# taz.de -- Frauen in der Altersarmut: Wenn das Leben eng wird | |
> Viele Frauen erhalten im Alter so wenig Geld, dass es für den Alltag kaum | |
> reicht. Wie gehen sie damit um? Ein Besuch bei drei Rentnerinnen. | |
Ute Lauterbach kommt zu Fuß. Der Sturm bläst an diesem Morgen durch die | |
Kleinstadt Schulzendorf in Brandenburg, Lauterbach macht kleine Schritte | |
gegen den Wind. Sie sagt: „Ich bin nicht hier, um traurige Geschichten über | |
alte arme Frauen zu erzählen.“ Lauterbach will kein Opfer sein. Dabei gäbe | |
es dafür Gründe. Obwohl sie 40 Jahre gearbeitet hat, ist ihre Rente | |
niedrig. Wie niedrig genau, das will die 79-Jährige nicht öffentlich | |
machen. Wegen der Nachbar:innen. „Muss ja nicht sein.“ | |
Anna Wrbanatz betritt einen kleinen Laden in Berlin-Wedding. Drei leere | |
Milchflaschen klimpern in ihrem grünen Beutel, das sind 45 Cent Pfand. 800 | |
Euro hat sie im Monat inklusive Grundsicherung. „Ich bin arm“, sagt sie und | |
sortiert die Flaschen in eine der Leergutkisten. Sie schämt sich nicht. „So | |
ist das eben.“ | |
Anna H. schaut von ihrer Wohnung aus in die Olivenhaine. Sie hat 640 Euro | |
im Monat, wenig für ein Leben in Deutschland. Deshalb ist sie ausgewandert. | |
Sie wohnt jetzt auf der griechischen Insel Syros. Um die Armut zu | |
kaschieren, hat sie viele Strategien entwickelt. Sie sagt: „Meine Freunde | |
wissen nicht, wie wenig ich habe.“ | |
Drei Frauen. Drei Leben, die etwa zur gleichen Zeit begannen, in den 40er | |
und frühen 50er Jahren. Drei Frauen, die zur Schule gingen, eine Lehre | |
machten oder studierten, die Kinder bekamen, die sich verliebten und | |
trennten. Die alle einer Arbeit nachgingen, Familien versorgten und in die | |
Sozialkassen einzahlten. Die jetzt, im Ruhestand, mit wenig Geld dastehen. | |
So wie viele andere Rentnerinnen in Deutschland: 16,8 Prozent der über | |
65-Jährigen gelten als arm, das zeigt eine aktuelle Studie der | |
Bertelsmanns-Stiftung. Betroffen sind vor allem Frauen, Männer haben im | |
Ruhestand deutlich mehr Geld: Sie bekommen im Schnitt eine Altersrente von | |
1.148 Euro, Frauen nur 711 Euro. In keinem anderen europäischen Land ist | |
die Rentenlücke größer. | |
Seit Jahren tüfteln Politiker:innen an diesem Problem. Sie versuchten | |
das Rentenniveau zu stabilisieren und führten die Mütterrente ein. [1][Der | |
jüngste Vorschlag: die Grundrente.] | |
Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren | |
Haushaltseinkommens in Deutschland zur Verfügung hat – derzeit 1.035 Euro. | |
Es ist schwer zu beziffern, wie hoch ein angemessener monetärer Gegenwert | |
für eine Lebensleistung wäre. Aber Fakt ist: Die Lebensleistung von Frauen | |
wird auch im Jahr 2020 immer noch geringer bewertet als die von Männern. | |
Wie kamen Ute Lauterbach, Anna Wrbanatz und Anna H. in ihre Situation? Was | |
bedeutet Geld für sie? Und: Wie gehen sie mit ihrer Armut um? | |
Die Brandenburgerin Ute Lauterbach sagt am Telefon, dass sie keine | |
Journalist:innen im Haus haben will. „Da rate ich auch den anderen | |
Frauen von ab.“ Sie habe schlechte Erfahrungen gemacht, es gab schon mal | |
