# taz.de -- FC St. Pauli: Angriff über den linken Flügel | |
> Nachhaltigkeit, Antisexismus, nun auch noch eine Genossenschaft: Der FC | |
> St. Pauli ist anders als andere Klubs. Kann der Verein damit Vorbild | |
> sein? | |
Bild: Rassistische Äußerungen sind schon seit 1991 am Millerntor verboten, na… | |
Es ist Samstagmorgen, die ersten Sonnenstrahlen dringen in den Hamburger | |
Hauptbahnhof. Der Metronom nach Uelzen ist schon ziemlich voll, der | |
Bahnsteig immer noch. Bierdunst liegt in der Luft. Pünktlich um 7.57 Uhr | |
rollt der Regionalzug los. Julian hat eine Vierer-Sitzgruppe im | |
Obergeschoss des Doppeldeckers gefunden, mit zwei Freunden und seiner | |
Tochter. Sie fahren zum Auswärtsspiel des FC St. Pauli nach Wolfsburg. | |
Julian, ein drahtiger Typ, dem die blonden Haare über die muskulösen | |
Oberarme fallen, trägt trotz der Morgenfrische ein T-Shirt. Schwarz mit | |
einem Kreis in allen Farben des Regenbogens – und noch einigen mehr. Es ist | |
die Progressive-Pride-Flagge, die auch trans Personen, Agender oder | |
Intersexuelle einbeziehen soll. In der Mitte das Vereinslogo des des FC St. | |
Pauli mit dem Schriftzug „Radsport“. | |
In der Radsportabteilung ist Julian erst ein paar Jahre aktiv. Aber | |
Vereinsmitglied ist der 34-Jährige schon seit 2011. Im Stadion war er schon | |
als kleiner Junge gelegentlich. | |
„Auch ein paar Mal auf der falschen Seite, im Volksparkstadion“, sagt er, | |
„wo ich mich dann sehr schnell nicht mehr wohl gefühlt habe, schon als Kind | |
tatsächlich.“ Wegen der insgesamt aggressiven Haltung beim Lokalrivalen HSV | |
damals, um die Jahrtausendwende, wegen frauenfeindlicher und rassistischer | |
Gesänge. „Die waren auch ohne besonderes politisches Verständnis merklich.�… | |
Beim FC St. Pauli war es ganz anders. Als Teenager habe er den Club als | |
„den richtigen Ort mit den richtigen Werten“ wahrgenommen. [1][„Das war | |
Musik, Metal und Punk“], sagt Julian, „das hat sich sozial passender | |
angefühlt. Eine klassische Symbiose von Subkultur, Politik – und dann eben | |
Fußballinteresse.“ Man traf sich im selbstorganisierten Fanladen, nicht | |
weit vom alten Millerntor-Stadion. Als er älter wurde, hat er dort nach | |
Heimspielen für alle gekocht. „Weil ich was zurückgeben wollte.“ | |
Und jetzt ist er auch noch Genosse. 2024 hat der Verein eine Genossenschaft | |
gegründet, die erste im Profifußball überhaupt. Sie soll die Mehrheit am | |
Millerntor-Stadion übernehmen und den Verein damit von den Banken | |
unabhängiger machen. 850 Euro hat Julian für seinen Anteil gezahlt. „Viel | |
Geld“, findet er, er hätte es niedrigschwelliger besser gefunden. Aber | |
jetzt gehört ihm ein Stück Stadion. | |
Der Slogan der Genossenschaft ist „Ein anderer Fußball ist möglich“. Er i… | |
angelehnt an das Motto der globalen emanzipatorischen Bewegungen: „Eine | |
andere Welt ist möglich“. Denn während andere Fußballklubs Politik nach | |
Kräften meiden, gehören bei St. Pauli Politik und Sport zusammen. | |
Der Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus, das Ringen um | |
Nachhaltigkeit oder einen bewussteren Umgang mit der Geschichte spielen | |
eine so große Rolle, dass man denken könnte, [2][das alles wäre wichtiger | |
als der Fußball]. Der Verein will nicht nur den Profifußball selbst | |
verändern, sondern in die Gesellschaft wirken, erst recht nach dem | |
Wiederaufstieg in die erste Bundesliga 2024. Aber wie klappt das? Und gibt | |
es ihn überhaupt, den richtigen Fußball im falschen? | |
Oke Göttlich will es versuchen. „Wenn du mit einer nachhaltigen Strategie | |
