| # taz.de -- Flüchtlingspolitik in Italien: Worte härter als Taten | |
| > Italiens neue Rechtsregierung wollte „illegale“ Flüchtlingseinreisen | |
| > beenden. Jetzt ließ sie erstmals widerwillig einige Menschen an Land. | |
| Bild: Flüchtlinge und Migrantinnen bei der Ankunft in Roccella Jonica, Kalabri… | |
| Berlin taz | Nach über zwei Wochen an Bord des [1][Rettungsschiffes | |
| „Humanity 1“] konnten in der Nacht auf Sonntag 144 aus Seenot gerettete | |
| Flüchtlinge und Migrant:innen im sizilianischen Catania an Land gehen. | |
| 35 weiteren verweigerte Italien die Einreise. Sie müssen weiter auf der | |
| „Humanity 1“ ausharren – ebenso wie rund 890 Schiffbrüchige an Bord von | |
| drei anderen NGO-Rettungsschiffen. | |
| Es war das erste Mal, dass Italien gerettete Migrant:innen an Land ließ, | |
| seit das rechtsextreme Regierungsbündnis von [2][Ministerpräsidentin | |
| Giorgia Meloni] am 22. Oktober die Amtsgeschäfte übernommen hatte. | |
| Die unter deutscher Flagge fahrende „Humanity 1“ hatte bei drei | |
| Rettungseinsätzen am 22. und 24. Oktober insgesamt 179 Schiffbrüchige an | |
| Bord genommen. Die NGO hatte seither nach eigenen Angaben 21 Mal bei den | |
| Behörden um die Erlaubnis gebeten, einen Hafen ansteuern zu dürfen. Die | |
| Lage auf dem Schiff hatte sich seither immer weiter verschärft. | |
| Am Freitag hatte der Kapitän der „Humanity 1“ ein Schreiben erhalten, das | |
| von den drei italienischen Ministern für Inneres, Verteidigung und Verkehr | |
| signiert worden war. Darin verbot Italien dem Schiff, länger in | |
| italienischen Hoheitsgewässern zu verweilen, als „Hilfsmaßnahmen für | |
| Menschen in Notlagen und in prekären Gesundheitszuständen erforderlich | |
| sind“. Lediglich „besonders vulnerable Personen“ würden von dem außerha… | |
| des Hafens ankernden Schiff an Land gebracht werden. | |
| ## 143 von 179 Geflüchteten dürften von Bord gehen | |
| Gegen 22 Uhr am Samstagabend wies die italienische Rettungsleitstelle dann | |
| den Kapitän an, in den Hafen von Catania einzufahren. Dort forderten die | |
| Behörden die Schiffsärztin der „Humanity“ auf, zu benennen, welche der | |
| Menschen an Bord sich in einem „prekären Gesundheitszustand“ befinden, | |
| sagte Wasil Schauseil, der Sprecher von SOS Humanity, am Sonntag der taz. | |
| Als die Ärztin geantwortet habe, dass dies bei allen 179 der Fall sei, | |
| seien eine Krankenschwester des Roten Kreuzes und zwei | |
| Mitarbeiter:innen des Gesundheitsministeriums an Bord gekommen. Sie | |
| hätten die Migrant:innen untersucht und entschieden, dass 143 Menschen | |
| von Bord gehen dürfen. Die 36 übrigen seien gesund genug, um an Bord zu | |
| bleiben. Einer von ihnen kollabierte darauf und wurde von Sanitätern von | |
| Bord geholt. | |
| Der Kapitän und der Missionsleiter wurden von der Polizei befragt und am | |
| Sonntag aufgefordert, Italiens Hoheitsgewässer mit den 35 verbliebenen | |
| Migrant:innen zu verlassen. Die Regierung will, dass die Staaten, unter | |
| deren Flagge die Rettungsschiffe fahren, die Menschen aufnehmen. Im Fall | |
| der „Humanity“ ist das Deutschland. Das Seerecht sieht indes vor, dass | |