Gerede im Dorf. „Da hieß es auf einmal: Bei der sieht es doch gar nicht | |
aus, als ob sie arm wäre – warum beschwert die sich eigentlich?“ | |
Ein paar Tage später kommt sie zum Treffen beim Italiener, dem einzigen im | |
Ort. Schulzendorf, südöstlich von Berlin gelegen, ist klein. Ute Lauterbach | |
geht auf Krücken. „Das Knie“, sagt sie und lässt sich in den Stuhl sinken. | |
Kaum sitzt sie, beginnt sie zu erzählen. Von den Frauen in ihrer Ortsgruppe | |
des „Vereins der in der DDR geschiedenen Frauen“ – und dem nagenden Gefü… | |
der Demütigung. | |
Lauterbach ist eine der „Ostfrauen“, wie sie sie nennt. 40 Jahre lang hat | |
sie Kinder gehütet, ihre eigenen und die von Fremden. Als Erzieherin in | |
Kindergärten, später als Leiterin eines sogenannten Wochenheims, in dem | |
berufstätige Eltern ihre Kinder unter der Woche rund um die Uhr betreuen | |
ließen. Ihr Mann arbeitete als Ingenieur. | |
Als ihre Tochter kam, blieb Lauterbach drei Jahre zu Hause. Bei ihrem Sohn | |
setzte sie wieder aus. „Ich wollte für meine Kinder da sein“, sagt sie. Ihr | |
Mann arbeitete weiter. 1986 kam die Scheidung. Die Kinder blieben bei ihr. | |
Nach der Wende arbeitete Lauterbach noch mal zwölf Jahre in einem | |
Kindergarten. Seit 2001 ist sie im Ruhestand. | |
## Viele kämpfen trotz jahrzehntelanger Arbeit ums Überleben | |
Doch der ist schwierig. Monatlich muss Ute Lauterbach mit einem Betrag | |
auskommen, der knapp über dem liegt, was offiziell als armutsgefährdend | |
gilt. Kosten reduziert sie, wo sie kann. Dass sie mal auswärts essen gehe, | |
komme so gut wie nie vor, sagt sie. In dem italienischen Restaurant sitzt | |
sie an diesem Vormittag zum ersten Mal. | |
Lauterbach engagiert sich. Sie ist Sprecherin eines Vereins, der sich für | |
die Gleichstellung von Frauen einsetzt, die in der DDR geschieden wurden. | |
Frauen, die trotz jahrzehntelanger Arbeit heute mit Renten dastehen, die | |
nicht viel mehr absichern als das tägliche Überleben: Essen, Miete, Strom | |
und Telefon. Bei manchen nicht mal das. | |
Die konkreten Ursachen dafür gehen zurück bis in die 90er Jahre. Nach der | |
Wiedervereinigung wurden die Renten angeglichen – doch nicht in allen | |
Bereichen. Wie beim Versorgungsausgleich, der im Westen noch heute dazu | |
führt, dass Eheleute nach einer Scheidung die gleiche Chance auf | |
Altersvorsorge haben. Weil es den im Osten nicht gab, wurde er auch nach | |
der Wende nicht gewährt. | |
Den Betroffenen sind durch diese politische Grenzziehung viele Tausende | |
Euro verloren gegangen. Wie viel genau, darüber gibt es keine Zahlen. | |
Vielleicht auch weil diejenigen, um die es geht, kaum eine Lobby haben. | |
800.000 Frauen waren nach der Wiedervereinigung vom Nichtvorhandensein des | |
Versorgungsausgleichs betroffen, jetzt sind es laut Verein noch rund | |
100.000. „Die Frauen sterben weg“, sagt Ute Lauterbach. „Ohne zu ihrem | |
Recht gekommen zu sein.“ | |
Ein Recht, für das Ute Lauterbach gemeinsam mit anderen Frauen kämpft. Mit | |
Demos vor dem Bundestag, einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht und | |