in den Sport investierst“, sagt der Präsident des FC St. Pauli, „kannst du | |
ein nächstes Level erreichen, dort kannst du die Wirkung für | |
gesellschaftliche Themen auch breiter an den Start bringen.“ Früher war er | |
Sportredakteur bei der taz in Hamburg. Beim Besuch in seiner alten | |
Redaktion sieht er eine Unterschriftenliste für mehr Klimaschutz in der | |
Küche liegen. „Ah, muss ich ja noch unterschreiben“, sagt er und zückt | |
einen Kugelschreiber. | |
Aber gekommen ist er wegen des eigenen Projekts: „Unsere Genossenschaft“, | |
schwärmt er, „ist die am meisten demokratische und partizipative, die | |
gemeinwohlähnlichste Organisationsform, die man sich vorstellen kann“. | |
Jahre haben sie darüber im Verein gebrütet. Dass St. Pauli erstmals seit 14 | |
Jahren wieder in der ersten Fußball-Bundesliga spielt, hilft, | |
Aufmerksamkeit für das Genossenschaftsmodell zu generieren. Und es macht | |
dessen Notwendigkeit umso deutlicher. | |
Denn die Unterschiede in der Bundesliga sind riesig: Für das aktuelle | |
Erstligajahr peilen sie am Millerntor erstmals einen Jahresumsatz von etwa | |
100 Millionen Euro an – während [3][der FC Bayern gerade die Milliarde | |
geknackt hat.] Es seien in jüngerer Zeit „grotesk hohe Steigerungen aus den | |
internationalen Wettbewerben dazugekommen“, sagt Göttlich. Davon profitiere | |
nur das obere Drittel der Tabelle. | |
## Der Anwalt der Kleinen | |
Göttlich ist so etwas wie der Anwalt der Kleinen im großen Fußballgeschäft. | |
Er ist seit 2019 im Präsidium der Deutschen Fußball Liga (DFL), dem neben | |
den beiden Geschäftsführern sieben gewählte Vertreter der 36 Erst- und | |
Zweitligisten angehören und das die Geschicke des Profifußballs bestimmt. | |
Kürzlich wollte Göttlich mal wieder eine Umverteilung organisieren – von | |
oben nach unten. Er sprach sich dafür aus, wenigstens das Geld, das die | |
Fernsehsender für die Bundesliga-Rechte zahlen, etwas gleichmäßiger an die | |
36 Profiklubs zu verteilen. Und blitzte damit ab. | |
Doch er hat sich auch schon durchgesetzt. Im vergangenen Jahr wollte die | |
DFL-Geschäftsführung im Schnelldurchlauf den Einstieg von Investoren | |
durchpeitschen, um mit deren Milliarden die verschlafene Digitalisierung | |
nachzuholen und neue, internationale Märkte zu erschließen. Im Gegenzug | |
hätte die Liga Teile ihrer Medienrechte abgetreten. | |
In den Stadien gab es Fan-Proteste. Göttlich wollte wenigstens in Ruhe über | |
das Wie diskutieren – und stimmte am Ende dagegen, auch weil er ein klares | |
Mandat von seinem Klub hatte. Der Investoren-Deal wurde schließlich | |
abgeblasen. Was dagegen sprach? „Bei jedem Deal, den die Fußballliga bisher | |
gemacht hat, hat sie mehrheitlich nicht an die kleinen und mittleren | |
Vereine gedacht, sondern immer eher an die größeren“, sagt Göttlich. „Das | |
schafft ein Ungleichgewicht, das dazu führt, dass immer die Gleichen oben | |
stehen.“ | |
Natürlich will auch der FC St. Pauli sportlichen Erfolg, aber nicht um | |
jeden Preis. Der Verein nimmt sogar weniger Geld ein, als er könnte. Er | |
verkauft weder den Stadionnamen noch die Präsentation der Eckstöße oder der | |
Zwischenstände, wie in anderen Stadien üblich. Und er wählt Sponsoren sehr | |
genau aus. „Wir lehnen auch immer wieder Partner ab, die sehr gerne mit uns | |
zusammenarbeiten würden“, sagt Göttlich. | |
Vereinswerte gehen über monetäre Werte, so soll es bei St. Pauli sein. „Der | |
FC St. Pauli hat Fesseln, die wir uns ganz bewusst selbst anlegen, die aber | |
auch zur Stärkung der Marke beitragen“, sagt Göttlich. Es gibt nämlich | |
