# taz.de -- 50 Jahre Auschwitz-Prozess: Aufklärung und Enttäuschung | |
> Vor 50 Jahren begann der Auschwitz-Prozess. Nun wurden eine | |
> wissenschaftliche Edition der Anklageschrift und Prozessmitschnitte ins | |
> Netz gestellt. | |
Bild: Der Angeklagte Oswald Kaduk (M.) am 20. Dezember 1963. | |
Vor genau fünfzig Jahren – am 20. Dezember 1963 – begann der Frankfurter | |
Auschwitz-Prozess, der ein doppeltes Resultat zeitigte: Eine wichtige Wende | |
in der deutschen Nachkriegsgeschichte und ein Debakel für die Justiz. | |
Der Prozess führte der deutschen Öffentlichkeit erstmals und umfassend die | |
ganze Brutalität des Alltags im Konzentrationslager vor Augen: vom | |
Transport, über die Selektion an der Rampe, die sofortige Vernichtung | |
Arbeitsunfähiger, Frauen und Kinder bis zum Aushungern der Häftlinge durch | |
Arbeit. | |
Mit dieser aufklärerischen Wirkung des Prozesses kontrastierte das | |
ernüchternde juristische Resultat. Von den rund 8.000 SS-Männern und 200 | |
-Frauen, die in Auschwitz zu Tätern wurden und die 1,2 Millionen Tote auf | |
dem Gewissen haben, konnten nur 20 angeklagt werden. Drei davon wurden | |
freigesprochen, sechs erhielten lebenslang und elf wurden zu | |
Freiheitsstrafen zwischen 3 1/4 und 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Polen | |
stellte dagegen über 600 Auschwitz-Täter vor Gericht! | |
Dass der Frankfurter Prozess gegen direkt an den Massenmorden im | |
Konzentrationslager Auschwitz Beteiligte überhaupt zustande kam, war fast | |
ein Wunder. Politik und Justiz beschäftigten sich in den 50er Jahren mehr | |
mit den Forderungen nach „Amnestie“ und dem „Schlußstrichziehen“ unter… | |
Vergangenheit als mit der ernsthaften Verfolgung von Tätern. Werner Best | |
(1903–1989) etwa, der ehemalige Justitiar der Gestapo, kam nie vor Gericht, | |
korrespondierte aber mit dem Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) über | |
Modalitäten einer Amnestie für NS-Mörder. | |
Erst 1958 gerieten Nazi-Massenmorde im Ulmer Einsatzgruppenprozess gegen | |
zehn Angeklagte an die Öffentlichkeit. Zum Prozess kam es, weil einer der | |
beteiligten Mörder die Unverfrorenheit besaß, auf Wiedereinstellung in den | |
Staatsdienst zu klagen. Dabei entdeckte die Justiz per Zufall seine | |
Verwicklung in Massenmorde. „Kommissar Zufall“ ermittelte, während sich die | |
Staatsanwaltschaften, in denen nach 1951 jede Menge ehemalige Nazis | |
unterkamen, vornehm zurückhielten. | |
## Großer Imageschaden | |
Der Ulmer Prozess brachte die junge deutsche Demokratie international ins | |
Gerede. Um einen Imageschaden abzuwenden, gründeten die | |
Landesjustizminister am 1. Dezember 1958 die „Zentrale Stelle der | |
Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen | |
Verbrechen“. Die Zentrale Stelle sollte die Ermittlungen landesweit | |
koordinieren, war aber selbst nicht zur Anklage Beschuldigter befugt. Die | |
Verantwortung dafür blieb bei den Landesjustizverwaltungen. | |
Und damit kommen jene ins Spiel, die den Frankfurter Auschwitz-Prozess | |
maßgeblich auf den Weg gebracht haben – der hessischen Generalstaatsanwalt | |
Fritz Bauer (1903–1968) und Hermann Langbein (1912–1995), ehemaliger | |
KZ-Häftling und Mitbegründer des „Internationalen Auschwitz-Komitees“. | |
Bauer wurden Originalakten mit einer Liste von „auf der Flucht | |
Erschossenen“ aus Auschwitz zugespielt. Mit diesen Akten gelang es ihm, | |
beim Bundesgerichtshof die Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt für die | |
in Auschwitz begangenen Verbrechen zu erstreiten. Langbein benannte | |
überlebende Zeugen aus Polen. | |
Mit politischer Rückdeckung des hessischen Ministerpräsidenten und | |
Justizministers Georg August Zinn (SPD) berief Bauer erst einmal junge, | |
unbelastete Juristen, um die Ermittlungen und die Anklage vor | |
justizinternen Sabotageversuchen abzuschirmen. Georg Friedrich Vogel und | |
Joachim Kügler leiteten die strapaziösen Ermittlungen, hinzu kamen Heinz | |
Düx, Gerhard Wiese und Hanns Großmann. | |
In weniger als zwei Jahren trugen die Staatsanwälte und der | |
Untersuchungsrichter Beweismaterial zusammen, das 74 Bände füllte, hörten | |
600 Zeugen an und beschuldigten zunächst 23 Personen des Mordes oder | |
Totschlags – alle anderen Verbrechen waren bereits verjährt. | |
## Aktenzeichen 4 Ks 2/63 | |
Am 20.12.1963 konnte der Prozess unter dem Aktenzeichen 4 Ks 2/63 gegen | |
nunmehr 20 Angeklagte, denen die Schuld am Tod von mindesten 28.910 Opfern | |
vorgeworfen wurde, eröffnet werden. An 181 Verhandlungstagen wurden rund | |