| Schiffbrüchige im nächsten sicheren Hafen an Land gehen dürfen. | |
| „Das Dekret des italienischen Innenministers ist ohne Zweifel | |
| rechtswidrig“, sagt Mirka Schäfer von SOS Humanity. „Flüchtende an der | |
| italienischen Grenze zurückzuweisen verstößt gegen die Genfer | |
| Flüchtlingskonvention sowie internationales Recht.“ Der Kapitän weigerte | |
| sich deshalb, der Aufforderung Folge zu leisten. „Es ist meine Pflicht, die | |
| Rettung der Menschen aus Seenot mit der Ausschiffung aller Überlebenden im | |
| Hafen von Catania als sicherem Ort abzuschließen“, wird er von der NGO | |
| zitiert. | |
| Denkbar ist, dass Italiens Justiz deshalb gegen ihn vorgeht. „Wir bereiten | |
| uns juristisch auf alles vor“, sagt Wasil Schauseil. | |
| Derweil warten drei weitere Schiffe dringend auf eine Einfahrmöglichkeit in | |
| einen Hafen: Die [3][„Geo Barents“ von Ärzte ohne Grenzen] hat 572 Menschen | |
| an Bord, die die Crew zwischen dem 27. und 29. Oktober gerettet hatte. Die | |
| „Ocean Viking“ der NGO [4][SOS Méditerranée] kreuzt mit 234 und die „Ri… | |
| Above“ der deutschen NGO [5][Mission Lifeline] mit 93 Menschen an Bord im | |
| Mittelmeer. | |
| ## Rechte Wahlkampfrhetorik | |
| [6][Meloni] hatte im Wahlkampf ein hartes Vorgehen gegen die NGOs | |
| angekündigt. Im Wahlprogramm ihrer Partei [7][Fratelli d’Italia] ist nur | |
| vage die Rede von der „Bekämpfung der Aktivitäten von NGOs, die illegale | |
| Einwanderung erleichtern“. Später hatte Meloni mehrfach davon gesprochen, | |
| dass eine „Seeblockade“ die einzige Möglichkeit sei, die illegale | |
| Einwanderung zu stoppen und der „illegalen Ausreise nach Italien ein Ende | |
| zu setzen“. | |
| Doch so einfach ist es nicht. Dem von Meloni zum Verkehrsminister | |
| degradierten Ex-Innenminister Matteo Salvini hängt bis heute juristisch | |
| nach, dass er in seiner Amtszeit als Innenminister 2019 Schiffen mit | |
| Geretteten die Einfahrt in Italiens Häfen verbot. Weil er sich deshalb bis | |
| heute wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauchs vor Gericht verantworten | |
| muss, kam er als Innenminister nicht mehr infrage. | |
| Am Sonntag begrüßte Salvini die neue Richtlinie im Umgang mit den | |
| Rettungsschiffen, die er zusammen mit dem Verteidigungs- und dem | |
| Innenminister unterzeichnet hatte. „Wir wollen nicht länger Geisel dieser | |
| ausländischen und privaten NGOs sein, die die Routen, den Verkehr, den | |
| Transport und die Migrationspolitik organisieren“, sagte Salvini in einem | |
| Facebook-Video. | |
| „Das Dekret der neofaschistischen Regierung Italiens ist ein neuerlicher | |
| Versuch, menschenrechtliche Grundsätze durch Bürokratie auszuhebeln“, sagte | |
| Ruben Neugebauer von der [8][Initiative Civil Fleet] der taz. Es zeige den | |
| „zutiefst menschenfeindlichen Charakter dieser Regierung“, so Neugebauer. | |
| „Wir hoffen, dass weder diese Regierung noch das Dekret lange bestehen | |
| werden.“ 15 Rettungsschiffe in der zivilen Flotte seien ein „klares Zeichen | |
| dafür, dass das Ertrinkenlassen und Zurückweisen an Europas Seegrenze kein | |