Unternehmen, die gerade wegen dieses Images als der andere, der bessere | |
Club gern mit St. Pauli ins Geschäft kommen wollen. | |
„Wettbewerber und Neider werfen uns das als Doppelmoral und | |
Scheinheiligkeit vor,“ sagt Göttlich. „Diese vermeintliche Scheinheiligkeit | |
kostet uns auf der anderen Seite aber auch fünf Millionen Euro im Jahr. Ich | |
würde gern mal sehen, wie die Kritiker:innen es da mit Werten halten.“ | |
Was geht und was nicht geht, das wird im Verein unter den Mitgliedern | |
ständig neu verhandelt. Fan Julian fallen sofort Vorkommnisse ein, die | |
„Kritik und Gegensteuerung“ benötigt hätten. | |
Etwa der Ausrüstervertrag mit dem Trump-nahen US-Label Under Armour: | |
Jahrelang gab es Kritik an dem 2016 abgeschlossenen Deal – 2021 schließlich | |
wurde er beendet. Das unterscheidet St. Pauli für Julian von anderen Clubs: | |
Es würden auch Konsequenzen gezogen. „Das finde ich einen sehr guten | |
Ausdruck von einer gelebten demokratischen Haltung.“ | |
Basisdemokratie ist für Göttlich das Prinzip des Klubs. „Wir sind und | |
bleiben ein mitgliedergeführter Verein“, sagt er, „weil die Fans den Verein | |
in dieser Form begründet haben.“ Damit ist St. Pauli Teil einer | |
aussterbenden Art im Profigeschäft. Nur noch sechs Bundesligisten sind | |
eingetragene Vereine. Alle anderen haben ihre Profiabteilung in | |
Kapitalgesellschaften ausgegliedert, die Hälfte hat bereits Investoren ins | |
Boot geholt. | |
## Die 50+1-Regel | |
St. Pauli will, dass wenigstens die Grundstruktur erhalten bleibt, nach der | |
die Vereine an ihren Profiabteilungen die Mehrheit halten müssen, | |
mindestens 50 Prozent plus einen Anteil. „Dafür kämpfen wir auf allen | |
Ebenen“, sagt Göttlich. Auch wenn es von dieser „50+1-Regel“ längst | |
Ausnahmen gibt, wie den „Werksklub“ Bayer Leverkusen, oder trickreiche | |
Modelle, die die Regel umgehen, wie RB Leipzig. | |
Da hat der Verein genau 23 stimmberechtigte Mitglieder. Die haben formal | |
die Stimmenmehrheit, auch wenn 99 Prozent der Profiabteilung dem | |
Red-Bull-Konzern gehören. Der ist auch bei einem anderen Anliegen von | |
Göttlich der Hauptgegner: Er möchte Multi-Club-Ownerships beschränken. | |
Multi-Club-Ownership, das ist das Prinzip Red Bull: Zum RB-Imperium gehören | |
neben Leipzig bereits Clubs in Österreich, Brasilien, den USA und Japan, | |
zwischen denen der Konzern Spieler verschieben kann. Es sind solche | |
Auswüchse, die Oke Göttlich meint, wenn er von „entgrenztem Profifußball | |
für die privilegierte Minderheit der europäisch spielenden Klubs“ spricht. | |
Dagegen geht es in Wolfsburg, wo Julian inzwischen angekommen ist, fast | |
beschaulich zu. Obwohl die Profiabteilung eine hundertprozentige Tochter | |
des VW-Konzerns ist – und nur dank dessen Unterstützung in der Bundesliga | |
bestehen kann. Das Stadion ist nur selten ausverkauft, weshalb man leicht | |
an Karten kommt – für Julian ist das auch schon das Beste an Wolfsburg. | |
Tausende St.-Pauli-Fans haben sich deswegen nach Ostniedersachsen | |
aufgemacht. | |
Julian bedeutet es viel, den Fußball mit seiner Tochter zu teilen. Obwohl | |
sie erst 14 ist, hat sie schon manche Auswärtsfahrt mitgemacht. Sie selbst | |
spielt Handball beim FC St. Pauli. Auch sonst sei sie „zum Glück sozial | |
supergut involviert“, sagt der Vater – „und ich bin froh, wenn ich mal die | |
Gelegenheit kriege, Zeit gemeinsam zu verbringen“. | |
Auf dem Weg zum Stadion singen Julian und seine Tochter mit den anderen | |
Fans. Der Tross zieht durch die Innenstadt, durch Beton-Unterführungen, wo | |
es so schön laut hallt, bis zum Mittellandkanal, an dessen schnurgeradem | |
