Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kristen Ghodsee über Care-Arbeit: „Ein anderes Wertesystem“
> Care-Arbeit müsse staatlich organisiert werden, sagt Kristen Ghodsee. Die
> Professorin für Osteuropäische Studien im Gespräch über Profit, Sex und
> Feminismus.
Bild: Zwölf Milliarden Stunden Fürsorgearbeit leisten Frauen weltweit täglich
taz: Frau Ghodsee, täglich leisten Frauen und Mädchen unbezahlt über zwölf
Milliarden Stunden [1][Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit]. Wenn sie einen
Mindestlohn bekommen würden, wären das 11 Billionen US-Dollar pro Jahr. Das
hat [2][eine Studie der Hilfsorganisation Oxfam hochgerechnet.] Kam die
Info überraschend für Sie?
Kristen Ghodsee: Nein, überhaupt nicht. Ich bin froh, dass westliche
Organisationen endlich darüber nachdenken und darauf aufmerksam machen –
immerhin haben August Bebel und Friedrich Engels schon vor über 150 Jahren
darüber geschrieben: Care-Arbeit ist so grundlegend für die Gesellschaft,
dass diese auch endlich etwas dafür tun sollte, sie besser zu organisieren.
Unsere Regierungen bezahlen schließlich auch Soldat*innen. Wieso sollen sie
nicht diejenigen unterstützen, die die nächste Generation von Bürger*innen
aufziehen?
Wie kann das funktionieren?
Care-Arbeit sollte meiner Meinung nach staatlich organisiert werden. Die
russische Revolutionärin Alexandra Kollontai hat schon im späten 19.
Jahrhundert vorgeschlagen, mehr kommunale Cafeterias, öffentliche
Waschsalons, Kindergärten und -krippen zu schaffen. Erst durch solche
Strukturen werden Mutterschaft und Karrieren miteinander vereinbar. Das
könnten viele Frauen erheblich entlasten.
Inwiefern?
Frauen können sich ökonomisch unabhängig machen. In den USA sind Frauen
immer noch mehrheitlich für Haushalt und Kinderpflege verantwortlich. Beruf
und Familie zu vereinen, ist für sie deshalb oft schwierig.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Rund ein Viertel der unter 65-jährigen Frauen in den USA bekommt die
Krankenversicherung vom Ehemann bezahlt. Wenn sich einige davon den Betrag
nicht selbst leisten können, werden sie in diesen Beziehungen verharren
müssen, auch wenn sie häusliche Gewalt oder Schlimmeres erleben. Sie haben
dann keine freie Wahl mehr, über ihr eigenes Leben zu bestimmen. Deswegen
ist mein Argument eigentlich ganz einfach: Wenn sich Frauen um ihre
materiellen Nöte selbst kümmern können, können sie sich freier entscheiden.
Das heißt aber nicht, dass die Frauen nicht anderen Problemen begegnen.
Gerade Arbeitsverhältnisse sind selten frei von Sexismen.
Das ist ein Problem, das sich so schnell nicht lösen lässt. Wenn du einen
Uterus hast, werden sich kapitalistische Arbeitgeber*innen immer Gedanken
machen, ob du ihn benutzt – selbst wenn du keine Kinder willst. Das wird
sich nicht verändern, solange biologisch gesehen nur eine Hälfte der
Bevölkerung Babys bekommt.
Wieso?
Arbeitgeber*innen werten Frauen automatisch ab, weil sie denken, dass
Mütter irgendwann eine Auszeit vom Berufsleben nehmen. Sie gelten dadurch
als weniger zuverlässig und werden schlechter bezahlt, weil sie in dieser
Logik einen geringeren ökonomischen Wert haben. So gesehen macht es Sinn,
dass die Person, die finanzschwächer ist, zu Hause bleibt, um sich um die
Familie zu kümmern.
Nicht jede Frau wird durch Arbeit ökonomisch unabhängig oder gar frei.
Viele verdienen Geld, um überhaupt überleben zu können.
Natürlich ist nicht jede Arbeit befreiend, besonders wenn sie schlecht
bezahlt wird und unter gefährlichen, menschenunwürdigen Umständen
stattfindet. Das ist aber nicht nur für Frauen problematisch, sondern für
alle Arbeiter*innen in einer kapitalistischen Gesellschaft. Wenn wir über
Arbeit sprechen, müssen wir auch über strukturelle Probleme sprechen, die
mit Race, Ethnizität und Klasse zu tun haben.