einer zweiten vor dem Europäischen Gerichtshof. Bisher vergeblich. Für | |
Lauterbach ist das „eine unfassbare Ungerechtigkeit“. Ihre rote Bluse hebt | |
und senkt sich im Rhythmus ihrer Empörung. Die 79 Jahre merkt man ihr in | |
diesen Momenten nicht an. Die Wut schon. | |
Das große Rechnen am Ende des Monats, das kennen alle Frauen des Vereins. | |
Lauterbach erzählt von manchen, die seit vielen Jahren die alte Kleidung | |
auftragen. Die sich schämen, weil sie dem Enkel nur ein Buch schenken | |
können und kein teures Spielzeug. Die nicht ins Café gehen, nicht ins | |
Theater oder Kino, weil das Ausgaben sind, die kleine Löcher in den | |
Haushaltsplan reißen. Die inständig hoffen, dass die Waschmaschine noch ein | |
paar Jahre hält. | |
Sie erzählt von Leben, die im Alter eng werden. „Das sind Frauen, die immer | |
im Beruf standen“, sagt Lauterbach. „Die jetzt zu Bittstellerinnen werden, | |
die sich schämen, weil sie nichts mehr geben können.“ | |
Dass ihre Rente klein sein würde, das wusste Ute Lauterbach schon früh. | |
„Erzieherin ist ja ein typischer Frauenberuf.“ Weniger Verdienst und | |
schlechtere Aufstiegschancen gab es auch in der DDR. 16 Prozent weniger als | |
Männer verdienten Frauen im Schnitt, das zeigen Zahlen einer Studie zur | |
Lohnstruktur in der DDR. Ihr Mann habe das meiste Geld nach Hause gebracht, | |
sagt auch Lauterbach, sie habe sich mehr um die Kinder gekümmert. | |
Ein Rollenmodell, das auch im vereinigten Deutschland greift. Nur zehn | |
Prozent der Frauen zwischen 30 und 50 Jahren hierzulande verdienen derzeit | |
mehr als 2.000 Euro netto im Monat. In keinem anderen europäischen Land | |
tragen Frauen weniger zum Haushaltseinkommen bei. | |
Das liegt zum einen daran, dass viele Frauen noch immer in Berufen mit | |
wenig Aufstiegsmöglichkeiten und niedrigen Löhnen arbeiten. In der Pflege, | |
der Erziehung von Kindern oder in Minijobs, die das Familieneinkommen | |
aufstocken, aber nicht tragen. Dazu kommt, dass viele Frauen in Teilzeit | |
wechseln, sobald sie Kinder kriegen. Frauen verdienen durchschnittlich 16 | |
Euro die Stunde, Männer rund 4 Euro mehr. Ein Gefälle mit Folgen: Wer 40 | |
Jahre lang weniger als 1.200 Euro verdient, erhält später nur rund 490 Euro | |
Rente. | |
Anna Wrbanatz aus Berlin-Wedding bekommt noch weniger aus der Rentenkasse | |
als das, etwa 300 Euro im Monat. „So viel wie früher als Studentin“, sagt | |
sie. Sie muss lachen. Zusätzlich dazu bezieht sie Grundsicherung, insgesamt | |
habe sie im Monat rund 800 Euro zur Verfügung. Schon ihre Fixkosten liegen | |
bei 500 Euro. | |
An diesem Morgen im Februar ist sie auf dem Weg zu einer Foodcoop bei ihr | |
um die Ecke. Einem Zusammenschluss von Menschen, die einen selbst | |
organisierten Biosupermarkt gegründet haben. Die Preise sind günstiger als | |
anderswo. | |
Anna Wrbanatz hat den Beutel mit den leeren Milchflaschen fest im Griff. | |
Der schwarze Mantel sitzt perfekt, die hellblaue Mütze passt zu ihren | |
Augen. Wer sie sieht, ahnt nicht, dass sie fast jeden Freitag an einer | |
kirchlichen Einrichtung für Lebensmittel ansteht. | |
