# taz.de -- Holocaust-Gedenken in Brandenburg: Das Gras über dem Grauen | |
> Jamlitz ist der Ort mit den meisten Opfern der Shoa in Brandenburg. Bis | |
> die Erinnerung dorthin zurückkehrte, dauerte es lange. | |
Bild: Ein Weg zeichnet die ehemaligen Grundmauern des KZ-Außenlagers Jamlitz n… | |
Den 2. Februar 1945 hat Bjørn Bie nie vergessen. Der Norweger gehörte zu | |
denen, die an diesem Freitag zu einem Todesmarsch vom Außenlager Jamlitz | |
ins KZ Sachsenhausen aufbrachen. Zurück in Jamlitz blieben die Kranken in | |
den sogenannten Schonungsbaracken. „Als sich die Marschkolonne im Lager | |
aufstellte, reichte sie vom Tor des Lagers bis an die ‚Schonungsbaracken‘�… | |
erinnert sich Bjørn Bie. „Dort standen die Häftlinge, die zurückbleiben | |
mussten, und weinten und winkten. Bei dem Abmarsch haben wir uns geküsst, | |
aber keiner von uns hatte ‚Auf Wiedersehen‘ gesagt.“ | |
Kurz danach begann das, was die SS „Sonderbehandlung“ nannte, der | |
Massenmord an 1.342 kranken Häftlingen in Jamlitz. „Ich ging am Ende der | |
Marschkolonne. Als ich durch das Lagertor ging, habe ich den ersten Schuss | |
gehört. Ich höre es noch heute.“ Bie hat Jamlitz als einer der wenigen | |
überlebt. | |
Sachsenhausen und Ravensbrück, das sind die Orte, an denen in Brandenburg | |
der Opfer der Shoa gedacht wird. Jamlitz gehörte lange Zeit nicht dazu. | |
Dabei ist das Dorf östlich der Kleinstadt Lieberose im Landkreis | |
Dahme-Spreewald der Ort mit den meisten Opfern der Shoa in Brandenburg. | |
Insgesamt kamen im Außenlager des KZ Sachsenhausen 3.500 Häftlinge ums | |
Leben, die meisten von ihnen waren Jüdinnen und Juden. | |
Dass Jamlitz zum vergessenen KZ Brandenburgs werden konnte, liegt für | |
Andreas Weigelt auch an der sowjetischen Besatzungsmacht. Im September 1945 | |
verlegte der Geheimdienst NKWD sein Speziallager Nr. 6 von Frankfurt (Oder) | |
nach Jamlitz – an eben jenen Ort, an dem sich zuvor das Außenlager des KZ | |
Sachsenhausen befunden hatte. „Wegen des Speziallagers gab es von | |
sowjetischer Seite kein Interesse an jüdischen Opfergruppen“, sagt Weigelt. | |
„Meines Wissens nach ist durch kein sowjetisches Militärtribunal eine | |
Weiterermittlung im Falle des Massenmords und eine eventuelle Exhumierung | |
der Leichen betrieben worden.“ | |
Andreas Weigelt ist 1963 in Lieberose geboren, studierte Geschichte in | |
Berlin und kehrte 1994 in seine Heimatstadt zurück. Seitdem beschäftigt er | |
sich mit der Geschichte des KZ-Außenlagers. Und mit dem schwierigen | |
Gedenken an die Opfer. Für Andreas Weigelt liegt das nicht nur an den | |
Sowjets, sondern auch an der Erinnerungspolitik der DDR. Als Kind hat | |
Weigelt erlebt, wie 1973 das antifaschistische Mahnmal in Lieberose | |
eingeweiht wurde. Zwei Jahre zuvor waren in einer Kiesgrube bei Staakow die | |
Gebeine von 577 Leichen gefunden worden. Unter Missachtung der jüdischen | |
Bestattungsregeln wurden sie eingeäschert und im September 1971 bei der | |
Grundsteinlegung des KZ-Mahnmals ins sieben Kilometer entfernte Lieberose | |
gebracht. | |
Bei der Einweihung des Mahnmals ist auch der Lagerstein in Jamlitz entfernt | |
und auf die Burg der gut 25 Kilometer entfernten Kreisstadt Beeskow | |
gebracht worden. „Von 1973 bis zum Ende der DDR erinnerte in Jamlitz nichts | |
an dieses Lager“, sagt Weigelt. Erst 1990 kehrte der Lagerstein auf | |