Ufer die Volkswagen-Arena steht. „So ein Stadion vom Reißbrett“, sagt | |
Julian spöttisch. | |
Ein Drittel des Stadions haben an die 10.000 Gästefans okkupiert. Sie haben | |
ein großes lilafarbenes Transparent mitgebracht, auf dem ein Mädchen mit | |
Zöpfen zu sehen ist, in der Hand ein brennendes Streichholz. Darunter steht | |
„Burn the patriarchy“, fackelt das Patriarchat ab. Das Spiel findet am | |
Frauentag statt. | |
Die St.-Pauli-Fans sind lauter, ihr Team tritt auf wie eine Heimmannschaft | |
und geht in Führung. Gelingt der erste Sieg seit sechs Wochen? Ein | |
diskutabler Elfmeter rettet den Wolfsburgern einen Punkt. Als der | |
Heimverein [4][kurz vor Schluss Kevin Behrens einwechselt], pfeifen die | |
St.-Pauli-Fans ihn aus. Weil er sich geweigert hatte, Merchandising-Artikel | |
in Regenbogenfarben zu signieren – mit den Worten „schwule Scheiße“. | |
Doch auch der FC St. Pauli ist nicht über fußballtypisches Machotum | |
erhaben. Das erlebt Julian auf dem Rückweg im Zug, als im Gemenge ein | |
sexistischer Spruch fällt: ‚Ihr seid doch keine Mädchen‘. Er hat | |
widersprochen, da kam zur Antwort: „Ach stimmt, das darf man ja heute nicht | |
mehr sagen.“ | |
Dass so was immer noch passiert, unter St.-Pauli-Fans, macht ihn | |
fassungslos. Es brauche wohl noch mehr aktive Aufklärungsarbeit, vielleicht | |
„einen thematischen Club-Ride“, also eine Ausfahrt – „mit Vortrag über | |
kritische Männlichkeit“. Oder einen Soli-Ride für ein Frauenhaus oder eine | |
Präventionsstelle gegen sexuelle Gewalt im Stadtteil. Julian denkt von der | |
Fahrradabteilung aus, wo er was bewirken kann. | |
## Die Nachhaltigkeitsbeauftragte | |
Frauen im Stadion sind bei St. Pauli selbstverständlicher als anderswo, | |
aber immer noch in der Minderheit. „Die Tendenz ist gut, gerade in der | |
Südkurve sind viele auch junge Frauen und Mädchen am Start. Das fühlt sich | |
zunehmend normal an“, sagt Julian. „Aber es gibt immer wieder Vorfälle, bei | |
denen patriarchale Strukturen und Verhaltensweisen es ein Stück | |
ungemütlicher machen.“ Sein Fazit: „Es ist nicht cool, bevor wir bei 50 | |
Prozent sind.“ | |
Auf der Führungsebene ist der FC St. Pauli längst weiter. Im Aufsichtsrat | |
sitzen vier Frauen und drei Männer. Im Präsidium ist das Verhältnis drei zu | |
zwei. Damit ist der Verein einsamer Tabellenführer. Laut einer Umfrage der | |
Hamburger Initiative „Fußball kann mehr“, die sich für mehr Diversität | |
starkmacht, gab es 2024 im Top-Management bei allen Profiklubs zusammen nur | |
sechs Frauen. Die Hälfte von ihnen arbeitet beim FC St. Pauli. | |
Mit Profifußball hatte Esin Rager wenig am Hut, bis vor vier Jahren Oke | |
Göttlich auf sie zukam. Sie hat die Tee-Firma Samova gegründet und | |
beschäftigt sich seit Jahren mit ökologischer und fairer Produktion in | |
aller Welt – und mit recycelbaren Verpackungen. Deshalb fragte Göttlich | |
sie, ob sie sich beim FC St. Pauli um Nachhaltigkeit kümmern könnte. Sie | |
dachte, es gehe um ein bisschen Beratung, aber er sagte: „Nee, als | |
Vizepräsidentin.“ | |
„Das war genau hier, auf diesem Sofa“, erinnert sich Rager. Eine enge | |
Stiege führt in ihr Büro im Kulturpalast Billstedt, einem soziokulturellen | |
Zentrum in einem alten Wasserwerk, wo die taz sie zum Interview trifft. Sie | |
kocht einen Tee mit griechischem Bergkraut und macht es sich auf dem Sofa | |
bequem. | |
Rager hat durchgesetzt, dass der Klub gemeinwohlbilanziert wird. Gerade | |
[5][ist der erste Nachhaltigkeitsbericht erschienen]. Und sie hat die | |
Gründung einer eigenen Abteilung „Strategie, Veränderung, Nachhaltigkeit“ | |
