| # taz.de -- Brandenburg plötzlich anders sehen: Zwischen Grunow und Alexanderp… | |
| > Wo ist das eigentlich, das Ankommen? Und wie ist es zu beschreiben? Ein | |
| > Auszug aus Uwe Radas neuem Buch „Siehdichum“. | |
| Bild: Gleise am Bahnhof von Grunod (Niederlausitz) | |
| Wo ist das eigentlich, das Ankommen? Und wie ist es zu beschreiben? Ist es | |
| ein Ort, vom dem man ausschwärmt in die Umgebung, um dann wieder | |
| zurückzukehren und am Abend beim Glas Wein im Garten oder an der | |
| Feuerschale von der wilden Landschaft an den Torfstichen, der Wasserscheide | |
| zwischen Nord- und Ostsee oder dem Jagdhaus in Siehdichum zu berichten? Von | |
| der Landschaft, die ich mir langsam zusammenpuzzeln muss, vom Neuzelle der | |
| Mönche, den Heidereitern in Dammendorf und den Ordensrittern in Friedland, | |
| den sorbischen Predigern in Lieberose, den Schmugglern an der ehemaligen | |
| märkisch-sächsischen Grenze. Aber wie groß ist der Radius, den man ziehen | |
| darf, um das Ankommen nicht zu strapazieren? Wird es, wenn die Streifzüge | |
| zu weit in entlegenes Gelände führen, seine Anziehungskraft verlieren, | |
| schwebt über allem auch die Drohung des Fortgehens? | |
| Oder ist es genau andersherum? So wie bei einer Liebe, deren Geheimnis | |
| nicht auf einem Versprechen beruht, sondern auf dem innigen Gefühl der | |
| Verbundenheit und Vertrautheit, das ein Wiedersehen hervorruft? Ich komme | |
| wieder, weil ich es will und nicht, weil es von mir erwartet wird? | |
| Oft stellen sich solche Fragen in ihrer sanften Hartnäckigkeit an | |
| Bahnhöfen. Bahnhöfe, und seien es nur die Haltepunkte einer Regionalbahn, | |
| sind, so würden es Geografen sagen, die Schnittstellen zwischen den Spaces | |
| of place und den Spaces of flow. Das Bahnhofsgebäude und der Bahnsteig sind | |
| als Orte unverrückbar und im Liegenschaftskataster eingezeichnet. Der Zug | |
| hingegen, in den man einsteigt, lässt diese Orte binnen kurzer Zeit | |
| verschwinden – oder aber er steigert, wenn man nicht abfährt, sondern | |
| zurückkehrt, die Vorfreude auf das Ankommen. | |
| ## Warum Moskau oder Warschau? | |
| So habe ich es immer wieder erlebt. Wenn ich in die Regionalbahn der Linie | |
| 36 steige, ein kleiner, wenn auch moderner Dieseltriebwagen in | |
| gewöhnungsbedürftigem Blauweißgold, der von der Niederbarnimer Eisenbahn | |
| betrieben wird, dauert es zwar ein wenig, bis mich die vertraute Umgebung | |
| des Bahnhofs ins Unbestimmte des Raums entlässt. Spätestens in Frankfurt | |
| (Oder) aber, nach 25 Minuten Fahrt durch ausgedehnte Robinien- und | |
| Kiefernwälder, habe ich Anschluss an die Welt, kann umsteigen auf den RE1 | |
| nach Berlin oder den Eurocity nach Warschau. | |
| Manchmal steht auf dem Bahnsteig, an dem die Regionalbahn ankommt, auch ein | |
| Zug nach Moskau zum Einstieg bereit. Er ist ein untrügliches Zeichen dafür, | |
| dass ich auf dem Metropolitan Corridor angekommen bin, den der einst an der | |
| Viadrina lehrende Osteuropahistoriker Karl Schlögel beschrieben hat. Dieser | |
| Korridor, meint Schlögel, „ist ein Raum verdichteter Bewegung, mit Staus | |
| und Knotenpunkten. Die Städte, die im Metropolitan Corridor liegen, haben | |
| mehr miteinander zu tun als mit den Provinzen, die sie umgeben. Im Korridor | |
| herrscht CNN-Zeit. Sie ist in Moskau nicht anders als in Warschau oder | |
| Berlin.“ | |
| Meistens denke ich in Frankfurt aber nicht an Moskau oder Warschau, eher | |
| frage ich mich, ob ich in der Bahnhofshalle noch einen Kaffee hole, denn | |
| der Regionalexpress nach Berlin fährt erst eine Viertelstunde später ab. | |
| Auch dann geht es zunächst über Felder und Wälder und Orte, die heißen | |
| Hangelsberg oder Fangschleuse. Erst in Erkner wird es voller im Zug, nun | |