| Konsens ist.“ | |
| Neben den vier Schiffen, die derzeit mit Geretteten auf dem Mittelmeer | |
| unterwegs sind, sind elf weitere private Rettungsschiffe im Einsatz oder | |
| bereiten sich auf einen vor: Die „Aita Mari“, „Open Arms Uno“, „Astra… | |
| „Sea-Watch 3“, „Sea-Eye 4“, „Emergency“, „Aurora“, „Louise Mi… | |
| „Sea-Punks“, „Nadir“, „Imara“ und die „Mare Ionio“. Erst am Fre… | |
| die NGO [9][Sea Watch] ihr neues und bislang größtes Schiff, die „Sea Watch | |
| 5“, im Hamburger Hafen getauft. | |
| 6 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/soshumanity_de | |
| [2] /Wahlen-in-Italien/!5880124 | |
| [3] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/themen-im-fokus/seenotrett… | |
| [4] https://sosmediterranee.org/ | |
| [5] https://mission-lifeline.de/ | |
| [6] /Wahlen-in-Italien/!5880124 | |
| [7] https://de.wikipedia.org/wiki/Fratelli_d%E2%80%99Italia_(Partei) | |
| [8] https://civilfleet.org/ | |
| [9] https://sea-watch.org/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Italien | |
| Seenotrettung | |
| Migration | |
| Bootsflüchtlinge | |
| Giorgia Meloni | |
| Matteo Salvini | |
| GNS | |
| Migration | |
| Podcast-Guide | |
| Seenot | |
| Italien | |
| Giorgia Meloni | |
| UNHCR | |
| Giorgia Meloni | |
| IG | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wegen Anlegeverbot für Rettungsschiffe: Matteo Salvini soll in den Knast | |
| Wochenlang blockierte der frühere Innenminister Rettungsschiffe. Jetzt | |
| fordert die Staatsanwaltschaft Palermo sechs Jahre Haft für Salvini. | |
| Podcast über Italien: Mehr als Dolce Vita | |
| In „Kurz Gesagt: Italien“ räumt Sebastian Heinrich mit Stereotypen über | |
| Italien auf. Er erklärt, warum das Land mehr ist als Pizza, Pasta und | |
| Urlaub. | |
| Seenotrettung im Mittelmeer: Nur einige Schiffe dürfen nach Italien | |
| Nach vergeblicher Suche in Italien bittet das Rettungsschiff „Ocean Viking“ | |
| nun Frankreich um Hilfe. In Catania durften 35 Gerettete von Bord der | |
| „Humanity 1“ gehen. | |
| Seenotrettung im Mittelmeer: Umstrittene Selektion | |
| Italiens rechte Regierung versucht weiterhin, gerettete Flüchtlinge nur | |
| selektiv an Land zu lassen. Das UN-Flüchtlingswerk kritisiert das. | |
| Italien und die Seenotrettung: Der schleichende GAU | |
| Italien lässt einige aus Seenot gerettete Flüchtlinge an Land. Ist die | |
| rechte Regierung unter Meloni also doch gar nicht so schlimm? Ein Irrtum. | |
| Flüchtlingspolitik in Europa: „Asyl in der EU ist extrem wichtig“ | |
| Menschen in Not werden aufgenommen, weil es richtig ist, sagt der | |
| UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi – nicht, weil es leicht | |
| ist. | |
| Neue Regierung in Italien: Roms Gruselkabinett | |
| So seriös sie sich geben mag – die Wahl ihrer MinisterInnen enthüllt | |
| Melonis Absichten. Frauen, Queers und Flüchtenden stehen harte Zeiten | |
| bevor. | |
| Kapitän aus Job verbannt: Unerwünscht wegen Seenotrettung | |
| Der Kapitän Kai Kaltegärtner wird von einer der wichtigsten Agenturen nicht | |
| mehr vermittelt. Der Grund: Er rettete Menschenleben auf dem Mittelmeer. |