# taz.de -- Freiberufler in der Coronakrise: Langsam geht’s an die Substanz | |
> Das Jahr über haben wir sechs Soloselbstständige befragt, wie sie die | |
> Coronakrise überstehen. Eine Bestandsaufnahme im trüben November. | |
Bild: Ira Göbel ist Pianistin und Musiklehrerin – und eine von rund 200.000 … | |
BERLIN taz | Es ist nun das vierte Mal in diesem Jahr, dass wir mit | |
denselben sechs Berliner Soloselbstständigen gesprochen haben. Anlass war | |
und ist die Coronakrise und die besorgte Frage, wie diese für Berlin so | |
wichtige Personengruppe über die Runden gekommen ist, wie ihre Hoffnungen | |
sind, wie ihre Ängste. Sie alle konnten [1][Anfang April und Mitte Mai] | |
nicht mehr oder kaum noch arbeiten, verdienten nichts oder wenig – und | |
kamen dafür noch ausgesprochen beschwingt daher. Einige von ihnen konnten | |
zwischenzeitlich wenigstens ansatzweise zurück in ihren gewohnten Alltag, | |
den Ausfall aufholen, ihr Arbeitsumfeld an die neuen Auflagen anpassen. Und | |
sie alle wurden durch die Schließungen im November umso härter getroffen. | |
Das Berliner Prekariat – und auch die Berliner Kreativwirtschaft – ist | |
krisenerprobt, das ließ sich bei jedem einzelnen der Gespräche im Frühjahr | |
und Sommer gut raushören. Viele derer, die wir immer wieder befragen, sind | |
zu einer Zeit in die Stadt gekommen, als die Mieten noch kein Problem | |
waren. Hier konnte man mehr als irgendwo anders Projekte realisieren, deren | |
vorderstes Ziel nicht unbedingt das große Geld ist. Für diese Leute war und | |
ist die Coronakrise einerseits eine Bedrohung wie für alle anderen auch. | |
Sie wären andererseits aber auch die Ersten, denen die Puste ausgehen | |
würde, denn allzu oft operieren sie auch ohne Krise und schon seit | |
Jahrzehnten am Rande des Aushaltbaren. | |
Dafür zeigten sie sich bei unseren Gesprächen im April, Mai und Juli | |
ausgesprochen zuversichtlich. Viele von ihnen hatten zum allerersten Mal | |
überhaupt finanzielle Hilfe vom Staat erhalten. Sie fühlten sich unerwartet | |
gut aufgehoben in einer Stadt, die sie nicht immer in Watte gepackt hat. | |
Sie sahen aber auch weit über den Tellerrand hinaus, hatten Lust, über | |
etwas neues Großes und Ganzes nachzudenken, vielleicht sogar daran | |
mitzuwirken. Viele meinten, die Krise sei eine Chance, dass die | |
Gesellschaft nun endlich anfängt umzudenken und zukünftig in größeren | |
Schritten vorankommt in den Dingen, die wirklich zählen: etwa in Sachen | |
Klimaschutz, zum Beispiel auch in Sachen soziale Gerechtigkeit. | |
Wenn man sich heute mit einigen von Berlins rund 200.000 FreiberuflerInnen | |
unterhält, bekommt man ganz andere Eindrücke. Das liegt einerseits | |
natürlich daran, dass bei Ausbruch der Corona-Epidemie der Sommer vor uns | |
lag – und nun, bei der zweiten Hälfte, ein langer, trüber Berliner Winter. | |
Niemand weiß, wie lang die angeblich temporären Schließungen wirklich | |
aufrechterhalten werden müssen. Auf der anderen Seite wurde den Befragten | |
bei Beschluss der Schließungen Ende Oktober versprochen, dass die | |
Überbrückungshilfe fließen wird. Diese können sie aber erst Ende des Monats | |
beantragen – also deutlich zu spät für Menschen, die sich oft von Monat zu | |
Monat hangeln. | |
## Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens | |
Hinzu kommt, dass offenbar immer mehr Leute im Umfeld unserer Befragten in | |
die Verweigerungshaltung rutschen. Sie berichten von zu vielen offenen | |
Fragen, von zu wenig Rücksichtnahme und Solidarität – und auch, dass es | |
schwieriger werde, Kritik zu äußern, ohne dafür in die Ecke von | |
Reichsbürgern und anderen Nazis gestellt zu werden. Dass Berlins | |
Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) an diesem Montag | |
geschlossenen Gaststätten oder Theatern etwas Hoffnung auf etwaige | |
vorsichtige Lockerungen mit Auflagen gemacht hat, haben sie nicht gehört. | |
Viel eher würden sie hören, wenn endlich die Idee des bedingungslosen | |
Grundeinkommens lauter diskutiert würde, wie es etwa schon im März die | |
Berliner Korsettschneiderin und Soloselbständige Tonia Merz in einer | |
Petition gefordert hat. Bundesweit haben fast eine halbe Million Menschen | |
diese Petition unterzeichnet. Auch die Fraktion der Berliner Linken fordert | |