angeschoben. „Wir haben bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen ein | |
Vetorecht – egal ob wir was bauen, T-Shirts bestellen oder den Rasen | |
auswechseln.“ Sie haben erreicht, dass bei den Werbeverträgen Schnaps, | |
Online-Sportwetten und fossile Brennstoffe inzwischen tabu sind. | |
Rager besteht darauf, dass ihr Engagement ein Ehrenamt bleibt, obwohl es | |
dem Umfang einer halben Stelle entspricht. „Ich brauche die | |
Unabhängigkeit“, sagt sie. So kann sie ihr Amt jederzeit in die Waagschale | |
werfen, wenn Nachhaltigkeit nicht so groß geschrieben wird, wie sie sich | |
das wünscht. | |
Wie bei der Currywurst. Rager will das Stadioncatering auf bio umstellen. | |
58 Prozent der Würste, die dort verkauft werden, sind mittlerweile aus | |
Bio-Produktion, mehr als jede zehnte sogar vegan. Vorausgegangen waren | |
viele Debatten über [6][Tierhaltung] und die Folgen. | |
Beim Merchandising hatte der FC St. Pauli ganz groß gedacht, gründete seine | |
eigene Marke DIIY für „ultra-faire Sportswear“, die auch das Profi-Team | |
ausstattete. Doch das Experiment ging schief. Als Niederlage will Esin | |
Rager das aber nicht sehen: „Unser neuer Ausrüster Puma ist auf uns | |
zugekommen, weil sie von uns in Sachen Nachhaltigkeit lernen wollten“, sagt | |
sie. Im Fanshop kann man alte Trikots abgeben, aus denen Recycling-Garne | |
für die Puma-Kollektion gewonnen werden. „Sogar das alte HSV-Trikot vom | |
Nachbarn“, sagt Rager. | |
Das größte Ziel für die Zukunft ist, den Ausstoß von Treibhausgasen bis | |
2031 zu halbieren. Großes Einsparpotenzial bietet das Herzstück des | |
Fußballs: der Rasen. In den heutigen, engen Fußballstadien wächst das Gras | |
nämlich nicht von allein. Scheinwerfer an einem spielfeldbreiten Gestänge | |
rollen wie in Zeitlupe von einem Tor zum anderen. Allein sie durch LEDs zu | |
ersetzen, würde jährlich den Ausstoß von 240 Tonnen CO2-Äquivalenten | |
vermeiden, so steht es im Nachhaltigkeitsbericht, fast ein Viertel des | |
Einsparziels. | |
Der Profisport verlangt stets optimale Bedingungen. Dazu gehören manchmal | |
sogar Flugreisen, auch wenn Teile der Anhängerschaft mit dem Kopf | |
schütteln. Esin Rager sieht das pragmatisch. „Ohne Fliegen würden die das | |
gar nicht schaffen“, sagt sie und nennt ein Beispiel, das sich auf das | |
Pensum des aktuellen St.-Pauli-Kapitäns bezieht: „Wie soll das gehen, wenn | |
Jackson Irvine am Donnerstag vom Länderspiel mit der australischen | |
Nationalmannschaft zurückkommt und am Freitag oder Samstag wieder | |
Bundesliga ist?“ Sogar Kurzstreckenflüge nach Leipzig oder Dortmund seien | |
manchmal nötig. Aber: „Wir sagen: Ihr müsst nicht immer Charter fliegen, | |
ihr könnt schön in ein Linienflugzeug steigen.“ Das verursache schon mal | |
weniger Emissionen. | |
Die „Mannschaftsmobilität“ verursacht laut dem Nachhaltigkeitsbericht | |
ohnehin nur 1,09 Prozent der klimaschädlichen Emissionen des Vereins. Sein | |
bei Weitem größtes Problem sind in dieser Hinsicht die Fans: Ihre Anreise | |
macht fast zwei Drittel aller Emissionen des Clubs aus, 57-mal so viel wie | |
die Profis. Fast jeder vierte kommt mit dem Auto ans Millerntor, das im | |
Umkreis von einem Kilometer zwei S- und drei U-Bahnhöfe hat. Dagegen kann | |
der Verein wenig tun. | |
Esin Rager gibt sich nicht mit ihrem Wirken bei St. Pauli zufrieden. „Wir | |
haben erstritten, dass die DFL Nachhaltigkeitskriterien eingeführt hat“, | |
sagt sie. Künftig soll die Ausschüttung von Geld an die Clubs auch danach | |
bemessen werden, ob sie sie erfüllen. | |
## „Kein Fußball den Faschisten“ | |
Auch in anderer Hinsicht dient St. Pauli als Vorbild. Schon 1991 nahm der | |
