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# taz.de -- NS-Aufarbeitung an Hochschulen: Erst nach 50 Jahren enttarnt
> Lange lehrte die SS-Größe Hans-Ernst Schneider an der Technischen
> Hochschule Aachen. Nur zögerlich stellte man sich dort der Aufarbeitung.
Bild: Erst SS-Offizier, in den 1970ern dann Hochschulrektor: Hans-Ernst Schneid…
Aachen taz | Als alles aufflog, 1995, war der Mann schon 85 und längst
emeritiert. Professor Dr. Hans Schwerte hatte als namhafter
Literaturwissenschaftler gelehrt und war 1970 bis 1973 Rektor der
Technischen Hochschule Aachen. Nur war er nicht der, als der er sich seit
1945 ausgab.
Schwertes wirklicher Name: Hans-Ernst Schneider, SS-Hauptsturmführer, tätig
in führender Position in Heinrich Himmlers „Ahnenerbe“, der
scheinwissenschaftlichen Forschungsorganisation der Nazis. Schon 1940
gehörte Schneider zum persönlichen Stab des Reichsführers SS. Er arbeitete
für dessen berüchtigten Sicherheitsdienst in Den Haag und requirierte an
niederländischen Universitäten medizinische Apparate für Menschenversuche
und die vielhundertfachen Morde der „Ahnenerbe“-Abteilung im KZ Dachau.
Nach dem Krieg war Schneider angeblich verschollen, dann von seiner Frau
Annemarie für tot erklärt worden. Gleichzeitig hatte er sich eine zweite
Identität als Hans Schwerte, geboren in Hildesheim, zugelegt. 1947
heiratete er seine eigene Scheinwitwe, adoptierte die leibliche Tochter und
startete eine zweite wissenschaftliche Karriere.
Das perfide Doppelleben lief schnell gut an, etwa in Salzburg: Da hatte er
als zeitweiliger Leiter der SS-Außenstelle die Bibliothek des jüdischen
Schriftstellers Lion Feuchtwanger plündern lassen, jetzt, im Zweitleben,
wurde der Literaturforscher Schwerte hier Honorarprofessor. 1965 kam er
nach Aachen und avancierte endgültig vom Germanen zum Germanisten. Schwerte
war Faust-Fachmann mit, ach, zwei Seelen in der Brust. Er gab sich
ausgewiesen fortschrittlich und linksliberal, galt als Grandseigneur des
Fachbereichs, absolut integer, bei den Studierenden überaus beliebt.
Wer wusste von Schwertes Doppelleben?
1995 flog die Doppelidentität auf. Die Gerüchte hatten zugenommen. Sowohl
Studierende als auch ein niederländisches Fernsehteam recherchierten beim
Einwohnermeldeamt Hildesheim, seinem angeblichen Geburtsort. Ergebnis: Hans
Schwerte? Unbekannt. Auch die Hochschule hatte dort nachgefragt, aber nur
nach einem Schneider, nicht Schwerte. Ob fahrlässig oder absichtlich, weiß
man nicht.
Schließlich war der Skandal monströs. In der Hochschule erklärten sich alle
tief erschüttert und hintergangen. Wer wusste von Schwertes Doppelleben?
Professoren-Namen als Mitwisser fielen, empörte und eitle Dementis folgten,
Beschimpfungen, Verleumdungsklagen. Wer hat wen womöglich erpresst, wer ist
durch Schweigen höher geklettert im Elfenbeinturm? Die Untersuchungen der
RWTH in der Causa Schneiderschwerte verliefen schleppend zwischen
Peinlichkeit, Bemühen und Angst um Reputationsverlust.
Die junge Aachener Historikerin Angelina Pils stellt in diesen Tagen ihre
Doktorarbeit über sein Leben fertig. Dafür hatte sie im Deutschen
Literaturarchiv Marbach auch Einblick in Schneiders Nachlass, vor allem in
seine Tagebücher 1942 bis 1999. Es gebe darin, so Pils, „keine Einträge
reflektierter Reue. Er hat die NS-Zeit einfach abgetrennt.“ Nach dem
letzten Tagebucheintrag in Berlin am 1. 4. 45 „zog er einen Doppelstrich
quer über das Papier und begann darunter den nächsten Eintrag zuerst mit
Ort und Datum: Lübeck, 3.5.45.“ Schlussstrich gezogen: Symbolischer und
aussageloser geht es nicht.
