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# taz.de -- FC St. Pauli: Angriff über den linken Flügel
> Nachhaltigkeit, Antisexismus, nun auch noch eine Genossenschaft: Der FC
> St. Pauli ist anders als andere Klubs. Kann der Verein damit Vorbild
> sein?
Bild: Rassistische Äußerungen sind schon seit 1991 am Millerntor verboten, na…
Es ist Samstagmorgen, die ersten Sonnenstrahlen dringen in den Hamburger
Hauptbahnhof. Der Metronom nach Uelzen ist schon ziemlich voll, der
Bahnsteig immer noch. Bierdunst liegt in der Luft. Pünktlich um 7.57 Uhr
rollt der Regionalzug los. Julian hat eine Vierer-Sitzgruppe im
Obergeschoss des Doppeldeckers gefunden, mit zwei Freunden und seiner
Tochter. Sie fahren zum Auswärtsspiel des FC St. Pauli nach Wolfsburg.
Julian, ein drahtiger Typ, dem die blonden Haare über die muskulösen
Oberarme fallen, trägt trotz der Morgenfrische ein T-Shirt. Schwarz mit
einem Kreis in allen Farben des Regenbogens – und noch einigen mehr. Es ist
die Progressive-Pride-Flagge, die auch trans Personen, Agender oder
Intersexuelle einbeziehen soll. In der Mitte das Vereinslogo des des FC St.
Pauli mit dem Schriftzug „Radsport“.
In der Radsportabteilung ist Julian erst ein paar Jahre aktiv. Aber
Vereinsmitglied ist der 34-Jährige schon seit 2011. Im Stadion war er schon
als kleiner Junge gelegentlich.
„Auch ein paar Mal auf der falschen Seite, im Volksparkstadion“, sagt er,
„wo ich mich dann sehr schnell nicht mehr wohl gefühlt habe, schon als Kind
tatsächlich.“ Wegen der insgesamt aggressiven Haltung beim Lokalrivalen HSV
damals, um die Jahrtausendwende, wegen frauenfeindlicher und rassistischer
Gesänge. „Die waren auch ohne besonderes politisches Verständnis merklich.�…
Beim FC St. Pauli war es ganz anders. Als Teenager habe er den Club als
„den richtigen Ort mit den richtigen Werten“ wahrgenommen. [1][„Das war
Musik, Metal und Punk“], sagt Julian, „das hat sich sozial passender
angefühlt. Eine klassische Symbiose von Subkultur, Politik – und dann eben
Fußballinteresse.“ Man traf sich im selbstorganisierten Fanladen, nicht
weit vom alten Millerntor-Stadion. Als er älter wurde, hat er dort nach
Heimspielen für alle gekocht. „Weil ich was zurückgeben wollte.“
Und jetzt ist er auch noch Genosse. 2024 hat der Verein eine Genossenschaft
gegründet, die erste im Profifußball überhaupt. Sie soll die Mehrheit am
Millerntor-Stadion übernehmen und den Verein damit von den Banken
unabhängiger machen. 850 Euro hat Julian für seinen Anteil gezahlt. „Viel
Geld“, findet er, er hätte es niedrigschwelliger besser gefunden. Aber
jetzt gehört ihm ein Stück Stadion.
Der Slogan der Genossenschaft ist „Ein anderer Fußball ist möglich“. Er i…
angelehnt an das Motto der globalen emanzipatorischen Bewegungen: „Eine
andere Welt ist möglich“. Denn während andere Fußballklubs Politik nach
Kräften meiden, gehören bei St. Pauli Politik und Sport zusammen.
Der Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus, das Ringen um
Nachhaltigkeit oder einen bewussteren Umgang mit der Geschichte spielen
eine so große Rolle, dass man denken könnte, [2][das alles wäre wichtiger
als der Fußball]. Der Verein will nicht nur den Profifußball selbst
verändern, sondern in die Gesellschaft wirken, erst recht nach dem
Wiederaufstieg in die erste Bundesliga 2024. Aber wie klappt das? Und gibt
es ihn überhaupt, den richtigen Fußball im falschen?