Hamburger Verein ein Verbot rassistischer Äußerungen in die Stadionordnung | |
auf. Drei Jahre später schrieb Schalke 04 es in seiner Satzung fest. Der | |
hoch verschuldete Ruhrpottklub ist auch der erste, der nun die | |
Genossenschafts-Idee aufgegriffen hat, um sein angegriffenes Eigenkapital | |
aufzufüllen. | |
Und sogar beim Nachbarn HSV denken sie darüber nach, auch wenn noch zu | |
klären wäre, wie sich eine Genossenschaft mit dem Investor Klaus-Michael | |
Kühne verträgt. | |
Der Kern des St.-Pauli-Selbstverständnisses ist in mannshohen Lettern auf | |
den Beton im Millerntor-Stadion gepinselt: „Kein Fußball den Faschisten.“ | |
Zu lesen sind sie nur, wenn es leer ist. Wie 2014, als die Nationalelf dort | |
trainierte. Der Deutsche Fußballbund (DFB), für den alles Politische im | |
Stadion nichts zu suchen hat, ließ die zweite Hälfte verhängen. | |
Da stand dann nur noch „Kein Fußball“, was wiederum auch missverständlich | |
war. Der DFB entschuldigte sich später schriftlich, beteuerte, er stehe | |
„gegen jede Form von Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder | |
Homophobie – wie in vorbildlicher Art und Weise immer wieder auch Ihr | |
Verein und Ihre Fanszene“. Plötzlich war der Antifaschismus salonfähig | |
geworden. | |
Das war vor dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Zuletzt beobachtet Oke | |
Göttlich einen anderen Trend: „Momentan ist das politische Klima und damit | |
auch die Auswärtsfahrten für viele unserer Fans eher schwierig. Wir werden | |
an den wenigsten Standorten mit offenen Armen empfangen.“ | |
Miriam Wolframm ist schon lange dabei, 15 Jahre Stehplatz Gegengerade, und | |
sie passt da immer noch gut hin: langer Pony, ausrasierte Schläfen, | |
Nasenring, schwarzer Hoodie mit dem Totenkopf-Logo. Hauptberuflich ist sie | |
Managerin der Grusel-Location Hamburg Dungeon in der historischen | |
Speicherstadt am Hafen, Führungskraft. Auch deshalb hat Oke Göttlich sie | |
für den Vorstand der Genossenschaft gewonnen. | |
Oder man muss wohl sagen: schanghait, so wie früher in den Hafenkneipen auf | |
St. Pauli die Seeleute, die angeheuert wurden, ohne wirklich zu wissen, wie | |
ihnen geschah. „Ich habe damals gesagt, die Vorstandsmitglieder müssten | |
eine einstellige Stundenzahl pro Woche aufbringen“, sagt Göttlich auf einer | |
Pressekonferenz Anfang Januar. Damit hatte er schamlos untertrieben. „Ich | |
wurde auf jeden Fall der Lüge bezichtigt. So was tue ich ungern“, sagt er. | |
Aber er grinst dabei. | |
## Genoss*innen-Kapital: 29 Millionen Euro | |
Nächte hindurch, sagt Wolframm im Gespräch mit der taz, hätten sie | |
Mitgliedsanträge bearbeitet, mit vielen Ehrenamtlichen. „Die waren das | |
Rückgrat, und genauso wollten wir das. Wir wollten ja den maximalen Gewinn | |
für den Verein und keinen großen Verwaltungsapparat aufbauen“, erklärt sie. | |
Am Ende hat die Genossenschaft in knapp fünf Monaten über 29 Millionen Euro | |
von mehr als 22.623 Menschen eingenommen. Das dicht am Maximalziel 30 | |
Millionen. Und damit die erfolgreichste Genossenschaftsgründung seit | |
Jahrzehnten in Deutschland. | |
Für viele ist der Erwerb eines Stücks Millerntor ein feierlicher Akt. | |
Deshalb strömen vor dem Heimspiel gegen Borussia Dortmund Anfang März Fans | |
ins Vereinsmuseum unter der Gegengerade des Stadions. Der Weg zum | |
Stadion-Anteil führt durch die Ausstellung „Kiezbeben“, die zeigt, wie der | |
FC St. Pauli und der Stadtteil wurden, was sie heute sind. | |
Aus Bauschutt und Bierflaschen ist eine Barrikade nachgebaut, dahinter | |
