# taz.de -- Feministische Kunst in München: Bitte nicht berühren | |
> Eine Ausstellung im Münchner Lenbachhaus zeigt emanzipatorische Kunst. | |
> Sie reicht von den 1950er Jahren bis zur Post-Porn-Kunst. | |
Bild: Sturmgewehre, genäht: Michaela Meliáns „Mossberg Model Bullpup“ (19… | |
Beschwörend blickt ein ruhiges Porträt mit neutralem Gesichtsausdruck ins | |
Leere. Verhalten und poetisch ist die titelgebende Arbeit dieser | |
Ausstellung: „Die Sonne um Mitternacht schauen“, ein Werkzyklus aus | |
großformatigen HD-Filmprojektionen der Fotografin [1][Katharina | |
Sieverding]. | |
Ein goldenes, übergroßes Frauengesicht steht im Zentrum der Installation, | |
verschmilzt mit Bildern einer wissenschaftlichen Auswertungen der | |
Sonnenaktivität, entnommen aus Open-Source-Daten des Nasa-Unternehmens SDO. | |
Das Anliegen der Künstlerin schwingt im Titel mit: Durch die Erdrotation | |
ist die Sonne um Mitternacht nicht zu sehen – doch die Sonnenaktivität ist | |
allgegenwärtig und Zentrum allen Lebens. | |
Die gleichnamige Schau im Münchner Lenbachhaus zeigt feministische Arbeiten | |
aus dem eigenen Sammlungsbestand von 1958 bis heute. Pointiert wird das | |
Augenmerk auf verschiedene Künstlerinnen und einige wenige Künstler gelegt, | |
die sich mit der Allgegenwart von Rollenzuschreibungen und ihren sozialen | |
Konsequenzen befassen. | |
Sieverdings hintersinnige Arbeit aus dem Jahr 1988 zeigt in einprägsamer | |
Weise die Verehrung der Frau – als Sonnengottheit – ebenso wie die | |
Allgegenwart von Stereotypen, die selbst dann mitgedacht werden müssen, | |
wenn sie zyklusmäßig verborgen sind. | |
Andere, etwa die Wiener Aktionskünstlerin Valie Export oder auch die | |
Post-Porn-Arbeiten von Tejal Shah, hinterfragen Geschlechterrollen | |
vergleichsweise aggressiver. Die Bandbreite macht die Schau – in der auch | |
Monica Bonvicini, Candice Breitz, AA Bronson, Isa Genzken, Flaka Haliti, | |
Barbara Hammann, Judith Hopf, das Kollektiv General Idea, Annette Kelm, | |
Barbara Klemm, Eva Kot’átková, [2][Michaela Melián], Senga Nengudi, Helga | |
Paris, Friederike Pezold und Rosemarie Trockel ihren Platz finden – | |
unberechenbar und sehenswert. | |
## Konturen weiblicher Körper | |
Die Ausstellung setzt an bei der „Körperbewusstseinsmalerei“ der | |
Österreicherin Maria Lassnig. In einer Zeit des Wiederaufbaus nach dem | |
Zweiten Weltkrieg, in der Marylin Monroes und Jayne Mansfields | |
Sanduhrfiguren zum Schönheitsideal wurden, zeichnete Lassnig in bunten, | |
expressiven, vom österreichischen Informel geprägten Linien die Konturen | |
weiblicher Körper nach. | |
Der Körper selbst war nur vorgeblich Gegenstand ihrer Malerei. Darstellen | |
wollte sie vielmehr das Empfinden, das sie damit verbindet: Die Linien | |
lösen sich von der Silhouette, Farben dienen als Mittel, Gefühle | |
auszudrücken. | |
In den 1960er Jahren sind österreichische Künstlerinnen wie die Wienerin | |
Valie Export und Friederike Pezold prägend für den europäischen | |
feministischen Diskurs – dokumentiert in Videoinstallationen, Fotografien | |
und filmischen Mitschnitten ihrer Aktionen. Der „male gaze“, der Blick des | |
Mannes auf die Frau, wird ihr Thema. | |
Im „Tapp- und Tastkino“ etwa, das Export unter anderem in der Münchner | |
Stadtmitte am Stachus aufführt, greifen fremde Männerhände in einen Kasten | |
vor ihrer Brust – der Mann, der Angreifer, schaut der Künstlerin in der | |
surrealen öffentlichen Inszenierung in die Augen und wird von Passanten | |
gesehen, während er ihre nackten Brüste befühlt. | |
## Signale per Telekinese | |
Noch einen Schritt weiter geht Post-Porn-Kunst, die ebenfalls in Beispielen | |
angerissen wird: In einem weißen Riemenanzug, der an Milla Jovovichs Kostüm | |
im „Fünften Element“ erinnert, bewegen sich etwa von der indischen | |
Künstlerin Tejal Shah geschaffene Fantasiegestalten durch eine | |