Oke Göttlich will es versuchen. „Wenn du mit einer nachhaltigen Strategie
in den Sport investierst“, sagt der Präsident des FC St. Pauli, „kannst du
ein nächstes Level erreichen, dort kannst du die Wirkung für
gesellschaftliche Themen auch breiter an den Start bringen.“ Früher war er
Sportredakteur bei der taz in Hamburg. Beim Besuch in seiner alten
Redaktion sieht er eine Unterschriftenliste für mehr Klimaschutz in der
Küche liegen. „Ah, muss ich ja noch unterschreiben“, sagt er und zückt
einen Kugelschreiber.
Aber gekommen ist er wegen des eigenen Projekts: „Unsere Genossenschaft“,
schwärmt er, „ist die am meisten demokratische und partizipative, die
gemeinwohlähnlichste Organisationsform, die man sich vorstellen kann“.
Jahre haben sie darüber im Verein gebrütet. Dass St. Pauli erstmals seit 14
Jahren wieder in der ersten Fußball-Bundesliga spielt, hilft,
Aufmerksamkeit für das Genossenschaftsmodell zu generieren. Und es macht
dessen Notwendigkeit umso deutlicher.
Denn die Unterschiede in der Bundesliga sind riesig: Für das aktuelle
Erstligajahr peilen sie am Millerntor erstmals einen Jahresumsatz von etwa
100 Millionen Euro an – während [3][der FC Bayern gerade die Milliarde
geknackt hat.] Es seien in jüngerer Zeit „grotesk hohe Steigerungen aus den
internationalen Wettbewerben dazugekommen“, sagt Göttlich. Davon profitiere
nur das obere Drittel der Tabelle.
## Der Anwalt der Kleinen
Göttlich ist so etwas wie der Anwalt der Kleinen im großen Fußballgeschäft.
Er ist seit 2019 im Präsidium der Deutschen Fußball Liga (DFL), dem neben
den beiden Geschäftsführern sieben gewählte Vertreter der 36 Erst- und
Zweitligisten angehören und das die Geschicke des Profifußballs bestimmt.
Kürzlich wollte Göttlich mal wieder eine Umverteilung organisieren – von
oben nach unten. Er sprach sich dafür aus, wenigstens das Geld, das die
Fernsehsender für die Bundesliga-Rechte zahlen, etwas gleichmäßiger an die
36 Profiklubs zu verteilen. Und blitzte damit ab.
Doch er hat sich auch schon durchgesetzt. Im vergangenen Jahr wollte die
DFL-Geschäftsführung im Schnelldurchlauf den Einstieg von Investoren
durchpeitschen, um mit deren Milliarden die verschlafene Digitalisierung
nachzuholen und neue, internationale Märkte zu erschließen. Im Gegenzug
hätte die Liga Teile ihrer Medienrechte abgetreten.
In den Stadien gab es Fan-Proteste. Göttlich wollte wenigstens in Ruhe über
das Wie diskutieren – und stimmte am Ende dagegen, auch weil er ein klares
Mandat von seinem Klub hatte. Der Investoren-Deal wurde schließlich
abgeblasen. Was dagegen sprach? „Bei jedem Deal, den die Fußballliga bisher
gemacht hat, hat sie mehrheitlich nicht an die kleinen und mittleren
Vereine gedacht, sondern immer eher an die größeren“, sagt Göttlich. „Das
schafft ein Ungleichgewicht, das dazu führt, dass immer die Gleichen oben
stehen.“
Natürlich will auch der FC St. Pauli sportlichen Erfolg, aber nicht um
jeden Preis. Der Verein nimmt sogar weniger Geld ein, als er könnte. Er
verkauft weder den Stadionnamen noch die Präsentation der Eckstöße oder der
Zwischenstände, wie in anderen Stadien üblich. Und er wählt Sponsoren sehr
genau aus. „Wir lehnen auch immer wieder Partner ab, die sehr gerne mit uns
zusammenarbeiten würden“, sagt Göttlich.
Vereinswerte gehen über monetäre Werte, so soll es bei St. Pauli sein. „Der
FC St. Pauli hat Fesseln, die wir uns ganz bewusst selbst anlegen, die aber
auch zur Stärkung der Marke beitragen“, sagt Göttlich. Es gibt nämlich
Unternehmen, die gerade wegen dieses Images als der andere, der bessere
Club gern mit St. Pauli ins Geschäft kommen wollen.