entsprechend einer Entschließung des Bundesrates vom 5. Juni, dass die | |
Kriterien der sogenannten Überbrückungshilfen des Bundes an die | |
„spezifischen Bedarfe der Kultur- und Kreativbranche angepasst werden“. | |
Soloselbständige sollten nicht nur wie seit Beginn der Coronapandemie | |
leichteren Zugang zur Grundsicherung erhalten. Und ein Pauschbetrag als | |
Einkommen muss her. | |
Das Hauptargument: Diese Menschen wollen arbeiten, dürfen aber leider | |
nicht. Sie können nicht mehr auftreten, sollen ihre Clubs und Kneipen nicht | |
mehr öffnen, keine Konzerte mehr veranstalten. Sie versuchen dennoch, sich | |
etwas einfallen zu lassen, weichen aufs Internet aus, proben mit | |
KollegInnen online, entwickeln Ideen für das kommende Spieljahr, für den | |
nächsten Festivalsommer, auch wenn es dafür zunächst einmal kein Honorar | |
gibt. Warum sollte man sie jetzt stören und zwingen, zu Ämtern zu gehen, | |
denen es in Fleisch und Blut übergangen ist, Bittsteller nach Erspartem, | |
den Einkommensverhältnissen des Partners und beruflicher Umorientierung | |
befragen könnten? | |
Die tapferen Berliner SolokämpferInnen werden verzagter, sie stellen immer | |
mehr Fragen, zum Beispiel danach, ob ihr Engagement überhaupt noch gefragt | |
ist. Dabei sind sie ein großer Teil des Gesichts unserer Stadt. Es wird | |
Zeit, dass die Politik etwas Grundsätzliches für sie tut. | |
21 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Freiberufler-in-der-Coronakrise/!5700574 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
## TAGS | |
Freiberufler | |
Selbständigkeit | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Betrug | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lockdown | |
Kunst | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Queer | |
taz-Serie Corona glokal | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Selbstständigkeit während Corona: Eine Frage der Wertschätzung | |
2,2 Millionen Soloselbstständige arbeiteten vor Corona in Deutschland. Nun | |
sind viele Existenzen bedroht. taz hat drei Freischaffende wiedergetroffen. | |
Betrug bei Coronasoforthilfen: Tausende Euro an fiktive Firmen | |
Mit schnellen Hilfszahlungen wollte die Bundesregierung Firmen | |
unterstützen. Offenbar wurden hierbei auch unrechtmäßig Beiträge | |
ausgezahlt. | |
Wie Corona Kunst und Kultur verändert: Theater im Wohnzimmer | |
Die einen lassen sich vom Virus inspirieren, anderen raubt es die Existenz. | |
Das Coronavirus verändert die Gesellschaft und Kunstschaffende. | |
Theaterszene im Online-Modus: Plötzlich Konkurrenz von Instagram | |
Coroabedingt mussten Theatermacher*innen auf online wechseln. Ein Buch | |
zeigt: Leider kreist die Szene dabei nur um den eigenen Darstellungsdrang. | |
Lockdown im Berliner Kulturbetrieb: „Das Vertrauen ist verloren“ | |
Berlins Kultureinrichtungen bleiben weiter geschlossen. Daniel Wesener | |
(Grüne) spricht über das, was jetzt am meisten drängt. | |
Kunst-Versteigerung „Direkte Auktion“: Tarantino, Trockel, Rauch | |
Künstler*innen sind die größten Pandemie-Verlierer. Nun werden mehr als 400 | |
Kunstwerke versteigert. Die Erlöse gehen größtenteils direkt an Urheber. | |
Debatte über Coronamaßnahmen: Lockdown bis Weihnachten | |
Die Corona-Einschränkungen sollen verlängert werden. Bis Weihnachten dürfen | |
sich nur zwei Haushalte treffen. Krach gibt es um ein Böllerverbot. | |
Queerer Rettungsschirm gefordert: „Jetzt muss es um Taten gehen“ | |
Queere Events und Projekte brauchen staatliche Hilfen, um die Corona-Krise | |
zu überleben, sagt Alain Rappsilber, Organisator des Folsom-Festivals. | |
Corona-Lage in anderen Metropolen (III): Wut über den zweiten Lockdown | |
In Tel Aviv halten viele den neuen Lockdown für politisch motiviert: Die | |
die Gastronomie leidet, doch die Ultraorthodoxen bekommen Zugeständnisse. | |
Selbstständig durch die Corona-Krise: Nur langsam kehrt Normalität zurück | |
Freiberuflern waren von der Pandemie hart betroffen. Nun arbeiten die einen | |
wieder. Die anderen verdienen weiter keinen Cent. Ein Stimmungsbericht. | |
Selbstständig durch die Corona-Krise: Immer noch gut gelaunt | |
Berlins Soloselbstständige sind besonders von den Lockdowns betroffen. Doch | |
sie bleiben erstaunlich optimistisch. Versuch einer Analyse. |