[3][New Work] war einmal der Begriff für eine sinnstiftende Arbeit. Wenn
man dem Glauben schenken mag, können sich Frauen ihre Zeit freier
einteilen, im Homeoffice arbeiten und sind so nicht mehr von starren
Unternehmensstrukturen abhängig. Sind solche Konzepte die Lösung?
Auf keinen Fall. Die sogenannte Gig Economy, die daraus entstanden ist,
sehe ich besonders kritisch – damit meine ich Arbeitskräfte wie
Uberfahrer*innen, Airbnb-Hosts und andere, die keine verlässlichen
Arbeitsverträge und dementsprechende Rechte bekommen. Solche
Arbeitsverhältnisse bringen Menschen in prekäre Positionen. Das gilt vor
allem für Frauen. Ein Beispiel wäre die bezahlte Elternzeit. Von ihr können
die Gig-Economy-Arbeiter*innen nicht profitieren, denn sie haben keinen
Anspruch darauf. Dabei halte ich es für ein grundsätzliches Recht der
Eltern, bezahlte Zeit mit dem eigenen Kind verbringen zu dürfen.
Was muss sich denn dann verändern, damit wir weniger ökonomische
Ungerechtigkeit erfahren?
Dafür brauchen wir erst einmal ein anderes Wertesystem. Momentan leben wir
in einer Welt, in der Profit mehr zählt als Menschenleben. Alles
konzentriert sich auf ökonomischen Wachstum und unendliche Erweiterung des
Markts für Konsumgüter, die wir überhaupt nicht brauchen.
Das heißt konkret?
Wir müssen eine bessere Lösung finden, Wohlstand zu messen. In Neuseeland
zum Beispiel denkt man da schon um: Das Land orientiert sich mit dem
sogenannten „Well-being budget“ am Wohlbefinden der Menschen. Das ist gut,
denn Wohlstand darf nicht mehr nur für einige wenige gelten. Deswegen
brauchen wir höhere Erbschaftsteuern und müssen Monopole aufbrechen.
Wieso sollten sich gerade Frauen dafür einsetzen?
Weil sie jeden Grund haben, einen politischen Wandel einzufordern.
Schließlich sind sie ja auch diejenigen, die besonders davon betroffen sein
werden. Wenn immer mehr Menschen krank oder alt sind, müssen sie gefüttert
und gepflegt werden. Diese Aufgabe von Care-Arbeit wird auch in einer
hyperkapitalistischen Zukunft auf ihren Schultern lasten. Wenn wir aber
persönliche Freiheiten schaffen, indem wir ökonomische Unsicherheiten
reduzieren, profitieren alle davon.
Sie forschen zu den Zusammenhängen zwischen [4][Sozialismus und der
ökonomischen Freiheit, die Frauen erfahren]. Freiheit klingt aber sehr
positiv, immerhin haben sozialistische Staaten einfach noch mehr
Arbeitskräfte bekommen.
Ja, die Regierungen in der Sowjetunion und der Nachkriegsära in Osteuropa
waren auf die Arbeitskraft von Frauen angewiesen, weil so viele Männer im
Ersten Weltkrieg, im Sowjetischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg
gestorben sind. Aber wir müssen uns auch daran erinnern, dass utopische
Sozialist*innen wie Flora Tristan und Charles Fourier sich schon mit der
Befreiung der Frau durch Arbeit beschäftigt haben, bevor sozialistische
Staaten überhaupt existiert haben. In Deutschland haben unter anderem Clara
Zetkin und Lily Braun darüber geschrieben, wie sich Arbeiterinnen im späten
19. und 20. Jahrhundert emanzipieren könnten. Diese sozialistischen
Theorien konnten Frauen später nutzen, um sich für ihre Rechte
einzusetzen. Klar kann man jetzt sagen, die sozialistischen Staaten wollten
nur mehr Arbeitskräfte haben. Aber sie haben immerhin dafür gesorgt, dass
die Frauen dadurch gelernt haben, für Veränderungen zu kämpfen.
Ganz befreit von Hausarbeit waren die Frauen aber nicht, selbst wenn sie
Führungspositionen erreicht haben. Viele von ihnen mussten beides
miteinander vereinen.