Betreiben von Jamlitzer Bürgern an seinen ursprünglichen Ort zurück. | |
Am besten erreicht man das ehemalige Außenlager auf der Bundesstraße 320 | |
von Lieberose Richtung Guben. Am Ortsende des idyllisch gelegenen Dorfkerns | |
von Jamlitz geht es links hinein in den Kiefernweg. Gleich hinter der | |
Einfahrt befand sich von 1943 bis 1945 das Lagertor des KZ und von 1945 bis | |
1947 das Tor zum sowjetischen Speziallager. Heute stehen rechts und links | |
des Kiefernwegs Einfamilienhäuser aus DDR-Zeiten. Nicht nur Gras wuchs über | |
den Ort der Shoah, er wurde sogar überbaut. | |
Nach fünfhundert Metern tauchen am Waldrand gläserne Stelen auf, die die | |
Evangelische Kirchengemeinde Lieberose und das Land Brandenburg aufgestellt | |
haben. Auf der östlichen Seite des Fahrwegs informieren sie über die | |
Geschichte des Speziallagers Nr. 6. Westlich davon wird an das Außenlager | |
des KZ Sachsenhausen erinnert. | |
## Das Morden dauerte drei Tage lang | |
Von dort führt der Weg zu einem 2018 eingeweihten Gedenkort, neben dem sich | |
damals die „Schonungsblocks“ befanden. Ein SS-Mann, Karl Schneider, | |
erinnerte sich an den Februar 1945 so: „Nachdem die marschfähigen Häftlinge | |
abmarschiert waren, sprach mich der aus Rudolfsgnad stammende Mathias Roth | |
an. Er sagte: ‚Komm geh mit. Wir gehen zum Judenerschießen.‘“ | |
Drei Tage lang dauerte das Morden. In dieser Zeit, so berichten es | |
Anwohner, sei die Straße von Jamlitz nach Guben gesperrt gewesen. Die | |
Leichen wurden dann abtransportiert und unter anderem in eine Kiesgrube | |
beim benachbarten Staakow geworfen. Das ist jener Ort, an dem 1971 die | |
Gebeine von 577 Leichen gefunden worden waren. | |
Dass Jamlitz zum Ort der Shoa wurde, hat auch mit den sandigen Böden der | |
Niederlausitz zu tun. Wo sich heute die Reicherskreuzer Heide und die | |
Lieberoser Heide erstrecken, sollte auf einer Fläche von 400 | |
Quadratkilometern der SS Truppenübungsplatz „Kurmark“ entstehen. Heinrich | |
Himmler, Reichsführer SS und Chef der Gestapo, hatte die Pläne nach der | |
verlorenen Schlacht von Stalingrad im Frühjahr 1943 aus der Schublade | |
gezogen. | |
Ein erster Transport von Häftlingen aus Sachsenhausen war bereits am 9. | |
November 1943 in Jamlitz eingetroffen. Bis zum 1. April 1944 wurden die | |
ersten sechs Häftlingsbaracken westlich des Bahnhofs errichtet. Am 5. Juni | |
1944 erreichte dann der erste Massentransport von 2.400 ungarischen Juden | |
aus Auschwitz den Bahnhof von Jamlitz, der damals noch „Staatsbahnhof | |
Lieberose“ hieß. „Die höchste Belegung erreichte das Lager mit etwa 4.350 | |
Häftlingen in 18 Baracken im Spätherbst 1944“, sagt Weigelt. Zu dieser Zeit | |
haben bereits die ersten Rücktransporte nach Auschwitz begonnen, wohin | |
insgesamt 1.000 Häftlinge aus Jamlitz zur Vernichtung deportiert wurden. | |
## Über die Heide düsten Bomber | |
Im Sprachgebrauch der SS hieß das Außenlager in Jamlitz „Arbeitslager“, | |
denn die Häftlinge hatten die Aufgabe, in der sandigen Heide den größten | |
Truppenübungsplatz der Nazis aus dem Sand zu stampfen. 17 Dörfer sollten | |
dafür umgesiedelt werden. Am Bahnhof von Jamlitz mussten Häftlinge an zwei | |
Betonmischanlagen die Schwellen für die Schmalspurbahn gießen, die den | |
Bahnhof mit der Baustelle der SS-Kasernen in Ullersdorf verbinden sollte. | |
„Die ausgehungerten Häftlinge mussten im Dauerlauf zum Bahnhof rennen und | |