| ist die Entfernung erreicht, in der die Pendler ihren Radius gezogen haben. | |
| Bin ich auch einer von ihnen, nur dass ich von weiter her komme? Oder bin | |
| ich nur ein Gelegenheitsfahrer, der nicht täglich in die Stadt muss, weil | |
| es seit Corona ein neues Zauberwort gibt: Homeoffice. | |
| Und dann kommt, unerwartet, dieser Moment, in dem sich alle Fragen auf | |
| einmal stellen. Kurz hinter der Jannowitzbrücke, wo sich der | |
| Regionalexpress von einer Kurve in die andere legt und den Blick freigibt | |
| auf die Spree und den Fernsehturm, kündigt die Lautsprecherstimme an: Wir | |
| erreichen nun Berlin-Alexanderplatz. In diesem Moment bin ich nicht mehr | |
| der, der 35 Jahre ausschließlich in Berlin gelebt hat. Vielmehr werde ich | |
| zu einem, der die Stadt plötzlich von außen sieht, der sich überfordert | |
| fühlt, wenn er Berlin-Alexanderplatz hört, weil diese beiden Wörter | |
| aufgeladen sind mit all dem, was den Mythos dieser Stadt ausmacht: | |
| Literatur, Architektur, Tempo, friedliche Revolution. Wer bin ich, der sich | |
| in diesen mythischen Raum hineinbegibt, denn ein Space of place, ein bloßer | |
| Ort, ist der Alexanderplatz nur für die, die bei Galeria Kaufhof arbeiten? | |
| ## Der Atem geht langsamer | |
| Ganz anders fühle ich mich, wenn ich von Berlin nach Grunow fahre. Schon | |
| auf dem Bahnsteig an der Friedrichstraße spüre ich, wie der Atem langsamer | |
| geht, ich muss mir keine Sorgen mehr um meinen Platz in der Stadt machen. | |
| Der Regionalexpress wird mich wieder hinausbringen, erst nach Frankfurt und | |
| dann an den Ort, von dem ich aufgebrochen war vor ein paar Tagen. In einer | |
| Stunde und 42 Minuten werde ich in Grunow aus der Regionalbahn steigen, gut | |
| möglich, dass mich meine Frau abholt oder Moritz, unser Kater, der nur die | |
| Abende bei uns verbringt. Als wir einmal vom Grunower Bahnhof in den Urlaub | |
| aufgebrochen sind, hat er uns bis zum Bahnsteig begleitet. Es war einer der | |
| wehmütigsten Abschiede, die ich erlebt habe. | |
| Wenn mich niemand abholt, bleibe ich erst einmal auf dem Bahnsteig stehen. | |
| Lasse den blauweißgoldenen Zug vorfahren, beobachte, wie er die | |
| Bundesstraße überquert und leicht geneigt in einer Rechtskurve in den Wald | |
| entschwindet. Erst dann gehe ich los. Sehe den Sternenhimmel über mir oder | |
| schmecke den Frühling, biege ein aufs Grundstück, schaue in den Garten, | |
| setze mich einen Moment. Ich bin wieder angekommen und nichts, denke ich, | |
| deutet darauf hin, dass ich je weg gewesen war. | |
| Ging es den Bewohnern unseres Hauses vor hundert Jahren ähnlich? Oder vor | |
| knapp 150 Jahren, als die Bahnstrecke von Cottbus nach Frankfurt (Oder) in | |
| Betrieb genommen wurde? Am 1. Januar 1877 wurde die Strecke feierlich | |
| eröffnet. Weil damals schon die Verbindung zwischen Cottbus und Dresden | |
| bestand, konnte man von Grunow nun ohne Umsteigen ins sächsische Elbflorenz | |
| fahren und in der Gegenrichtung nach Frankfurt (Oder). Der erste Tageszug | |
| von Frankfurt startete um 4.15 Uhr und kam um 8.55 Uhr in Dresden an. Etwas | |
| mehr als viereinhalb Stunden von der Oder an die Elbe. Die Fahrpreise | |
| betrugen in der 2. Klasse 10 Mark, und in der 3. Klasse 6.50 Mark. | |
| Ein Bahnhofsgebäude gab es damals in Grunow nicht, das wurde erst 1888 | |
| eingeweiht, ein Jahr später kam ein Erweiterungsbau dazu. Wenige Jahre vor | |
| dem Ersten Weltkrieg musste der Bahnhof dann umbenannt werden. Die | |
| Königliche Eisenbahndirektion Halle/Saale hatte am 1. Oktober 1908 | |
| mitgeteilt, dass der Stationsname Grunow geändert werden müsse, weil beim | |
| Neubau der Strecke von Topper nach Meseritz in der Eisenbahndirektion Posen | |