Vor allem Milch und Joghurt, „den ohne Zucker“, kauft sie in der Coop. Den | |
anderen Joghurt, den es in der Ausgabestelle gibt, mag sie nicht. Rund 50 | |
Euro kostet sie die Foodcoop pro Monat. „Das ist schon ein Luxus.“ | |
Wrbanatz räumt die Flaschen weg, rechnet das Pfandgeld zusammen und notiert | |
die 45 Cent in ihrem Ordner. Dann erst setzt sie sich und beginnt zu | |
erzählen. | |
Bis zu ihrer Rente arbeitete Anna Wrbanatz als Dolmetscherin und | |
Übersetzerin für einen südosteuropäischen Kulturverein. Dass sie mal selbst | |
für ihren Lebensunterhalt aufkommen würde, hätte sie als junge Frau nie | |
gedacht, sagt sie. „Ich bin dazu erzogen worden, Hausfrau zu sein.“ | |
Wrbanatz’ Eltern kommen aus Kroatien, 1963 wanderten sie mit drei Kindern | |
nach Deutschland aus, als Spätaussiedler. Anna Wrbanatz war die Älteste und | |
musste mit ran, schon mit 15 arbeitete sie in einer Lebensmittelfabrik in | |
Hessen. Dort stand sie am Fließband. | |
Die Familie lebte jahrelang in einem Auffanglager. „Das war ein Getto“, | |
sagt Wrbanatz. Die Deutschen beschimpften sie. | |
Das Abitur machte sie später an der Abendschule nach, gegen den Willen des | |
Vaters, aber mit Unterstützung der Mutter. Mit Ende Zwanzig begann sie in | |
Heidelberg ein Studium der Slawistik. „Brotlos“, aber eine große Freiheit. | |
Mit Stipendien reiste sie nach Italien, England und bis nach Russland. Nach | |
dem Studium ließ sie sich zur Dolmetscherin weiterbilden, sie spricht fünf | |
Sprachen. | |
1975 bekam sie ihre Tochter, unehelich. Das Kind wuchs beim Vater in Bayern | |
auf. Noch heute ist es ihr unangenehm, darüber zu sprechen. | |
In den 1980er Jahren ging Wrbanatz nach Berlin und machte nur noch, was sie | |
für richtig hielt. Sie zog in ein besetztes Haus, heiratete eine große | |
Liebe, die wieder zerbrach, und arbeitete für kleines Geld in einem | |
Kulturverein. Viel verdient hat sie nie. Damit gehadert aber auch nicht. | |
## Ihre Hobbys finanziert die Arbeiterwohlfahrt | |
[2][„Ich bin arm“], sagt Wrbanatz, „aber ich komme zurecht.“ Sie wirkt | |
schmal in dem blauen Wollpullover, den sie seit Jahren trägt, wie fast | |
alles aus ihrer Garderobe. Lähmen lässt sie sich nicht von der finanziellen | |
Enge. Im Gegenteil, sie hat einen straffen Wochenplan. Montags Malkurs, | |
dienstags Tango für Senioren. Mittwochs Frauentreff im nahen | |
Nachbarschaftsverein. Auch an diesem Vormittag, einem Donnerstag, steht | |
noch ein Kurs an: Schwimmen. Und morgen wieder die Lebensmittelausgabe. | |
Das erste Mal habe sie sich geschämt, dort Essen zu holen. Mittlerweile | |
kenne man sich, sagt Anna Wrbanatz. „Das sind normale Leute, wir haben uns | |
etwas angefreundet.“ Die Kurse finanziert die Arbeiterwohlfahrt, sonst | |
könnte sich Wrbanatz keine Hobbys leisten. Mit den Jahren hat sie gelernt | |
zu haushalten: Die Werbebroschüren in ihrem Briefkasten sucht sie nach | |
Sonderangeboten durch. | |
Wenn etwas im Angebot ist, greift sie gleich mehrfach zu. Dann isst sie | |
wochenlang den gleichen Käse. Muss sie ins Internet, fährt sie in die | |
Bibliothek. Will sie essen gehen, sucht sie nach Gutscheinen. Kleidung gibt | |