schwere Betonplatten, die als Eisenbahnschwellen verwendet wurden, tragen“, | |
schrieb der Häftling Alfred Ehling in der Berliner Zeitung im Juni 1945. | |
„Die Betonplatten hatten eine Länge von 1,10 Meter und ein Gewicht von | |
circa 250 Kilogramm. Wer dabei hinfiel, wurde von der Schwelle erschlagen | |
und blieb tot liegen.“ | |
Fertiggestellt wurde der Truppenübungsplatz Kurmark nicht. Stattdessen | |
nutzte nach 1945 die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland | |
das Gelände. Es wurde der größte sowjetische Truppenübungsplatz in der DDR. | |
Zahlreiche Manöver des Warschauer Paktes wurden hier abgehalten. Über die | |
Heide düsten Bomber und warfen ihre Munition ab. In den Dörfern zerstörten | |
die Panzer Straßen und Wege. | |
Ort der nationalsozialistischen Judenvernichtung und Ort sowjetischen | |
Terrors: Was andernorts immer wieder zu kontroversen Debatten führt, ist in | |
Jamlitz kein Problem. Das hat auch mit Andreas Weigelt zu tun, der | |
[1][beide Dokumentationsstätten] leitet. Nachdem er über das KZ-Außenlager | |
promoviert hat, forschte er über das sowjetische Speziallager, über das in | |
der DDR nur hinter vorgehaltener Hand geredet wurde. „Meine Mutter hat am | |
Küchentisch erzählt, nach dem Krieg hätten sie die ganzen Jungs aus ihrer | |
Klasse abgeholt“, erinnert sich Weigelt an seine Kindheit. „Aber in der | |
Schule haben sie uns gesagt, dass im Lager ausländische KZ-Häftlinge waren. | |
Dieser Widerspruch ist hängen geblieben.“ Für Weigelt ist es aber kein | |
Widerspruch. Für ihn gehören beide Lager zusammen, denn sie befanden sich | |
an ein und demselben Ort. | |
Wie sehr die Geschichte beider Lager miteinander verbunden ist, zeigt das | |
Schicksal von Otto Maaß, den Andreas Weigelt in seinem Buch | |
„Umerziehungslager existieren nicht“ porträtiert hat. Vom Dezember 1944 bis | |
Februar 1945 wurde der ehemalige Kommunist, der mehrfach von der Gestapo | |
verhaftet worden war, für die AEG Cottbus als Elektriker im KZ-Außenlager | |
in Jamlitz eingesetzt. Am 2. Februar 1945 wurde er Augenzeuge des | |
Massenmords an den Häftlingen aus den „Schonungsbaracken“. Nach dem Krieg | |
fertigte er am 20. Juni eine Aktennotiz an und nannte acht der Mörder mit | |
Namen, Dienstgrad und Funktion. | |
Otto Maaß wollte die Mörder vor Gericht bringen. Doch dann wurde er durch | |
Hermann Kircher, dessen Cottbuser Elektrofirma auch in Jamlitz für die SS | |
tätig war, denunziert. Das NKWD verhaftete Maaß als „Agenten der Gestapo“ | |
und internierte ihn an jenem Ort, an dem er das Massaker beobachtet hat, | |
nur dass es nun eines von zehn Speziallagern in der sowjetischen | |
Besatzungszone war. Nach der Auflösung des Lagers in Jamlitz wurde er nach | |
Buchenwald verlegt und erst 1950 entlassen. | |
Das Verfahren gegen Kircher, den Maaß nach seiner Entlassung angezeigt | |
hatte, wurde kurz darauf eingestellt. | |
Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Kapitels „Offene | |
Erinnerungslandschaft“ in Uwe Radas neuem Buch „Siehdich um. Annäherungen | |
an eine brandenburgische Landschaft“, das im [2][Bebra-Verlag] erschienen | |
ist. | |
27 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.die-lager-jamlitz.de/ | |
[2] https://www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/957-siehdichum.html | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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