Wüstenlandschaft. Erstmals wurde die Arbeit bei der documenta 13 im Jahr | |
2012 gezeigt. | |
Und auch hier wird das Motiv der Sonne aufgegriffen: Mit Blendspiegeln | |
senden sich die stummen Körper Signale, bis sie zueinander finden – | |
kriechend, per Telekinese oder in elliptischen Zeitverläufen. Und selbst | |
wenn – ein Papierschildchen am Eingang hatte „vorgewarnt“ – es dann zu | |
intensiveren Körperverschränkungen kommt, scheint ihnen eine wirkliche | |
Begegnung unmöglich. | |
Unvermittelt wechselt die Szenerie, statt in karger Natur befindet sich das | |
Frauenpaar auf dem eingenetzten Balkon einer heruntergekommenen | |
Plattenbausiedlung. Mit konisch zulaufenden weißen Hüten penetrieren sich | |
die Frauen, Granatapfelkerne werden im Schamdreieck verarbeitet, | |
Assoziationen an Menstrutionsblut oder die Verletzung nach einer | |
Vergewaltigung drängen sich auf. | |
## Glattrasierte Säugetiere | |
Den sexy Körperbildern, der vorgezeichneten Rollenverteilung und | |
stereotypen Abläufen des Mainstreampornos, der sich in unterschiedlichen | |
Brutalitätsabstufungen halt doch in ein Korsett dessen presst, was | |
glattrasierten Säugetieren physisch möglich ist, setzt Shah eine | |
übergeordnete Vision von Nähe entgegen, die sich durch sexuellen Austausch | |
künstlerisch darstellen lässt – aber im Grunde nicht besonders viel mit | |
Ineinanderkriechen zu tun hat. | |
Vielmehr wird eine Distanzierung und Abgrenzung erreicht – wie auch durch | |
die sadomasochistischen Verkleidungen, die Fotografien von Cindy Sherman | |
einsetzen. Oder die bunten Linien der eingangs erwähnten Lassnig. | |
In einer Zeit, in der Begegnung schon durch äußere Zwänge unmöglich gemacht | |
wird, schafft die Schau so unverhofft einen Raum, um über | |
Geschlechterbilder nachzudenken – und darüber, dass anfassen nicht berühren | |
ist. | |
4 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Dokumentarfilm-Body-of-Truth/!5707994 | |
[2] /Radiokunst-in-Hamburg-Harburg/!5719472 | |
## AUTOREN | |
Johanna Schmeller | |
## TAGS | |
Bildende Kunst | |
Ausstellung | |
München | |
Feminismus | |
Feminismus | |
Neue Nationalgalerie | |
Ausstellung | |
Ausstellung | |
Theater | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Hamburg | |
Dokumentarfilm | |
taz Plan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Isa Genzken in der Neuen Nationalgalerie: Der Wind hat gedreht | |
Die Neue Nationalgalerie Berlin widmet Isa Genzken eine Einzelschau. Der | |
Reformstau bei der Preußenstiftung hat mit ihrer Oberflächlichkeit zu tun. | |
Retrospektive Rosemarie Trockel: Ihr Branding ist, keines zu haben | |
Konträre Konzeptkünstlerin: Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt a.M. | |
zeigt Rosemarie Trockel. | |
Ausstellung zu Malerin Maria Lassnig: Mit dem Körper erkennen | |
Die österreichische Malerin Maria Lassnig übte extreme Selbstbefragung und | |
untersuchte die eigenen Mittel. Das Kunstmuseum Bonn widmet ihr eine Schau. | |
Theater-Kiosk in München: Fenster zur Straße | |
Der Habibi-Kiosk ist ein Projekt der Münchner Kammerspiele, um Menschen ins | |
Gespräch zu bringen. Die Idee entstand in der Pandemie. | |
Symposium zu Körperbildern: Warum lieben Maschinen anders | |
Ein dreitägiges digitales Symposium des Museums Brandhorst erklärt unter | |
anderem der Zusammenhang von Rassismus und Technologie. | |
Radiokunst in Hamburg-Harburg: Wo die Muschel kreist | |
Ozeanisches im Wartesaal: Michaela Meliáns Radiostück „Chant du Nix“ im | |
Kunstverein Harburger Bahnhof. | |
Dokumentarfilm „Body of Truth“: Meisterinnen der Inszenierung | |
Evelyn Schels porträtiert im Dokumentarfilm „Body of Truth“ Marina | |
Abramović und weitere Künstlerinnen – und stellt sie episodisch vor. | |
Feministische Blicke auf Berlin: Glücklicher und weiblicher | |
Wie könnte eine nichtsexistische Stadt aussehen? Darum geht es in der | |
Ausstellung „Eine feministische Perspektive für Berlin heute!“. |