200 überlebenden Häftlingen als Zeugen und acht Historiker als Gutachter | |
angehört. | |
Zum 50. Jahrestag erscheint nun eine 1.400 Seiten starke Edition mit fünf | |
wichtigen Quellen zum Auschwitz-Prozess. Raphael Gross, der Direktor des | |
Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts und der wissenschaftliche Mitarbeiter | |
Werner Renz erarbeiteten eine wissenschaftliche Ausgabe der Anklageschrift | |
der Staatsanwaltschaft, des Eröffnungsbeschlusses des Landgerichts | |
Frankfurt, des Urteils des Gerichts vom 19./20. August 1965 sowie das | |
Bundesgerichtsurteils über die Revision im Fall Lucas und das zweite Urteil | |
des Landgerichts im Fall Lucas. | |
Die mustergültige Quellenedition wird ergänzt durch historische Essays über | |
die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers | |
Auschwitz-Birkenau (Sybille Steinacher) und über die historische Bedeutung | |
des Prozesses (1963–1965) von Devin O. Pendas. Zum Verständnis des | |
exzellent aufbereiteten Quellenmaterials dienen sachdienliche juristische | |
und historische Erläuterungen. | |
Die Quellen machen deutlich, dass das Gericht von Anfang an vor einer | |
unlösbaren Aufgabe stand. Es musste einen unglaublich brutalen, | |
bürokratisch durchorganisierten und fabrikmäßig ausgeführten Massenmord | |
beurteilen, durfte sich aber nur der strafrechtlichen Instrumente und | |
Normen bedienen, die für einfache Mordprozesse vorgesehen waren. Der | |
Terminus und der Tatbestand „Massenmord“ existiert im Strafrecht nicht. Um | |
das Gesamturteil revisionssicher zu machen, musste das Gericht den Mördern | |
jeden einzelnen Mord oder die Beihilfe dazu nachweisen. | |
Allerdings gab es in diesem Verfahren keine materielle Leiche, keine | |
Spurensicherung, keinen Obduktionsbericht, keine Tatortfotos, keine | |
Tatwaffe und nur wenige aktenmäßig belegbare Indizien. Außer schweigenden | |
oder lügenden Angeklagten standen dem Gericht nur Zeugen zur Verfügung, die | |
die Vernichtung überlebt hatten. Sie ahnten die massenhafte Ermordung | |
anderer Menschen, hatten aber als Gefangene einer Mörderbande keinen | |
direkten Einblick in deren Tun. | |
## Verhöhnung der Opfer | |
Das Gericht musste sich in dieser Lage mit abenteuerlichen Konstrukten und | |
Kalkulationen begnügen, um den Tätern die Morde wenigstens als Beihilfe | |
zurechnen zu können. Weil strafrechtlich als „unmittelbare Täter“ nur jene | |
infrage kamen, die den Massenmord veranlasst hatten (Hitler, Himmler, | |
Heydrich, Göring), blieb für die ausführenden Personen und Organe nur die | |
Rolle der Gehilfen. Die Justiz machte aus Tätern Gehilfen. | |
Im Fall von Robert Mulka, dem Adjutanten des Lagerkommandanten, | |
konstruierte das Gericht aus der Tatsache, dass seine Anwesenheit auf der | |
Rampe, wo die ankommenden Häftlinge sortiert wurden, nur in vier Fällen | |
zweifelsfrei feststand, den Vorwurf der Beihilfe „an der Tötung von | |
insgesamt 3.000 Menschen“. Diese Zahl errechnete das Gericht daraus, dass | |
nach Zeugenaussagen von 1.000 Häftlingen pro Transport höchstens 25 | |
Prozent, „also 250 Menschen, als arbeitsfähig ausgesondert worden sind.“ | |
Da der Angeklagte erwiesenermaßen wenigstens viermal auf der Rampe tätig | |
wurde, ergibt sich rechnerisch die Zahl von 3.000 Opfern, für die ihn das | |
Gericht zu 14 Jahren Zuchthaus wegen „gemeinschaftlicher Beihilfe zum | |
gemeinschaftlichen Mord“ verurteilte. Insgesamt wurden 17 Angeklagte für | |
15.209 Morde (von 1,2 Millionen) belangt. Moralisch wirkt diese juristische | |
Zurechnungsarithmetik wie eine Verhöhnung der Opfer. | |
Fritz Bauer, der Hauptinitiator des Prozesses, war von dessen Ausgang | |
enttäuscht, denn er hoffte, dass das mörderische Gesamtprojekt „Endlösung�… | |
nicht durch „Atomisierung und Parzellierung“ (so die Bauer-Biografin | |
Irmtrud Wojak) des Geschehens „Auschwitz“ in Einzelfälle zerlegt und damit | |
zu einer Kette normaler Morde entschärft würde. Denn damit verflüchtigen | |
sich die historische, die politische und die moralische Dimension des | |
staatlich veranlassten Massenmords in eigens errichteten „Fabriken zur | |
Herstellung von Toten“ (Hannah Arendt). | |
Bauer wollte einen Prozess als „Gerichtstag über uns selbst“ mit der | |
politischen Intention, über die Verbrechen aufzuklären und neuen | |
vorzubeugen. Trotz des juristischen Fiaskos bewirkte der Prozess, dank der | |
Details, über die die Presse berichtete, einen erheblichen Schub an | |
Aufklärung der Öffentlichkeit über die NS-Verbrechen. | |
20 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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