„Wettbewerber und Neider werfen uns das als Doppelmoral und
Scheinheiligkeit vor,“ sagt Göttlich. „Diese vermeintliche Scheinheiligkeit
kostet uns auf der anderen Seite aber auch fünf Millionen Euro im Jahr. Ich
würde gern mal sehen, wie die Kritiker:innen es da mit Werten halten.“
Was geht und was nicht geht, das wird im Verein unter den Mitgliedern
ständig neu verhandelt. Fan Julian fallen sofort Vorkommnisse ein, die
„Kritik und Gegensteuerung“ benötigt hätten.
Etwa der Ausrüstervertrag mit dem Trump-nahen US-Label Under Armour:
Jahrelang gab es Kritik an dem 2016 abgeschlossenen Deal – 2021 schließlich
wurde er beendet. Das unterscheidet St. Pauli für Julian von anderen Clubs:
Es würden auch Konsequenzen gezogen. „Das finde ich einen sehr guten
Ausdruck von einer gelebten demokratischen Haltung.“
Basisdemokratie ist für Göttlich das Prinzip des Klubs. „Wir sind und
bleiben ein mitgliedergeführter Verein“, sagt er, „weil die Fans den Verein
in dieser Form begründet haben.“ Damit ist St. Pauli Teil einer
aussterbenden Art im Profigeschäft. Nur noch sechs Bundesligisten sind
eingetragene Vereine. Alle anderen haben ihre Profiabteilung in
Kapitalgesellschaften ausgegliedert, die Hälfte hat bereits Investoren ins
Boot geholt.
## Die 50+1-Regel
St. Pauli will, dass wenigstens die Grundstruktur erhalten bleibt, nach der
die Vereine an ihren Profiabteilungen die Mehrheit halten müssen,
mindestens 50 Prozent plus einen Anteil. „Dafür kämpfen wir auf allen
Ebenen“, sagt Göttlich. Auch wenn es von dieser „50+1-Regel“ längst
Ausnahmen gibt, wie den „Werksklub“ Bayer Leverkusen, oder trickreiche
Modelle, die die Regel umgehen, wie RB Leipzig.
Da hat der Verein genau 23 stimmberechtigte Mitglieder. Die haben formal
die Stimmenmehrheit, auch wenn 99 Prozent der Profiabteilung dem
Red-Bull-Konzern gehören. Der ist auch bei einem anderen Anliegen von
Göttlich der Hauptgegner: Er möchte Multi-Club-Ownerships beschränken.
Multi-Club-Ownership, das ist das Prinzip Red Bull: Zum RB-Imperium gehören
neben Leipzig bereits Clubs in Österreich, Brasilien, den USA und Japan,
zwischen denen der Konzern Spieler verschieben kann. Es sind solche
Auswüchse, die Oke Göttlich meint, wenn er von „entgrenztem Profifußball
für die privilegierte Minderheit der europäisch spielenden Klubs“ spricht.
Dagegen geht es in Wolfsburg, wo Julian inzwischen angekommen ist, fast
beschaulich zu. Obwohl die Profiabteilung eine hundertprozentige Tochter
des VW-Konzerns ist – und nur dank dessen Unterstützung in der Bundesliga
bestehen kann. Das Stadion ist nur selten ausverkauft, weshalb man leicht
an Karten kommt – für Julian ist das auch schon das Beste an Wolfsburg.
Tausende St.-Pauli-Fans haben sich deswegen nach Ostniedersachsen
aufgemacht.
Julian bedeutet es viel, den Fußball mit seiner Tochter zu teilen. Obwohl
sie erst 14 ist, hat sie schon manche Auswärtsfahrt mitgemacht. Sie selbst
spielt Handball beim FC St. Pauli. Auch sonst sei sie „zum Glück sozial
supergut involviert“, sagt der Vater – „und ich bin froh, wenn ich mal die
Gelegenheit kriege, Zeit gemeinsam zu verbringen“.