es bei der Kirche. Früher ging sie jeden Samstag zum Friseur, heute | |
schneidet sie sich die Haare selbst. Ihre größte Ausgabe in den letzten | |
Jahren war ein Tagesausflug in eine Therme in Brandenburg, mit anderen | |
Frauen aus dem Nachbarschaftsverein. „Auch alles Migrantinnen, auch alle | |
arm.“ | |
Frauen, die nach Deutschland einwandern, gehören zu den am stärksten von | |
Altersarmut Betroffen. Von den Zugewanderten über 65 Jahre sind 36 Prozent | |
armutsgefährdet. | |
Nicht nur Einwanderung, schlecht bezahlte „Frauenberufe“ und | |
Lohnungerechtigkeit erhöhen das Armutsrisiko – auch die Ehe macht Frauen | |
arm. Männer, deren Frauen wenig verdienen, werden in Deutschland durch das | |
Ehegattensplitting steuerlich bessergestellt. Ein Gesetz aus den späten | |
1950ern, das bis heute gilt. | |
Was es bedeutet, wenn Ehen geschieden werden, weiß Anna H. Sie ist 73 Jahre | |
alt und stolz darauf, dass man ihr Alter und Armut nicht ansieht. Rote | |
Brille, grauer Wollpullover, schwarze Leggings – sie legt wert auf ihre | |
Kleidung. „Das ist meine Erziehung, meine Herkunft“, sagt H. „Meine Mutter | |
war auch nicht reich, aber das hätte man ihr nie angesehen.“ | |
An diesem Morgen empfängt sie in ihrer Zweizimmerwohnung auf der | |
griechischen Insel Syros. Das Gebäude ist umgeben von Olivenbäumen, der | |
Strand ist nicht weit. Seit vier Jahren lebt sie hier. Eine Rentnerin auf | |
der Flucht vor der Armut. | |
640 Euro erhält sie pro Monat. Um damit klarzukommen, hat sie sich ein paar | |
Tricks zur Gewohnheit gemacht. Zu ihren Sparmaßnahmen gehört, dass sie sich | |
nur mit Kräutertee wäscht, indem sie die ganze Haut damit einreibt. „Eine | |
Kanne Tee hält eine Woche. Da braucht man kein Wasser und keine Seife.“ | |
Ihre Zähne putzt sie mit Kaffee. Ihre Haare wäscht sie mit einem Ei, das | |
hinterher mit einem Schuss Essig wieder herausgespült wird. „Das ergibt | |
glänzende, gesunde Haare, ganz ohne Chemie.“ Dass es kaum etwas kostet, ist | |
ein schöner Nebeneffekt. Nur Make-up und Lippenstift kauft sie im Laden. | |
„Aber das hält zwei Jahre.“ | |
Früher sei Geld kein Thema gewesen, sagt Anna H. und erzählt von ihrer | |
Jugend im gutbürgerlichen Westberlin. Nach der Schule machte sie eine Lehre | |
als Anwaltsgehilfin, wurde anschließend Sekretärin und heiratete mit | |
zwanzig Jahren den Bruder eines Schulfreunds. „Er war meine große Liebe.“ | |
Ihr Mann besaß sieben Blumenläden, sie war halbtags bei ihm angestellt. | |
Monatlich verdienten sie 10.000 Mark, lebten in einer großen Wohnung und | |
„auf großem Fuß“, so erzählt sie es. 1974 wurde die gemeinsame Tochter | |
geboren. | |
Doch dann fing ihr Mann an zu spielen und häufte enorme Schulden auf. | |
„Nachts um vier Uhr habe ich ihn von der Spielhalle abgeholt.“ H. reichte | |
die Scheidung ein, als die Tochter zwei Jahre alt war. „Plötzlich war alles | |
weg.“ Sie war nun alleinerziehende Mutter und arbeitete wieder als | |
Sekretärin, erst für 2.400 Mark, dann halbtags für 1.200. | |
Erst als die Tochter auszog, erfand sich H. neu: Sie wurde Malerin. | |
Zunächst war es nur als Hobby gedacht, aber schon die ersten Bilder | |
