang des Flusses Sola, in dem sich | |
| Flüchtende verstecken konnten. Nemes’ Film und Richters Bilderzyklus | |
| verbindet ein historischer Moment. Beide Künstler ließen sich u. a. von den | |
| vier Fotos inspirieren, die jüdische Gefangene heimlich im | |
| SS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aufgenommen hatten. Zudem schufen | |
| Nemes und Richter ihre Arbeiten im selben Jahr. | |
| Der große Unterschied zwischen diesen Werken ist eine Art Misserfolg, den | |
| der deutsche Maler erleidet, der eigentlich realistische Bilder schaffen | |
| wollte, wie seine Frau, die Künstlerin Sabine Moritz-Richter, berichtet. | |
| Das ist ihm nicht gelungen. | |
| Als ich mir [4][den Zyklus „Birkenau“] zum ersten Mal in der Neuen | |
| Nationalgalerie in Berlin ansah, hatte ich den Eindruck, einen Künstler zu | |
| sehen, der vom Diktum „Keine Kunst nach Auschwitz!“ des Philosophen Theodor | |
| W. Adorno besiegt wurde. Die Abstraktion ist hier die Unschärfe eines | |
| Bildes, die Verzerrung von etwas, das versuchte, klar zu sein. Aber gibt es | |
| wirklich keine Kunst nach Auschwitz? | |
| Heute wissen wir, dass das nicht stimmt. Wilhelm Sasnals Bilder zeugen | |
| davon, Nemes’ Film „Son of Saul“ zeugt davon. Und in einer kürzlich von | |
| Piotr Rypson kuratierten Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum München | |
| erzählen Künstler aus Polen und Israel davon. Artur Żmijewski, Pawel | |
| Kowalewski, Natalia Romik und Wilhelm Sasnal versuchen Antworten auf die | |
| Frage zu geben, wie es mit der Existenz der Kunst nach Auschwitz bestellt | |
| ist und was mit der Erinnerung an die Shoah geschieht, wenn es keine Zeugen | |
| mehr geben wird. | |
| ## Nur Stille und Leere | |
| Richters Arbeit in Oświęcim wirkt in diesem Kontext wie aus einer anderen | |
| Ordnung. Der Birkenau-Zyklus stammt aus einer Zeit, in der nur Stille und | |
| Leere die angemessene Sprache für die Shoah war. Vielleicht ähnelt auch | |
| deshalb der Ausstellungspavillon auf dem Gelände des Internationalen | |
| Zentrums für Jugendbegegnungen einer Kapelle. In diesem Ort soll Platz sein | |
| für die Besinnung über die existenzielle Dimension nicht nur der Shoah, | |
| sondern auch dessen, was nach dem Großverbrechen blieb: Schuld, Scham und | |
| wütendes Leiden. | |
| Den vier „Birkenau“-Bildern hängen vier dunkle Glasscheiben gegenüber, in | |
| denen sich nicht nur die Gemälde Richters spiegeln, sondern auch die | |
| Ausstellungsbesucher mit ihrem ganzen Gepäck an durchlebten Gefühlen. | |
| Dabei ist die Frage, wer sich eigentlich in diesen Spiegeln betrachtet. Am | |
| Tag vor der Eröffnung des Pavillons rief ich einige Bekannte aus der | |
| Umgebung von Oświęcim an. Keiner von ihnen wusste, dass die Werke eines der | |
| bedeutendsten zeitgenössischen Künstler in Oświęcim ausgestellt werden. | |
| Über den Richter-Pavillon wissen Gäste Bescheid, eingeladene Besucher aus | |
| Polen und der Welt. Es gibt einen Vortrag, eine Vernissage, eine | |
| Festveranstaltung. Die Kapelle mit dem „Birkenau“-Zyklus bringt eine | |
| metaphysische Unruhe mit sich. Aber ich weiß nicht, in wessen Herzen sie | |
| wirken soll. | |
| Aus dem Polnischen von Gabriele Lesser. | |
| 4 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Aleksander Hudzik | |
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