Auf dem Weg zum Stadion singen Julian und seine Tochter mit den anderen
Fans. Der Tross zieht durch die Innenstadt, durch Beton-Unterführungen, wo
es so schön laut hallt, bis zum Mittellandkanal, an dessen schnurgeradem
Ufer die Volkswagen-Arena steht. „So ein Stadion vom Reißbrett“, sagt
Julian spöttisch.
Ein Drittel des Stadions haben an die 10.000 Gästefans okkupiert. Sie haben
ein großes lilafarbenes Transparent mitgebracht, auf dem ein Mädchen mit
Zöpfen zu sehen ist, in der Hand ein brennendes Streichholz. Darunter steht
„Burn the patriarchy“, fackelt das Patriarchat ab. Das Spiel findet am
Frauentag statt.
Die St.-Pauli-Fans sind lauter, ihr Team tritt auf wie eine Heimmannschaft
und geht in Führung. Gelingt der erste Sieg seit sechs Wochen? Ein
diskutabler Elfmeter rettet den Wolfsburgern einen Punkt. Als der
Heimverein [4][kurz vor Schluss Kevin Behrens einwechselt], pfeifen die
St.-Pauli-Fans ihn aus. Weil er sich geweigert hatte, Merchandising-Artikel
in Regenbogenfarben zu signieren – mit den Worten „schwule Scheiße“.
Doch auch der FC St. Pauli ist nicht über fußballtypisches Machotum
erhaben. Das erlebt Julian auf dem Rückweg im Zug, als im Gemenge ein
sexistischer Spruch fällt: ‚Ihr seid doch keine Mädchen‘. Er hat
widersprochen, da kam zur Antwort: „Ach stimmt, das darf man ja heute nicht
mehr sagen.“
Dass so was immer noch passiert, unter St.-Pauli-Fans, macht ihn
fassungslos. Es brauche wohl noch mehr aktive Aufklärungsarbeit, vielleicht
„einen thematischen Club-Ride“, also eine Ausfahrt – „mit Vortrag über
kritische Männlichkeit“. Oder einen Soli-Ride für ein Frauenhaus oder eine
Präventionsstelle gegen sexuelle Gewalt im Stadtteil. Julian denkt von der
Fahrradabteilung aus, wo er was bewirken kann.
## Die Nachhaltigkeitsbeauftragte
Frauen im Stadion sind bei St. Pauli selbstverständlicher als anderswo,
aber immer noch in der Minderheit. „Die Tendenz ist gut, gerade in der
Südkurve sind viele auch junge Frauen und Mädchen am Start. Das fühlt sich
zunehmend normal an“, sagt Julian. „Aber es gibt immer wieder Vorfälle, bei
denen patriarchale Strukturen und Verhaltensweisen es ein Stück
ungemütlicher machen.“ Sein Fazit: „Es ist nicht cool, bevor wir bei 50
Prozent sind.“
Auf der Führungsebene ist der FC St. Pauli längst weiter. Im Aufsichtsrat
sitzen vier Frauen und drei Männer. Im Präsidium ist das Verhältnis drei zu
zwei. Damit ist der Verein einsamer Tabellenführer. Laut einer Umfrage der
Hamburger Initiative „Fußball kann mehr“, die sich für mehr Diversität
starkmacht, gab es 2024 im Top-Management bei allen Profiklubs zusammen nur
sechs Frauen. Die Hälfte von ihnen arbeitet beim FC St. Pauli.
Mit Profifußball hatte Esin Rager wenig am Hut, bis vor vier Jahren Oke
Göttlich auf sie zukam. Sie hat die Tee-Firma Samova gegründet und
beschäftigt sich seit Jahren mit ökologischer und fairer Produktion in
aller Welt – und mit recycelbaren Verpackungen. Deshalb fragte Göttlich
sie, ob sie sich beim FC St. Pauli um Nachhaltigkeit kümmern könnte. Sie
dachte, es gehe um ein bisschen Beratung, aber er sagte: „Nee, als
Vizepräsidentin.“
„Das war genau hier, auf diesem Sofa“, erinnert sich Rager. Eine enge
Stiege führt in ihr Büro im Kulturpalast Billstedt, einem soziokulturellen
Zentrum in einem alten Wasserwerk, wo die taz sie zum Interview trifft. Sie
kocht einen Tee mit griechischem Bergkraut und macht es sich auf dem Sofa
bequem.