brachten jeweils 350 Mark. Sie arbeitete abstrakt, mit Sand und Erde, und | |
stellte bald in renommierten Galerien in Berlin aus. Es schien sich eine | |
vielversprechende Karriere anzubahnen, doch „als Frau, Anfängerin und | |
Autodidaktin war es nicht leicht, Geld zu verdienen“, sagt sie. | |
Sie hoffte, dass es im Ausland einfacher wäre. Sie malte einige Jahre auf | |
Mallorca und an der französischen Mittelmeerküste, doch das Geld reichte | |
gerade so aus, um den Mindestbeitrag für die Künstlersozialkasse aufbringen | |
zu können. | |
2002 kehrte sie nach Deutschland zurück. Es folgte eine „ziemlich schlechte | |
Zeit“, ihre Bilder verkauften sich kaum. Trotzdem wäre es für sie undenkbar | |
gewesen, wieder als Sekretärin zu arbeiten. „Ich wollte meine Freiheit | |
behalten.“ | |
Seit 2006 ist sie in Rente. 43 Jahre lang hat sie in die Sozialkassen | |
eingezahlt. Allerdings waren ihre Beiträge meist so niedrig, dass ihr | |
anfangs nur 473 Euro im Monat zustanden. Anna H. beantragte zusätzliches | |
Wohngeld, fühlte sich jedoch bald vom Sozialamt gegängelt. „Eines Tages | |
machte sich eine Frau an meinem Türschild zu schaffen. Ich wunderte mich | |
sehr darüber, bis mir klar wurde, dass der Staat kontrollieren wollte, ob | |
ich in meiner Wohnung allein lebte oder ob ich vielleicht bei jemand | |
anderem wohnte.“ | |
H. wollte unabhängig von den Behörden werden. Ihr Ausweg: ein Umzug in ein | |
anderes Land, in dem ihre magere Rente reichte, weil der Euro mehr wert | |
war. Ihre Wahl fiel auf die Türkei. | |
2010 zog sie an die türkische Ägäisküste, wo sie erstmals seit Langem ein | |
„gutes Auskommen“ hatte. Sie würde noch heute in der Türkei wohnen, wenn | |
sich das Land nicht zunehmend in eine Diktatur verwandelt hätte. „Nach dem | |
Putsch gegen Erdoğan sprachen die Nachbarn nicht mehr miteinander, großes | |
Misstrauen breitete sich aus.“ H. fürchtete, dass die Situation auch für | |
sie schwierig werden könnte. | |
2016 zog sie daher wieder um, diesmal nach Griechenland. Neun Koffer | |
wuchtete sie auf die Fähre, und viel mehr besitzt sie auch jetzt nicht. | |
„Ich sammle nichts; im Gegenteil, ich gebe wieder ab.“ Auf Syros ist das | |
Leben härter als in der Türkei, denn Griechenland ist keineswegs billig. | |
Freie Wohnungen werden über Airbnb vermietet, was die Preise in die Höhe | |
treibt. | |
## Grundrente: nicht für alle | |
Anna H. hofft, dass die Grundrente bald ausgezahlt wird: „Die brauche ich!“ | |
Um die 280 Euro, hofft sie, würde sie bekommen. Mit dem Geld könnte sie ein | |
„normaleres Leben führen“, sagt sie. Mal mit dem Schiff auf eine andere | |
Insel fahren, mal essen gehen. | |
[3][2021 soll sie kommen, die Grundrente.] Erhalten sollen sie diejenigen, | |
die mindestens 33 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt haben. Das hat | |
das Bundeskabinett Ende Februar beschlossen. Vor allem Frauen sollen davon | |
profitieren. Prognosen der Bundesregierung gehen davon aus, dass 70 Prozent | |
der künftigen Grundhilfeempfänger:innen weiblich sein werden. | |
Ute Lauterbach sagt über die Grundrente, dass ihr das alles eher | |