Natürlich wurde das Patriarchat auch im Sozialismus nie komplett
abgeschafft. Sexismus hat den Weg dafür geebnet, dass auch Frauen durch
ihre Erwerbstätigkeit und die Hausarbeit doppelt belastet waren: Viele
Männer haben sich geweigert, zu Hause zu helfen. Aber es gibt auch Beweise,
dass Männer, die nach 1960 geboren wurden, bereits mit progressiveren Ideen
von Sex und Gender aufgewachsen sind. Man muss auch im Hinterkopf behalten,
dass die meisten osteuropäischen Staaten relativ arm waren. Sie konnten
sich es teilweise schlichtweg nicht leisten, Hausarbeit zu verstaatlichen.
Deswegen war es für männliche Führungskräfte hilfreich, sich auf die
Unterstützung der unbezahlten Hausarbeit ihrer Frauen zu verlassen.
[5][Besonders viele Frauen in Führungspositionen] sind aber nicht übrig
geblieben.
In der Veränderung vom sozialistischen zum kapitalistischen System gab es
viele Entlassungen. Dadurch wurden vor allem Frauen wieder zu Hausfrauen
gemacht. Auch wenn man sagen muss, dass es in sozialistischen Systemen
keine perfekte Geschlechtergerechtigkeit gegeben hat, war das
Emanzipationslevel vor 1989 höher. Das lässt sich auch empirisch belegen.
Was hat das alles mit Sex zu tun, wie Ihr Buchtitel vermuten lässt?
Wer frei über eigene finanzielle Mittel bestimmen kann, ist ökonomisch
unabhängig. Das heißt auch, dass sich die Menschen ihre Partner*innen
frei aussuchen können – je nachdem, wen sie attraktiv finden oder lieben.
Weniger aufgezwungenes Kalkül bei der Partner*innenwahl kann also zu
besserem Sex führen. Eine bekannte Studie aus dem Jahr 2010 hat
herausgestellt, dass 80 Prozent der befragten heterosexuellen Frauen in der
Hälfte der Zeit ihre Orgasmen vorgetäuscht haben. Unser Sexleben wird
besser, wenn wir auch im Bett ehrlicher und authentischer sind.
13 Mar 2020
## LINKS
[1] /Frauen-leisten-zu-viel-unbezahlte-Arbeit/!5653727
[2] https://www.oxfam.de/system/files/2020_oxfam_ungleichheit_studie_deutsch_sc…
[3] /Arbeitsbedingungen-bei-Start-Ups/!5499407
[4] /RBB-Doku-ueber-Frauen-in-der-DDR/!5386315
[5] /Frauen-in-Fuehrungspositionen/!5474021
## AUTOREN
Juli Katz
## TAGS
Care-Arbeit
Kapitalismus
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Feminismus
Schwerpunkt Feministischer Kampftag
Care-Arbeit
Care-Arbeit
Lesestück Meinung und Analyse
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abstruse Debatte im Feminismus: Klimakiller Kind
Mit der Klimakrise feiert die gute alte Kinderfeindlichkeit ein Comeback.
Das wird gerne als Feminismus verkauft – ist es aber natürlich nicht.
Care-Arbeit im Kapitalismus: Keine Emanzipation
Frauen, die Karriere machen wollen, beschäftigen oft Care-Arbeiterinnen,
wie Putzfrauen oder Nannys. Doch ist das die Lösung für Gleichberechtigung?
Frauen leisten zu viel unbezahlte Arbeit: Fuck you, fiskalische Effekte!
Eine Studie befindet: Mehr Ganztagsbetreuung führt zu mehr erwerbstätigen
Müttern und mehr Steuereinnahmen. Was ist mit den Vätern?
Oxfam-Studie vor dem Treffen in Davos: Unbezahlte Frauenarbeit
Jährlich gehen Frauen 10.000 Milliarden Euro Einkommen verloren, beklagt
die Entwicklungsorganisation Oxfam. Das verschärfe die soziale
Ungleichheit.
Debatte Care-Arbeit: Um das Kümmern kümmern
Fixiert auf Erwerbsarbeit vergessen wir, dass die Hinwendung zu anderen
ebenso zum Menschsein gehört wie der Job.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.