Rager hat durchgesetzt, dass der Klub gemeinwohlbilanziert wird. Gerade
[5][ist der erste Nachhaltigkeitsbericht erschienen]. Und sie hat die
Gründung einer eigenen Abteilung „Strategie, Veränderung, Nachhaltigkeit“
angeschoben. „Wir haben bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen ein
Vetorecht – egal ob wir was bauen, T-Shirts bestellen oder den Rasen
auswechseln.“ Sie haben erreicht, dass bei den Werbeverträgen Schnaps,
Online-Sportwetten und fossile Brennstoffe inzwischen tabu sind.
Rager besteht darauf, dass ihr Engagement ein Ehrenamt bleibt, obwohl es
dem Umfang einer halben Stelle entspricht. „Ich brauche die
Unabhängigkeit“, sagt sie. So kann sie ihr Amt jederzeit in die Waagschale
werfen, wenn Nachhaltigkeit nicht so groß geschrieben wird, wie sie sich
das wünscht.
Wie bei der Currywurst. Rager will das Stadioncatering auf bio umstellen.
58 Prozent der Würste, die dort verkauft werden, sind mittlerweile aus
Bio-Produktion, mehr als jede zehnte sogar vegan. Vorausgegangen waren
viele Debatten über [6][Tierhaltung] und die Folgen.
Beim Merchandising hatte der FC St. Pauli ganz groß gedacht, gründete seine
eigene Marke DIIY für „ultra-faire Sportswear“, die auch das Profi-Team
ausstattete. Doch das Experiment ging schief. Als Niederlage will Esin
Rager das aber nicht sehen: „Unser neuer Ausrüster Puma ist auf uns
zugekommen, weil sie von uns in Sachen Nachhaltigkeit lernen wollten“, sagt
sie. Im Fanshop kann man alte Trikots abgeben, aus denen Recycling-Garne
für die Puma-Kollektion gewonnen werden. „Sogar das alte HSV-Trikot vom
Nachbarn“, sagt Rager.
Das größte Ziel für die Zukunft ist, den Ausstoß von Treibhausgasen bis
2031 zu halbieren. Großes Einsparpotenzial bietet das Herzstück des
Fußballs: der Rasen. In den heutigen, engen Fußballstadien wächst das Gras
nämlich nicht von allein. Scheinwerfer an einem spielfeldbreiten Gestänge
rollen wie in Zeitlupe von einem Tor zum anderen. Allein sie durch LEDs zu
ersetzen, würde jährlich den Ausstoß von 240 Tonnen CO2-Äquivalenten
vermeiden, so steht es im Nachhaltigkeitsbericht, fast ein Viertel des
Einsparziels.
Der Profisport verlangt stets optimale Bedingungen. Dazu gehören manchmal
sogar Flugreisen, auch wenn Teile der Anhängerschaft mit dem Kopf
schütteln. Esin Rager sieht das pragmatisch. „Ohne Fliegen würden die das
gar nicht schaffen“, sagt sie und nennt ein Beispiel, das sich auf das
Pensum des aktuellen St.-Pauli-Kapitäns bezieht: „Wie soll das gehen, wenn
Jackson Irvine am Donnerstag vom Länderspiel mit der australischen
Nationalmannschaft zurückkommt und am Freitag oder Samstag wieder
Bundesliga ist?“ Sogar Kurzstreckenflüge nach Leipzig oder Dortmund seien
manchmal nötig. Aber: „Wir sagen: Ihr müsst nicht immer Charter fliegen,
ihr könnt schön in ein Linienflugzeug steigen.“ Das verursache schon mal
weniger Emissionen.
Die „Mannschaftsmobilität“ verursacht laut dem Nachhaltigkeitsbericht
ohnehin nur 1,09 Prozent der klimaschädlichen Emissionen des Vereins. Sein
bei Weitem größtes Problem sind in dieser Hinsicht die Fans: Ihre Anreise
macht fast zwei Drittel aller Emissionen des Clubs aus, 57-mal so viel wie
die Profis. Fast jeder vierte kommt mit dem Auto ans Millerntor, das im
Umkreis von einem Kilometer zwei S- und drei U-Bahnhöfe hat. Dagegen kann
der Verein wenig tun.