kompliziert erscheine. Wer bekommt was und wie viel? Sie hofft, dass ihr | |
bis 2021 endlich eine Entschädigung gezahlt wird in Form einer | |
Einmalzahlung. Für die Jahrzehnte, die sie ohne Versorgungsausgleich | |
auskommen musste. | |
„Von der Grundrente hätte ich nichts“, sagt Anna Wrbanatz. Sie erreicht die | |
33 Jahre nicht. Bei ihr bleibt es auch nach 2021 bei 800 Euro. | |
7 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Bundeskabinett-beschliesst-Grundrente/!5662845 | |
[2] /Studie-zu-sozialer-Gerechtigkeit/!5647785 | |
[3] /Gesetzentwurf-zur-Grundrente/!5662777 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
Gesa Steeger | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
Altersarmut | |
Grundrente | |
Hausfrau | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Rente | |
Altersarmut | |
Grundrente | |
Rente | |
rente mit 67 | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Frauenkampftag | |
Altersarmut | |
Care-Arbeit | |
rente mit 67 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Petition zu unfairer Rentenzahlung: Keine Rente mehr für den toten Ex | |
Eine Rentnerin erhält weniger Rente, weil sie den Versorgungsausgleich für | |
ihren Ex-Mann zahlen muss – obwohl dieser verstorben ist. | |
Deutlicher Anstieg von Armut seit 2005: Das Risiko wächst | |
Ein immer größerer Teil der Deutschen droht in die Armut abzurutschen. | |
Besonders deutlich wuchs das Risiko in der Altersgruppe 65 aufwärts. | |
Streit um Grundrente: Eine Slapsticknummer | |
Beim Clinch um die Grundrente hat sich die SPD mal wieder verheddert. Die | |
Union sollte über ihren Schatten springen. | |
Opfer der Wiedervereinigung: Noch länger warten | |
Viel verloren sie durch den Mauerfall: Ein „Härtefallfonds“ für | |
benachteiligte Ost-Rentner wird aber wohl erst im Herbst kommen. | |
Rentenkommission mit vagen Empfehlungen: „Korridore“ lassen Spielraum | |
Nichts Konkretes weiß man nicht: Die Rentenkommission bleibt bei vage. Das | |
Renteneintrittsalter von 67 soll wohl bleiben. | |
Maßnahme gegen Corona-Krise: Weniger Hürden für Hartz IV | |
Bisher galten beim Antrag auf Grundsicherung strenge Bemessungsgrenzen bei | |
Vermögen. Das Corona-Sozialpaket sieht nun Erleichterungen vor. | |
Künstlerinnen-Demo am Frauentag: Erst die Kinder, dann die Kunst? | |
In Berlin demonstrierten am Sonntag Frauen und Männer für mehr | |
„Sichtbarkeit für Künstlerinnen“ – vor der Alten Nationalgalerie. Die h… | |
es nötig. | |
Furcht vor Altersarmut: Hartz-IV-Niveau wäre Fortschritt | |
Statt über die Grundrente zu streiten, sollte man lieber Antragsformulare | |
an alle bedürftigen Rentner schicken. So hätten sie Grundsicherung. | |
Frauen leisten zu viel unbezahlte Arbeit: Fuck you, fiskalische Effekte! | |
Eine Studie befindet: Mehr Ganztagsbetreuung führt zu mehr erwerbstätigen | |
Müttern und mehr Steuereinnahmen. Was ist mit den Vätern? | |
Steigende Altersarmut in Bremen: Alt werden wird immer unattraktiver | |
Viele der 154.000 RentnerInnen in Bremen leben heute schon in Armut, | |
rechnet der DGB vor – es wird aber noch schlimmer werden. |