| ebenfalls ein Dorf namens Grunow den Anschluss an die Bahn bekommen sollte. | |
| Aus dem Grunow dort wurde Grunow (Neumark), unseres hieß Grunow (Lausitz). | |
| Inzwischen wurde aus der Lausitz die Niederlausitz, während eine Station | |
| weiter Richtung Beeskow der Haltepunkt Schneeberg den Zusatz Mark trägt. So | |
| lässt uns die Bahn die alte Grenze zwischen der bis 1815 zu Sachsen | |
| gehörenden Niederlausitz und der Mark Brandenburg in Erinnerung behalten. | |
| Es ist beileibe nicht die einzige ehemalige Grenze, die sich durch die | |
| Region rund um Siehdichum zieht. | |
| Zuvor war schon 1898 die Nebenstrecke von Grunow nach Königs Wusterhausen | |
| eingeweiht worden. Für die Grunower gab es nun drei Möglichkeiten, in die | |
| Ferne aufzubrechen: An die Oder, an die Elbe oder an den Scharmützelsee, | |
| das „Märkische Meer“. Heute ist das Geschichte. 1996 wurde die alte Strecke | |
| von Frankfurt nach Cottbus stillgelegt. Sie war nicht mehr rentabel. Nun | |
| fährt die Regionalbahn von Frankfurt nur noch nach Königs Wusterhausen, | |
| immerhin stündlich. | |
| ## Das Gleis ist abgebaut | |
| Am Grunower Bahnsteig sind die Gleise der Stammstrecke längst abgebaut. Nur | |
| die Schwellen und der Schotter liegen noch da. Oft frage ich mich, ob das | |
| vielleicht ein Hinweis darauf ist, dass Bahnhöfe nicht nur Schnittstellen | |
| sind zwischen den Spaces of place und den Spaces of flow. Dass der | |
| Gegensatz zwischen dem Bahnhof als Ort und dem Zug als Raumkapsel | |
| eigentlich erweitert werden müsste um dieses stillgelegte Gleis. Aber was | |
| wäre es dann? Erzwungener Stillstand? Das Abhängen einer Region, so wie man | |
| in den Western einen Güterwagen abhängt, auf dem die Indianer in Deckung | |
| gegangen sind, bevor sie angreifen können? | |
| Wir in Grunow haben noch gut reden, wir kommen mit der Dieselbahn immerhin | |
| weg vom Bahnhof. Aber was ist mit denen in Groß Briesen und Weichensdorf, | |
| in Ullersdorf und Lieberose, in Tauer, Peitz und Willmersdorf? An den | |
| Bahnhöfen dort gibt es nur noch stillgelegte Bahnsteige und Schotter | |
| zwischen den Schwellen. Und was ist mit Siehdichum, das noch nicht einmal | |
| eine Bushaltestelle hat? Gehören sie zur abgewandten Seite des Metropolitan | |
| Corridor? Wer den Korridor verlässt, schreibt Schlögel, „fällt aus der | |
| CNN-Zeit heraus. Er ist nicht mehr erreichbar, nicht einmal durch die | |
| Briefpost, auf die kein Verlass mehr ist. Hier gibt es keine Highways. Hier | |
| gibt es vielleicht schöne Wälder, aber keine Hoffnung und keine Arbeit mit | |
| Perspektive. Während im Korridor die zivile Armada der Trucks rollt, | |
| leuchtet in der Dunkelheit, die jenseits des Korridors herrscht, der Mond. | |
| Tau fällt.“ | |
| Keine Schnittstellen zwischen Spaces of place und Spaces of flow sind die | |
| Bahnhöfe dort, sondern liegengelassene Orte, an denen es an keiner Schranke | |
| mehr bimmelt und keiner mehr ankommt, um vom Kater oder dem Sternenhimmel | |
| begrüßt zu werden. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass das | |
| der Normalzustand ist in dieser Region, die schon immer im toten Winkel | |
| gelegen war. | |
| Aber ein wenig Hoffnung gibt es doch. Bald soll es auf der ehemaligen | |
| Trasse von Cottbus einen Heideradweg geben. Vielleicht findet er ja in | |
| Grunow Anschluss an die Bahnstrecke. | |
| Uwe Rada liest aus „Siehdichum. Annäherungen an eine brandenburgische | |
| Landschaft“ am 8. Juli um 20 Uhr im Park des Schlosses Schönhausen in | |
| Pankow. Anmeldungen unter [email protected] | |
| 7 Jul 2021 | |
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| Uwe Rada | |
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