Esin Rager gibt sich nicht mit ihrem Wirken bei St. Pauli zufrieden. „Wir
haben erstritten, dass die DFL Nachhaltigkeitskriterien eingeführt hat“,
sagt sie. Künftig soll die Ausschüttung von Geld an die Clubs auch danach
bemessen werden, ob sie sie erfüllen.
## „Kein Fußball den Faschisten“
Auch in anderer Hinsicht dient St. Pauli als Vorbild. Schon 1991 nahm der
Hamburger Verein ein Verbot rassistischer Äußerungen in die Stadionordnung
auf. Drei Jahre später schrieb Schalke 04 es in seiner Satzung fest. Der
hoch verschuldete Ruhrpottklub ist auch der erste, der nun die
Genossenschafts-Idee aufgegriffen hat, um sein angegriffenes Eigenkapital
aufzufüllen.
Und sogar beim Nachbarn HSV denken sie darüber nach, auch wenn noch zu
klären wäre, wie sich eine Genossenschaft mit dem Investor Klaus-Michael
Kühne verträgt.
Der Kern des St.-Pauli-Selbstverständnisses ist in mannshohen Lettern auf
den Beton im Millerntor-Stadion gepinselt: „Kein Fußball den Faschisten.“
Zu lesen sind sie nur, wenn es leer ist. Wie 2014, als die Nationalelf dort
trainierte. Der Deutsche Fußballbund (DFB), für den alles Politische im
Stadion nichts zu suchen hat, ließ die zweite Hälfte verhängen.
Da stand dann nur noch „Kein Fußball“, was wiederum auch missverständlich
war. Der DFB entschuldigte sich später schriftlich, beteuerte, er stehe
„gegen jede Form von Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder
Homophobie – wie in vorbildlicher Art und Weise immer wieder auch Ihr
Verein und Ihre Fanszene“. Plötzlich war der Antifaschismus salonfähig
geworden.
Das war vor dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Zuletzt beobachtet Oke
Göttlich einen anderen Trend: „Momentan ist das politische Klima und damit
auch die Auswärtsfahrten für viele unserer Fans eher schwierig. Wir werden
an den wenigsten Standorten mit offenen Armen empfangen.“
Miriam Wolframm ist schon lange dabei, 15 Jahre Stehplatz Gegengerade, und
sie passt da immer noch gut hin: langer Pony, ausrasierte Schläfen,
Nasenring, schwarzer Hoodie mit dem Totenkopf-Logo. Hauptberuflich ist sie
Managerin der Grusel-Location Hamburg Dungeon in der historischen
Speicherstadt am Hafen, Führungskraft. Auch deshalb hat Oke Göttlich sie
für den Vorstand der Genossenschaft gewonnen.
Oder man muss wohl sagen: schanghait, so wie früher in den Hafenkneipen auf
St. Pauli die Seeleute, die angeheuert wurden, ohne wirklich zu wissen, wie
ihnen geschah. „Ich habe damals gesagt, die Vorstandsmitglieder müssten
eine einstellige Stundenzahl pro Woche aufbringen“, sagt Göttlich auf einer
Pressekonferenz Anfang Januar. Damit hatte er schamlos untertrieben. „Ich
wurde auf jeden Fall der Lüge bezichtigt. So was tue ich ungern“, sagt er.
Aber er grinst dabei.
## Genoss*innen-Kapital: 29 Millionen Euro
Nächte hindurch, sagt Wolframm im Gespräch mit der taz, hätten sie
Mitgliedsanträge bearbeitet, mit vielen Ehrenamtlichen. „Die waren das
Rückgrat, und genauso wollten wir das. Wir wollten ja den maximalen Gewinn
für den Verein und keinen großen Verwaltungsapparat aufbauen“, erklärt sie.
Am Ende hat die Genossenschaft in knapp fünf Monaten über 29 Millionen Euro
von mehr als 22.623 Menschen eingenommen. Das dicht am Maximalziel 30
Millionen. Und damit die erfolgreichste Genossenschaftsgründung seit
Jahrzehnten in Deutschland.