Die über 50 Jahre geführten Tagebücher, so Pils, „lassen an verschiedenen
Stellen den Schluss zu, dass sich Schneider/Schwerte über die permanente
Gefahr im Klaren war, jederzeit enttarnt werden zu können“. 1993 wurde es
ernst. Tagebucheintrag 20. 10.: „Die zweite Zusendung aus Aachen … Jemand
muss die Akten Ahnenerbe in die Hand bekommen, abgelichtet haben.“ Als die
Maske fiel, sei er „von der Heftigkeit der Reaktionen auf seine Enttarnung
überrascht“ gewesen.
„Hans Schwerte“ wird noch immer als Ex-Rektor geführt
Und die Reaktionen der Hochschule selbst? Pils hat festgestellt: „Handfeste
Gerüchte über die SS-Vergangenheit von Schwerte gab es bereits in den 80er
Jahren, weit vor dessen Enttarnung. Die Ignoranz, mit der viele Professoren
darauf reagierten, ist erschreckend.“ Immerhin, zum 150. Hochschuljubiläum
in diesem Jahr, gebe es „eine offensive, selbstkritische
Auseinandersetzung“ – ihre Arbeit ist Teil davon. Gleichwohl sei das Wissen
um den Mann „auch heute noch überraschend wenig präsent“. Die TH-Website
bestätigt dies. Dort wird immer noch ein „Hans Schwerte“ als Ex-Rektor
geführt.
Geändert hat sich, Beispiel Aachen, bis heute nur punktuell etwas beim
Ahnen-Erbe der Nazizeit: Bisweilen wurde ein [1][ehrender Straßenname] für
nazinahe Ex-Professoren entfernt – meist aufgrund von Protest aus der
Bevölkerung. Aber bis heute gibt es im Univiertel einen Eckertweg zur
Erinnerung an Geografie-Ordinarius und Dekan Max Eckert-Greiffendorf, der
schon 1933 öffentlich zur Wahl Hitlers aufrief. Neben dem
„Studentenwohnheim Eckertweg“ hat die Studentenverbindung Wiking ihren Sitz
im „Wikingerhaus“, das zufällig 1933 gebaut wurde.
Und Paul Röntgen ist bis heute Ehrensenator. Der Metallurg, Rektor nach dem
Krieg, stand für die „Gratwanderung deutschnationaler Funktionseliten und
ihre Einbindung in die NS-Politik“, wie TH-Historiker 2005 in einem
Gutachten feststellten. Gleich 1933 hielt er bei einem Hochschul-Festakt
Propagandareden gegen „die bolschewistischen Horden“. Nach 1945 stellte
Röntgen seinen schwer mit dem Vorwurf des Antisemitismus belasteten
ehemaligen Rektorenkollegen Alfred Buntru und Otto Gruber
Gefälligkeitsgutachten aus, die als Persilschein für weitere
wissenschaftliche Taten qualifizierten.
Schneiderschwerte wurde 1995 der Professorentitel aberkannt, Beamtenbezüge
und -pension zurückgefordert. Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse musste er
zurückgeben. Die Staatsanwaltschaft leitete noch ein Verfahren wegen
Beihilfe zum Mord ein, wegen der Beteiligung an medizinischen Experimenten
im KZ Dachau. Das Verfahren wurde eingestellt. Seinen gefälschten
Lebenslauf kommentierte S.-S. noch mit den zynischen Worten „Ich habe mich
doch selbst entnazifiziert“ und starb 1999 in einem bayerischen
Seniorenheim.
„Ein bundesrepublikanisches Biografiemuster“
Während ihrer Dissertation stieß Angelina Pils, wie sie sagt, auf „eine
Reihe überraschend ähnlicher Lebenswege“ ehemaliger SS-Größen in die
Demokratie, deren Untersuchung „auf ein [2][bundesrepublikanisches
Biografiemuster] hindeutet“. Eine Tätergruppe, die sich erst „für den
Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ engagierte und sich dann
„flexibel an neue Anforderungen anpasste“.
So wurde, berichtet Pils, aus der „Grenz- und Volksdeutschtumsforschung“
des SS-Hauptsturmführers Hans Schwalm nun eine „Geographie Osteuropas“, die
er als Professor in Tübingen schrieb. Und aus „volkskundlichen
Feindstudien“ wie bei Karl Heinz Pfeffer ließ sich eine „Soziologie der
Entwicklungsländer“ anknüpfen, die er in Münster unter Helmut Schelsky
erforschte. Neue Identitäten waren da gar nicht nötig.
27 Jan 2021
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## AUTOREN
Bernd Müllender
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Aachen
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NS-Forschung
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Lesestück Recherche und Reportage
Holocaust-Leugner
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