# taz.de -- 25 Jahre gescheiterte Länderfusion: Ich fühl mich Brandenburg | |
> Nazis, industrielle Landwirtschaft? Oder Landlust, Ruhe, regionale Küche? | |
> Brandenburg hat sein provinzielles Image abgestreift. Die Berliner Sicht. | |
Bild: Am Standrand von Berlin, wo die Grenzen fließend sind, und Brandenburg b… | |
BERLIN taz | Wer sich in der [1][„Brandenburgerie“] von Thomas Skorloff in | |
Prenzlauer Berg umschaut, wird Mühe haben, sich vorzustellen, dass von | |
Brandenburg einst als „kulinarischer Wüste“ die Rede war. In Skorloffs | |
Laden in der Sredzkistraße gibt es Wildschweinschinken aus Lehnin, im | |
Eichenfass gereiften Pinotin vom Werderaner Galgenberg oder Bioschokolade | |
aus der Lausitz. | |
2016 radelte Skorloff mit seiner Lebensgefährtin Yvonne Voigt durch die | |
Uckermark und war überwältigt vom vielfältigen Angebot in den Hofläden. | |
Seitdem sehen sich die beiden als „kulinarische Botschafter der Mark | |
Brandenburg“ in Berlin. | |
Natürlich sind das „Asia-Eck“, „Kebap-Haus“ und „Gabi’s Imbisseck�… | |
aus den Brandenburger Kleinstädten verschwunden, aber es gibt eben auch die | |
Wilde Klosterküche in Neuzelle oder die Alte Überfahrt in Werder, und beim | |
Angebot dazwischen geht der Trend nach oben. „Nimm dir essen mit, wir | |
fahren nach Brandenburg“, müsste Rainald Grebe heute nicht mehr texten, das | |
augenzwinkernde „Na, na!“ nimmt er ohnehin in Kauf, pendelt der | |
Liedermacher inzwischen doch selbst zwischen Prenzlauer Berg und Uckermark. | |
So schnell kann es also gehen mit dem Imagewandel. Als Grebe 2005 in seinem | |
Brandenburg-Lied die Abwanderung mit dem Spottvers „Da stehen drei Nazis | |
auf dem Hügel und finden keinen zum Verprügeln“ aufs Korn nahm, hatte er | |
die Schenkelklopfer noch auf seiner Seite. Inzwischen ist die Freundschaft | |
einer stadtmüden Berlinerin mit einem sensiblen „Dorfnazi“ in Juli Zehs | |
„Über Menschen“ sogar bestsellerfähig geworden. Überall bloß noch | |
Brandenburgversteher? Was ist da bloß passiert? | |
## Fluide Identitäten zwischen Stadt und Land | |
Gar nicht so viel, meint Thomas Skorloff von der „Brandenburgerie“ und | |
weist zu Recht darauf hin, dass die Grenzen zwischen Berlin und Brandenburg | |
bei den Alteingesessenen in Prenzlauer Berg schon immer fließend gewesen | |
seien. „Schon in den achtziger Jahren sind die Leute ins Oderbruch oder in | |
die Uckermark“, sagt der gebürtige Berliner. „Viele haben ja auch eine | |
Datsche in Brandenburg oder ein Wochenendhaus. Für die gehört beides | |
zusammen.“ | |
Wer nach der Wende wie [2][Rainald Grebe] aus Westdeutschland in den | |
Prenzlauer Berg gezogen ist, kennt diese fluiden Identitäten zwischen Stadt | |
und Land aus der Nachbarschaft oder von Kneipengesprächen. Und wer das | |
nötige Kleingeld hatte, folgte einfach der A 11 oder der B 96 über die | |
Stadtgrenze hinweg und ließ sich nieder. Lange bevor Orte wie Gerswalde in | |
der Uckermark ihre Hipstergeschichten schrieben, war Brandenburg für viele | |
Berlinerinnen und Berliner Alltag – was nicht hieß, dass sie über Grebes | |
Lied nicht auch herzlich lachen konnten. Immerhin hat er auch den | |
Prenzlauer Berg aufs Korn genommen. | |
Um zu verstehen, wie es zum jüngsten und von Corona noch befeuerten | |
[3][Brandenburg-Hype in Berlin] gekommen ist, muss man vielleicht weniger | |
auf den Prenzlauer Berg schauen, als vielmehr in den Westteil der Stadt. | |
Vor allem die linke Szene hat dort vor dem Fall der Mauer eine | |
Selbstisolierung kultiviert, die es im Osten in diesem Ausmaß nicht gegeben | |
hat. | |
Den Runden Tischen der Wendezeit stand in Kreuzberg nicht selten eine | |
Wagenburgmentalität gegenüber. So sehr hatte man sich im Schatten der Mauer | |
eingerichtet, dass sogar die Öffnung der Oberbaumbrücke eine Bedrohung | |
darstellte. Allerdings steckte hinter dieser Abschottung nicht nur die | |
Angst, politisch vereinnahmt zu werden, sondern auch eine gewisse | |
Überheblichkeit gegenüber den „Normalos“. | |
## Die Angst vor einem dominanten Berlin | |
Als man auf die dann nach dem Mauerfall im Umland in ihrer Brandenburger | |
Variante traf, zog sich mancher schnell wieder in die eigenen Nischen (und | |
den Kreuzberger Kinderbauernhof) zurück. Das Bild von Brandenburg als | |
Naziland hat eines seiner Ursprünge auch in dieser Spielart des Klassismus. | |
Freilich ist das Verhältnis zwischen Westberlin und Ostberlin zu | |
Brandenburg nicht frei von Paradoxien. Als es am 5. Mai 1996 zu zwei | |
unabhängig voneinander stattfindenden Volksentscheiden kam, waren sich die | |