Für viele ist der Erwerb eines Stücks Millerntor ein feierlicher Akt.
Deshalb strömen vor dem Heimspiel gegen Borussia Dortmund Anfang März Fans
ins Vereinsmuseum unter der Gegengerade des Stadions. Der Weg zum
Stadion-Anteil führt durch die Ausstellung „Kiezbeben“, die zeigt, wie der
FC St. Pauli und der Stadtteil wurden, was sie heute sind.
Aus Bauschutt und Bierflaschen ist eine Barrikade nachgebaut, dahinter
Fotos von den besetzten Häusern in der Hafenstraße. Von dort waren Anfang
der achtziger Jahre die ersten linken Fans ins Stadion gekommen und haben
peu à peu den Verein unterwandert, der bis dato ein stinknormaler
Fußballclub war.
Sie haben die Fahne mit dem Totenkopf mitgebracht, damals Symbol der
Hausbesetzer, die es den Hamburger Pfeffersäcken mal so richtig zeigen
wollten. Heute ist er eine eingetragene Marke, unter der der Verein eine
eigene Sportswear-Linie verkauft.
Unter massiven roten Stahlträgern, die einst die alte Gegentribüne trugen,
hat St.-Pauli-Fan Paul gerade seinen Genossenschaftsanteil gezeichnet.
Darauf geht er erst mal eine Runde Astra holen. Er ist mit zwei Freunden
da, die beide Martin heißen. Sie sind längst Genossen. „Man muss in diesen
Zeiten kleine soziale Burgen bauen, Inseln des Widerstands“, sagt der eine
Martin.
„Es entspricht unserem Selbstverständnis, alles auf viele Schultern zu
verteilen“, der andere. Deshalb haben sie zusammengelegt und Paul, der im
Leben nicht so viel Glück gehabt hat wie sie, auch einen Anteil geschenkt.
„Damit er Teil des Ganzen ist.“ Die Plastik-Bierbecher stoßen dumpf
aneinander.
Das Vereinsmuseum hat in diesen Wochen auch ein kleines Vereinsbeben
ausgelöst. Seit ein paar Wochen streitet die Fanszene über ihre Hymne „Das
Herz von St. Pauli“, von der man lange dachte, der wegen seiner
ambivalenten Haltung zum NS-Regime umstrittene Schauspieler Hans Albers
habe sie nicht nur gesungen, sondern auch geschrieben.
Dass der Text in Wahrheit, viel schlimmer, [7][von einem strammen
NS-Propagandisten stammt], hat Celina Albertz herausgefunden und im
[8][Podcast des Museums publik gemacht]. Die Politologin und Historikerin
sitzt in Bomberjacke und Strickmütze an einem Biertisch im frostigen Foyer.
„Ich dachte: interessante Hintergrundrecherche“, sagt sie. „Aber sie wird
schon nicht den Verein anzünden.“ Welch ein Irrtum.
Denn unter den Fans entbrannte eine Debatte darüber, ob man das Lied
weiterhin singen könnte. Vielen ist es derart ans Herz gewachsen, dass sie
es um jeden Preis retten wollen. Kann man „Künstler“ und Werk trennen? Ist
der Autor geläutert, der nach dem Krieg Ressortleiter bei der Welt und beim
Hamburger Abendblatt wurde? Oder ist das Lied gar hinreichend „angeeignet“,
weil am Millerntor eine Punk-Version gespielt wird?
Viele meinten, im Abstiegskampf sei die Debatte um die Fanhymne
kontraproduktiv. „Ich musste mir anhören, wie wenig ich vom Fußball
verstünde; davon, was ‚die Jungs‘ gerade brauchen“, sagt Albertz. „Von
Leuten, die vielleicht die zweieinhalb Minuten mitsingen, aber danach 90
Minuten die Klappe halten.“ Jetzt klingt sie ein bisschen sauer. Sie geht
ins Stadion seit sie 16 ist, versteht sich als Teil der aktiven Fanszene.