Fotos von den besetzten Häusern in der Hafenstraße. Von dort waren Anfang | |
der achtziger Jahre die ersten linken Fans ins Stadion gekommen und haben | |
peu à peu den Verein unterwandert, der bis dato ein stinknormaler | |
Fußballclub war. | |
Sie haben die Fahne mit dem Totenkopf mitgebracht, damals Symbol der | |
Hausbesetzer, die es den Hamburger Pfeffersäcken mal so richtig zeigen | |
wollten. Heute ist er eine eingetragene Marke, unter der der Verein eine | |
eigene Sportswear-Linie verkauft. | |
Unter massiven roten Stahlträgern, die einst die alte Gegentribüne trugen, | |
hat St.-Pauli-Fan Paul gerade seinen Genossenschaftsanteil gezeichnet. | |
Darauf geht er erst mal eine Runde Astra holen. Er ist mit zwei Freunden | |
da, die beide Martin heißen. Sie sind längst Genossen. „Man muss in diesen | |
Zeiten kleine soziale Burgen bauen, Inseln des Widerstands“, sagt der eine | |
Martin. | |
„Es entspricht unserem Selbstverständnis, alles auf viele Schultern zu | |
verteilen“, der andere. Deshalb haben sie zusammengelegt und Paul, der im | |
Leben nicht so viel Glück gehabt hat wie sie, auch einen Anteil geschenkt. | |
„Damit er Teil des Ganzen ist.“ Die Plastik-Bierbecher stoßen dumpf | |
aneinander. | |
Das Vereinsmuseum hat in diesen Wochen auch ein kleines Vereinsbeben | |
ausgelöst. Seit ein paar Wochen streitet die Fanszene über ihre Hymne „Das | |
Herz von St. Pauli“, von der man lange dachte, der wegen seiner | |
ambivalenten Haltung zum NS-Regime umstrittene Schauspieler Hans Albers | |
habe sie nicht nur gesungen, sondern auch geschrieben. | |
Dass der Text in Wahrheit, viel schlimmer, [7][von einem strammen | |
NS-Propagandisten stammt], hat Celina Albertz herausgefunden und im | |
[8][Podcast des Museums publik gemacht]. Die Politologin und Historikerin | |
sitzt in Bomberjacke und Strickmütze an einem Biertisch im frostigen Foyer. | |
„Ich dachte: interessante Hintergrundrecherche“, sagt sie. „Aber sie wird | |
schon nicht den Verein anzünden.“ Welch ein Irrtum. | |
Denn unter den Fans entbrannte eine Debatte darüber, ob man das Lied | |
weiterhin singen könnte. Vielen ist es derart ans Herz gewachsen, dass sie | |
es um jeden Preis retten wollen. Kann man „Künstler“ und Werk trennen? Ist | |
der Autor geläutert, der nach dem Krieg Ressortleiter bei der Welt und beim | |
Hamburger Abendblatt wurde? Oder ist das Lied gar hinreichend „angeeignet“, | |
weil am Millerntor eine Punk-Version gespielt wird? | |
Viele meinten, im Abstiegskampf sei die Debatte um die Fanhymne | |
kontraproduktiv. „Ich musste mir anhören, wie wenig ich vom Fußball | |
verstünde; davon, was ‚die Jungs‘ gerade brauchen“, sagt Albertz. „Von | |
Leuten, die vielleicht die zweieinhalb Minuten mitsingen, aber danach 90 | |
Minuten die Klappe halten.“ Jetzt klingt sie ein bisschen sauer. Sie geht | |
ins Stadion seit sie 16 ist, versteht sich als Teil der aktiven Fanszene. | |
## Der Debattier-Klub | |
Es war einer von „den Jungs“, der diese Anwürfe gekontert hat: | |
Mittelstürmer Johannes Eggestein. „Das fand ich stark“, sagt Albertz, „d… | |
hat sich als Erster hingestellt und so was gesagt wie:,Leute, ich bin | |
Profi, es wird meine sportliche Leistung nicht beeinträchtigen. Es zeichnet | |
St. Pauli als politischen Verein aus, dass wir solche Diskussionen führen, | |
macht euch mal keine Sorgen.'“ | |
Das Vereinspräsidium setzte sich mit dem ständigen Fanausschuss zusammen, | |
einer Art Korrektiv außerhalb der Vereinsstrukturen, das die Fanszene in | |
ihrer Breite repräsentiert und ihre Stimmungen transportiert. Das Ergebnis: | |