Brandenburgerinnen und Brandenburger einig. Sie stimmten gegen die geplante | |
Länderfusion. Zu groß war ihre Angst vor einem dominanten (und | |
verschuldeten) Berlin in einem gemeinsamen Bundesland. | |
In Berlin dagegen votierte eine Mehrheit mit Ja. Dabei hat der Westteil den | |
Ostteil interessanterweise überstimmt. Denn in Westberlin war die Mehrheit | |
mit 58,7 Prozent pro Fusion, die Ostberliner aber stimmten mit 54,7 Prozent | |
mehrheitlich dagegen. | |
War das Votum im Ostteil der Stadt eine späte Rache an der Vereinigung? | |
Oder lag es auch an der im Vergleich zum Westteil niedrigeren | |
Wahlbeteiligung? Oder dachten die in Ostberlin, man muss ja nicht gleich | |
jemanden heiraten, mit dem man schon in den Kindergarten gegangen ist? | |
## Berliner Hochnäsigkeit | |
Tatsache ist, dass zwischen beiden Ländern die schlechte Stimmung zunahm. | |
Rhetorischer Höhepunkt Berliner Hochnäsigkeit war der Satz des damaligen | |
Finanzsenators Thilo Sarrazin, der von der Region als „Berlin mit | |
angeschlossener Landschaftspflege“ gesprochen hatte. Im Gegenzug würde bis | |
heute kein Politiker in Brandenburg mit der Idee punkten können, eine | |
Neuauflage der Fusion zu fordern. Es wäre schlicht politischer Selbstmord. | |
Vielleicht auch deshalb, weil derzeit keiner so recht weiß, welche Folgen | |
die neue Landlust der Berlinerinnen und Berliner für die Mark hat. Ist sie | |
Segen, so wie in Bad Belzig, wo sich ein neues Miteinander von „Alten“ und | |
„Neuen“ anbahnt und die Abwanderung nach der Wende gestoppt hat? Oder gibt | |
es auch auf dem Land eine Verdrängung und neuen Streit, wenn die | |
Berlinerinnen und Berliner ihre Blase mit in die Dörfer bringen. Die | |
„urbanen Dörfer“, die in Berlin inzwischen propagiert werden, klingen | |
manchem auf dem Land ja auch wie eine Drohung. | |
Gleichwohl ist die Eiszeit längst vorbei. In vielen Brandenburger Ämtern | |
und Rathäusern hat eine junge Generation das Ruder übernommen, die nicht | |
selten in Berlin studiert hat. Dort ist märkische Sturheit professioneller | |
Vernetzung gewichen. Das moderne Brandenburg weiß, was es an Berlin hat. | |
Und viele Berlinerinnen und Berliner, die auf dem Land ihre Projektideen | |
vorbringen, haben neben der sprichwörtlichen Verstocktheit auch diese neue | |
Offenheit kennengelernt. | |
Selbst in Kreuzberg scheint die Landlust inzwischen mehr zu wiegen als die | |
Selbstgerechtigkeit des „woken“ Milieus mit seiner politischen | |
Überkorrektheit. Die „Baseballschlägerjahre“ der Neunziger sind zwar nicht | |
vergessen, aber auch in der Provinz ist das Leben heute vielfältiger | |
geworden. Junge Berlinerinnen und Berliner können sich davon überzeugen, | |
wenn sie im Sommer eines der alternativen Festivals besuchen. | |
## Sehnsuchtsort Brandenburg | |
Für viele Berliner ist Brandenburg, erst recht seit der Pandemie, zum | |
Sehnsuchtsort geworden. Stadtfrust und Landlust, neu ist das allerdings | |
nicht. Schon während der Industrialisierung gab es die erste Idealisierung | |
der Mark, die vorher kaum einer als „schön“ oder „lieblich“ empfunden | |
hätte. Doch je mehr Berlin zum „Moloch“ geworden war, desto mehr sehnten | |
sich die Berlinerinnen und Berliner nach der Natur. Das war die | |
Geburtsstunde der Mark als touristisches Ziel. | |
Heute ist Berlin zwar kein Moloch mehr, aber für viele ist es unbezahlbar | |
geworden. Wer freilich raus muss, der redet sich die Reise ins Unbekannte | |
auch schön, so wie die Protagonisten Marthe und David in Kathrin Gerlofs | |
Roman „Nenn mich November“. | |
Denn auch das gibt es im neuen Berliner Bild von Brandenburg. Das Land als | |
Dystopie und erzwungenes Exil zwischen Windrädern, Schweinemastbetrieben | |
und pestizidgetränkten Maisäckern. Vielleicht ist das auch eine | |
Immunisierung gegen die drohende Romantisierung. | |
Und ein Schritt in Richtung einer realistischeren Wahrnehmung der Mark in | |
der Metropole. Denn daran scheint es noch etwas zu hapern, meint Thomas | |
Skorloff. „Wenn die Berliner nach Brandenburg ziehen und ihren Nachbarn als | |
Erstes anbieten, kollektiv zu gärtnern, dann hat ihnen wohl noch keiner | |
verraten, dass die Leute im Dorf alle schon einen Garten haben.“ | |
Uwe Rada, 57, lebt seit 1983 in Berlin und seit 2018 auch im Schlaubetal. | |
30 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://brandenburgerie.de/ | |
[2] https://rainald-grebe.de/ | |
[3] /Berlin-oder-Brandenburg/!5678356 | |
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