## Der Debattier-Klub
Es war einer von „den Jungs“, der diese Anwürfe gekontert hat:
Mittelstürmer Johannes Eggestein. „Das fand ich stark“, sagt Albertz, „d…
hat sich als Erster hingestellt und so was gesagt wie:,Leute, ich bin
Profi, es wird meine sportliche Leistung nicht beeinträchtigen. Es zeichnet
St. Pauli als politischen Verein aus, dass wir solche Diskussionen führen,
macht euch mal keine Sorgen.'“
Das Vereinspräsidium setzte sich mit dem ständigen Fanausschuss zusammen,
einer Art Korrektiv außerhalb der Vereinsstrukturen, das die Fanszene in
ihrer Breite repräsentiert und ihre Stimmungen transportiert. Das Ergebnis:
ein Moratorium. Albertz soll ihre Erkenntnisse schriftlich ausarbeiten,
danach wird entschieden.
Oke Göttlich ist der Überbringer der schlechten Nachricht. Vor dem
Heimspiel gegen den SC Freiburg Mitte Februar verkündet er im Stadion,
man werde das Lied vorerst nicht mehr spielen. Pfiffe und Applaus von den
Tribünen zeigen, wie gespalten die Anhängerschaft ist. Göttlich
appelliert an die Grundtugenden auf St. Pauli: „Debatten sind das, was
diesen Verein groß gemacht hat.“
Freitagabend am Millerntor. Julian freut sich, denn unter Flutlicht haben
die Braun-Weißen schon viele große Spiele gemacht. Und es wäre mal wieder
Zeit dafür. Es ist ein Duell um den Abstieg, [9][gegen die TSG Hoffenheim],
nur zwei Tabellenplätze vor St. Pauli. Wieder so ein Spiel: der eine
Fußball gegen den anderen. Das Investorenprojekt des SAP-Milliardärs
Dietmar Hopp gegen einen „normalen“ Verein.
Die Glockenschläge von AC/DCs „Hells Bells“ dröhnen durch das Millerntor.
Im Gästeblock halten sie glitzernde Kissen aus Plastikfolie hoch,
abwechselnd silber- und blaumetallicfarben. Gegenüber fliegt Konfetti aus
biologisch abbaubarem Papier, Glitzerfolie hat der Verein längst verboten.
Auf dem braun-weißen Banner hinter dem Tor steht „Klassenkampf“.
Julian und seine Tochter stehen hinter dem „K“, auf der Südtribüne, gleich
neben den Ultras, wo es am lautesten ist. Ununterbrochen wird gesungen,
werden Fahnen geschwenkt. Dazwischen sieht man nur Ausschnitte vom Spiel.
Da, eine Lücke im Fahnenmeer, Balleroberung vorm Hoffenheimer Tor, dann
ein Stück braun-weißer Stoff – ausgerechnet jetzt! – der Torwart überlup…
Querpass, ein Aufschreien, das Tornetz zuckt, 1:0 für den FC St. Pauli!
Julian schreit die Freude raus, wirft die Faust in die Luft, schwankt in
der Masse, umarmt seine Tochter. Der trockene Beat von Blurs „Song 2“ kommt
aus den Lautsprechern, die die ganze Südkurve beginnt im Takt zu hüpfen und
singt mit: „Whoo-hoo!“ hallt es durch das Stadion, den Stadtteil und
vielleicht auch ein bisschen in die weite Welt hinaus.
Hinweis: Wir haben die Summe der Genossenschaftsanteile nach oben
korrigiert, nachdem der FC St. Pauli sie ausgezählt und endgültig
bekanntgegeben hat.
26 Apr 2025
## LINKS
[1] /Punk-und-Pauli-Aktivist-ueber-neue-Show/!5986533
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[4] /Homophobie-in-der-Fussball-Bundesliga/!6043924
[5] https://www.fcstpauli.com/news/fc-st-pauli-prasentiert-nachhaltigkeitsberic…
[6] /Wird-Tierhaltung-wieder-schlechter/!6069279
[7] /Debatte-um-Fussballhymne/!6068292
[8] https://fcsp-geschichten-podcast.podigee.io/20-der-hafen
[9] /Ultras-von-Hoffenheim/!6029242
## AUTOREN
Jan Kahlcke
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