ein Moratorium. Albertz soll ihre Erkenntnisse schriftlich ausarbeiten, | |
danach wird entschieden. | |
Oke Göttlich ist der Überbringer der schlechten Nachricht. Vor dem | |
Heimspiel gegen den SC Freiburg Mitte Februar verkündet er im Stadion, | |
man werde das Lied vorerst nicht mehr spielen. Pfiffe und Applaus von den | |
Tribünen zeigen, wie gespalten die Anhängerschaft ist. Göttlich | |
appelliert an die Grundtugenden auf St. Pauli: „Debatten sind das, was | |
diesen Verein groß gemacht hat.“ | |
Freitagabend am Millerntor. Julian freut sich, denn unter Flutlicht haben | |
die Braun-Weißen schon viele große Spiele gemacht. Und es wäre mal wieder | |
Zeit dafür. Es ist ein Duell um den Abstieg, [9][gegen die TSG Hoffenheim], | |
nur zwei Tabellenplätze vor St. Pauli. Wieder so ein Spiel: der eine | |
Fußball gegen den anderen. Das Investorenprojekt des SAP-Milliardärs | |
Dietmar Hopp gegen einen „normalen“ Verein. | |
Die Glockenschläge von AC/DCs „Hells Bells“ dröhnen durch das Millerntor. | |
Im Gästeblock halten sie glitzernde Kissen aus Plastikfolie hoch, | |
abwechselnd silber- und blaumetallicfarben. Gegenüber fliegt Konfetti aus | |
biologisch abbaubarem Papier, Glitzerfolie hat der Verein längst verboten. | |
Auf dem braun-weißen Banner hinter dem Tor steht „Klassenkampf“. | |
Julian und seine Tochter stehen hinter dem „K“, auf der Südtribüne, gleich | |
neben den Ultras, wo es am lautesten ist. Ununterbrochen wird gesungen, | |
werden Fahnen geschwenkt. Dazwischen sieht man nur Ausschnitte vom Spiel. | |
Da, eine Lücke im Fahnenmeer, Balleroberung vorm Hoffenheimer Tor, dann | |
ein Stück braun-weißer Stoff – ausgerechnet jetzt! – der Torwart überlup… | |
Querpass, ein Aufschreien, das Tornetz zuckt, 1:0 für den FC St. Pauli! | |
Julian schreit die Freude raus, wirft die Faust in die Luft, schwankt in | |
der Masse, umarmt seine Tochter. Der trockene Beat von Blurs „Song 2“ kommt | |
aus den Lautsprechern, die die ganze Südkurve beginnt im Takt zu hüpfen und | |
singt mit: „Whoo-hoo!“ hallt es durch das Stadion, den Stadtteil und | |
vielleicht auch ein bisschen in die weite Welt hinaus. | |
Hinweis: Wir haben die Summe der Genossenschaftsanteile nach oben | |
korrigiert, nachdem der FC St. Pauli sie ausgezählt und endgültig | |
bekanntgegeben hat. | |
26 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Punk-und-Pauli-Aktivist-ueber-neue-Show/!5986533 | |
[2] /Fanfestival-und-Demokratiedemo/!6008852 | |
[3] /Abschied-vom-FC-Bayern/!6079333 | |
[4] /Homophobie-in-der-Fussball-Bundesliga/!6043924 | |
[5] https://www.fcstpauli.com/news/fc-st-pauli-prasentiert-nachhaltigkeitsberic… | |
[6] /Wird-Tierhaltung-wieder-schlechter/!6069279 | |
[7] /Debatte-um-Fussballhymne/!6068292 | |
[8] https://fcsp-geschichten-podcast.podigee.io/20-der-hafen | |
[9] /Ultras-von-Hoffenheim/!6029242 | |
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Jan Kahlcke | |
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St. Pauli-Liebe von Uli Hoeneß: Vom Finanzzocker zum Genossen | |
Was treibt Uli Hoeneß nur in die Arme des FC St. Pauli? Jetzt kauft der | |
Ehrenpräsident des FC Bayern sich auch noch ein Stück Kiezklub. | |
Polizeidrohnen am Millerntor: Braun-Weiße Hilfe kritisiert Überwachung | |
Beim jüngsten Heimspiel des FC St. Pauli ließ die Polizei eine Drohne über | |
den Fans schweben. Die Braun-Weiße-Hilfe hält das für unverhältnismäßig. | |
Debatte um Fußballhymne: Das „Herz von St. Pauli“ schlägt nicht mehr am M… | |
Der FC St. Pauli versteht sich als antifaschistischer Klub. Nun ist man auf | |
die NS-Vergangenheit des Texters der inoffiziellen Vereinshymne gestoßen. |