# taz.de -- Gedenken an den Holocaust: „Passen Sie auf auf unser Land“ | |
> Bei der Gedenkstunde für die Shoah-Opfer im Bundestag halten mehrere | |
> Frauen Reden. Mit Marina Weisband ist erstmals eine junge Jüdin dabei. | |
Bild: Marina Weisband spricht am Mittwoch im Bundestag | |
BERLIN taz | Einfach nur Mensch sein, das sei eine schöne Vision, sagt | |
Marina Weisband am Mittwochmorgen im Bundestag. Sie ist als Gastrednerin | |
zur Gedenkstunde für die [1][Opfer des Nationalsozialismus] eingeladen, vor | |
76 Jahren haben Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und | |
Vernichtungslager Auschwitz befreit. „Aber einfach nur Mensch sein“, fährt | |
Weisband fort, „ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund | |
ihrer Geburt“. | |
Verfolge man dieses Ziel ernsthaft, müsse man Strukturen von Unterdrückung | |
benennen. „Denn jede Unterdrückung lebt davon, dass sie für die | |
Nicht-Betroffenen unsichtbar ist.“ Das gelte für Antisemitismus, aber auch | |
für jede andere Form. | |
Weisbands Rede ist ein Novum: Mit der 33-jährigen Publizistin, die früher | |
Politikerin bei der Piratenpartei war und heute Mitglied der Grünen ist, | |
spricht erstmals eine junge Jüdin bei der Gedenkstunde im Bundestag, eine | |
Vertreterin der dritten Generation nach der Shoah. Weisband verweist | |
darauf, dass es bald keine Zeitzeugen mehr gebe. Es sei Aufgabe der | |
Nachkommen, das Gedenken weiterzutragen und Lehren für eine Zukunft zu | |
ziehen. | |
Jüdin in Deutschland zu sein bedeute, die Shoah in sich zu tragen und mit | |
den Traumata der Eltern und Großeltern zu leben. Anders als ihr Vater 1993 | |
gehofft hatte, als die Familie beschloss, aus der Ukraine als | |
Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zu gehen, könnten Juden und Jüdinnen | |
in Deutschland nicht „einfach als Menschen“ leben. Sie bekomme | |
Morddrohungen, zum Gebet müsse sie durch Sicherheitskontrollen gehen, sagt | |
Weisband. Sie sei dankbar für diesen Schutz. „Aber es macht was mit uns.“ | |
## Knobloch richtet sich direkt an die AfD | |
„Nur um es ganz klar zu sagen: Wir können den Anfängen nicht wehren, weil | |
es ein stetiger Prozess ist.“ Antisemitismus beginne nicht, wo auf eine | |
Synagoge geschossen werde, er beginne mit Verschwörungserzählungen, mit | |
einer angeblichen jüdischen Opferrolle. „Umso schmerzhafter ist für mich | |
diese Debatte um einen vermeintlichen Schlussstrich – solange wir keinen | |
ziehen können“, sagt Weisband unter Beifall im Bundestag. | |
Vor ihr hatte bereits die 88-jährige Präsidentin der Israelitischen | |
Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, gesprochen. „Ich | |
stehe vor Ihnen als stolze Deutsche“, so hatte sie ihre Rede begonnen und | |
von ihrer Kindheit im Nationalsozialismus und dem immer stärker werdenden | |
Antisemitismus erzählt. Sie überlebte versteckt auf einem fränkischen | |
Bauernhof. „Ich hatte eine Heimat verloren, ich habe für sie gekämpft, ich | |
habe sie wiedergewonnen und werde sie verteidigen“, sagt Knobloch. | |
Auch sie warnt vor einem Erstarken des Judenhasses. „Das Phänomen | |
Antisemitismus ist größer als das Offensichtliche“, mahnt Knobloch. „Wer | |
[2][Coronamaßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik | |
vergleicht], verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Shoah.“ | |
Knobloch richtet sich im Bundestag auch ausdrücklich an die AfD. „Ich kann | |
nicht so tun, als kümmerte es mich nicht, dass Sie hier sitzen“, sagt sie. | |
Vielleicht sei der eine oder andere noch bereit zu erkennen, an welche | |
Traditionen angeknüpft werde. Den „Übrigen in Ihrer Bewegung“ sage sie | |
aber: „Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter | |
für unser Deutschland kämpfen – und ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf | |
vor 76 Jahren verloren.“ An die anderen ZuhörerInnen appellierte Knobloch: | |
„Ich bitte Sie: Passen Sie auf auf unser Land.“ | |
Es sind zwei starke, kämpferische Reden von zwei starken, kämpferischen | |
Frauen, die da an diesem Mittwochmorgen im Bundestag gehalten werden. | |
Zu Beginn der Gedankstunde hatte auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble | |
(CDU) davor gewarnt, dass sich Antisemitismus und Rassismus „wieder offen, | |
hemmungslos, auch gewaltbereit“ in Deutschland zeigen würden. Und dazu eine | |
wichtige Frage gestellt: „An Gedenktagen wird stets Verantwortung | |
angemahnt“, so Schäuble. „Aber werden wir ihr auch gerecht?“ | |
27 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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