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# taz.de -- Frauen leisten zu viel unbezahlte Arbeit: Fuck you, fiskalische Eff…
> Eine Studie befindet: Mehr Ganztagsbetreuung führt zu mehr erwerbstätigen
> Müttern und mehr Steuereinnahmen. Was ist mit den Vätern?
Bild: Und wer hat jetzt wieder all die Äpfelchen und Gurken für die Schulbox …
Ich renne die Treppe hinunter, nehme immer zwei Stufen auf einmal. In
zwanzig Minuten muss ich im Schulhort sein, damit ich es anschließend
pünktlich zur Videokonferenz schaffe. Während der Videokonferenz schmiere
ich meinem Kind, das neben mir sitzt, ein Brot. Ich bin halb bei der
Konferenz, halb bei meinem Kind. Aber nirgendwo ganz.
Eigentlich habe ich also gar keine Zeit, mich aufzuregen. Manchmal gelingt
es mir dann aber doch, zum Beispiel wenn ich eine aktuelle Studie des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) lese. „Fiskalische
Wirkungen eines weiteren Ausbaus ganztägiger Betreuungsangebote für Kinder
im Grundschulalter“ heißt sie, und ihr Ergebnis lautet: Mehr
Ganztagsangebote für Grundschulkinder führen zu mehr erwerbstätigen
Müttern. Wenn Mütter mehr lohnarbeiteten, könnten sie damit den [1][Ausbau
der Ganztagsbetreuung ihrer Kinder refinanzieren]. Lohnarbeiten,
Care-Arbeiten, emotionale Arbeit, Hausarbeit, Kinderbetreuung. Jetzt
sollen Mütter also auch noch für die Volkswirtschaft arbeiten. „Fiskalische
Effekte“ nennt die DIW-Studie diese steuerlichen Auswirkungen. Ich denke:
Fuck you, fiskalische Effekte!
Die Studie wurde vom Familienministerium beauftragt. Im aktuellen
Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht zwar der gesetzliche
Rechtsanspruch auf eine solche Betreuung – für dessen Durchsetzung braucht
das Ministerium aber offensichtlich noch Argumente. Und das
schlagkräftigste Argument in der Politik ist weiterhin Geld.
Ich sehe ganz andere Argumente. Zum Beispiel die Vision einer Gesellschaft,
in der Menschen ihre Zeit selbstbestimmt aufteilen können. Die Soziologin
Frigga Haug schlägt die Vier-in-einem-Perspektive vor. Sie geht von einem
16-Stunden-„Arbeitstag“ aus, in dem die [2][vier Arten von Arbeit] jeweils
circa vier Stunden Raum einnehmen. Ein Viertel Erwerbsleben, ein Viertel
Sorgearbeiten für sich selbst und andere, ein Viertel eigene Entwicklung
und kulturelle Arbeit, ein Viertel gesellschaftspolitisches Engagement. Das
würde heißen: eine 20-Stunden-Woche für alle, die neue Vollzeit. Und alle
könnten davon leben.
Ist es privilegiert, sich solche Gedanken machen zu können? Ja, findet
Christa Katharina Spieß, Autorin der DIW-Studie. Sie sieht es lieber so:
„Wenn Mütter ihren Erwerbswunsch so realisieren können, wie sie wollen,
dann rechnet sich das.“ Selbstbestimmung halte ich für ein wichtigeres
Argument als das fiskalische. Doch Selbstbestimmung muss für Mütter mehr
beinhalten als eine 40-Stunden-Woche plus Fürsorgearbeiten.
Und ja, für viele Mütter sind bessere Betreuungsangebote, vor allem in
Randzeiten, existenziell wichtig. Eine Freundin von mir ist
alleinerziehende Hebamme und kann ihre Nachtdienste nur absolvieren, weil
ihre Eltern die Enkeltochter ab und zu über Nacht betreuen. Oft arbeiten
Mütter auch wegen fehlender Kinderbetreuung in Teilzeit, können [3][davon
kaum leben], die Altersarmut ist vorprogrammiert. Es sind die Berufe, in
denen nach wie vor meistens Frauen arbeiten, die Flexibilität erfordern.
Und in denen die Bezahlung selbst in Vollzeit oft nicht dafür reicht, gut
leben zu können. Hebammen, Verkäuferinnen, Putzkräfte, Erzieherinnen,
Pflegekräfte, Kellnerinnen.
„Eine Fachkräfteoffensive im pädagogischen Bereich halte ich für elementar
und damit einhergehend auch eine bessere Bezahlung“, sagt Spieß. Auch sie
sieht die unfaire Bezahlung von Jobs im sozialen Sektor. Angesprochen
darauf sagt die Ökonomin, die Männer müssten ran: in die pädagogischen
Berufe und natürlich auch in die Verantwortung für Care-Arbeit.
Diesen wichtigen, wenn nicht entscheidenden Aspekt vernachlässigt die
Studie komplett. Das Wort Väter kommt auf den 35 Seiten der Studie genau
zweimal vor, und zwar in diesen zwei Sätzen: „Veränderungen in der
Erwerbstätigkeit von Vätern werden nicht berücksichtigt, da empirische
Studien auf Basis deutscher Daten belegen, dass sich ihre
Erwerbstätigenquote und ihr Erwerbsvolumen durch einen Ausbau von
Ganztagsangeboten für Grundschulkinder nicht signifikant verändern wird.
Dies hängt auch damit zusammen, dass nahezu alle Väter mit Kindern im
Grundschulalter bereits einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen.“ Kurz
gesagt: Väter machen Lohnarbeit, Mütter machen Lohnarbeit und Kinder und
Gedöns. Wenn’s gut läuft, bringen sie auch noch die Volkswirtschaft in
Ordnung und sorgen dafür, dass sie die Betreuung ihrer Kinder selbst
refinanzieren.
Das in einer Studie 2020 so zu schreiben und unkommentiert zu lassen ist
problematisch. Es sorgt dafür, dass der Status quo erhalten bleibt. Dabei
muss selbstverständlich möglich sein, dass Mütter sich ihren
„Erwerbswunsch“ erfüllen können. Schließlich bedeutet Erwerbsarbeit nicht
nur Existenzsicherung, sondern Teilhabe. Diese ist wichtig für alle
Menschen, auch Väter und Mütter – und da wäre es hilfreich, wenn die
Rollenverteilung von heterosexuellen Eltern nicht auf dem Stand der 1950er
Jahre bliebe.
Es ist Zeit für politische, auch steuerliche Visionen, die von
gleichberechtigter Elternschaft ausgehen und berücksichtigen, dass die am
stärksten wachsende Familienform Ein-Eltern-Familien sind. Die gute (!)
Ganztagsbetreuung mit gut (!) bezahlten Fachkräften muss her. Mindestens
genauso schnell wie Väter, die selbstverständlich Fürsorgearbeiten
übernehmen, und Menschen, die die menschenfeindliche 40-Stunden-Woche
hinterfragen.
Das betrifft nicht nur Eltern, sondern alle. Menschen, die sich um
Angehörige kümmern; Menschen, die im Chor singen wollen, statt abends am
dunklen Büroschreibtisch zu sitzen; Menschen, die ihren Wert lieber in
Fürsorglichkeit messen statt an ihrem Beitrag zur Volkswirtschaft. Und
Menschen, die nicht nur überall halb sein wollen, sondern ganz.
25 Jan 2020
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## AUTOREN
Mareice Kaiser
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