# taz.de -- Ex-RAFler über Letzte Generation: Es gibt keine Klima-RAF | |
> Politik und Gesellschaft reagieren hysterisch auf die Aktionen der | |
> Letzten Generation. Ein Gastbeitrag von Ex-RAFler Karl-Heinz Dellwo. | |
Bild: Ein Klimaaktivist der Letzten Generation protestiert in München | |
Keine Rettung in Sicht. Wer die Welt von heute betrachtet, muss | |
unweigerlich depressiv werden oder zynisch. Es dominiert die überall | |
erkennbare Verachtung und Missachtung des Menschen. Wir leben in | |
Gesellschaften, die vorwiegend herrschaftlich strukturiert sind und in | |
ihren zentralen Bereichen dem Diktat von Befehl und Gehorsam folgen. Alles | |
ist grundiert von Kriterien, die die Verwertung des Lebens für eine tote | |
Sache verfolgen, so effizient wie gnadenlos. Mit dem Ausdehnen der | |
ökonomischen Verwertung auf alle Lebensbereiche ist der Befehl des | |
Mitmachens längst zum inneren Trieb des Einzelnen geworden. | |
Pier Paolo Pasolini erfasste das ab Mitte der sechziger Jahre mit seinem | |
Begriff der „anthropologischen Mutation“. Indem der Kapitalismus alle | |
Werte überrannte und überrennt, die noch eigenständig und nicht von seiner | |
Welt der Verwertung durchdrungen sind, löst er jedes grundsätzlich Eigene | |
des Menschen auf. Damit war und ist die Bedingung gesetzt für jene neue | |
Doxa von Produktion und Konsum, die längst unsere Lebensrealität bestimmt. | |
Nie war der Mensch hoffnungsloser zum Objekt degradiert als heute. | |
Vergleiche drängen sich dabei auf: In den 1960er Jahren scheiterte der | |
damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard mit dem Versuch, die „formierte | |
Gesellschaft“ auszurufen. Alle Einzelinteressen sollten einem „Gemeinwohl“ | |
unterworfen werden, welches aus Sicht der Wirtschaft definiert wurde. Heute | |
ist die „formierte Gesellschaft“ längst zur bitteren Realität geworden. | |
## Die Letzte Generation agiert mit Bedacht | |
Der Name „Letzte Generation“ irritiert und ist doch zutreffend. Wenn die | |
Menschheit ohne Dystopie überleben will, endet mit der heute lebenden | |
Generation die alte Geschichte der Weltvernutzung. Man kann das als | |
Epochenbruch sehen, ähnlich dem Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. | |
In diesem Bild ist die Zeitenwende, die Olaf Scholz verkündete, eine | |
Phrase, die das Gegenteil maskiert. Die Zeitenwende, angekündigt in den | |
tektonischen Brüchen der alten Weltordnung, soll aufgehalten und dort, wo | |
sie bereits eingetreten ist: umgedreht werden. Das Alte soll bestehen | |
bleiben. Das Mittel dazu ist die neue Militarisierung. Bis zum | |
Gedankenspiel eines Atomkrieges. | |
Die Gruppe „Letzte Generation“ operiert seit ihrem Bestehen demonstrativ | |
symbolisch und offenkundig mit Bedacht. Es scheint, dass sie alles | |
unternimmt, um Schäden an dem zu verhindern, was sie als sachliches Vehikel | |
für ihre politischen Positionen nutzt. Warum arbeiten sich so viele mit | |
schlechten Argumenten an ihnen ab? [1][Claudia Roth führt das lächerliche | |
Argument ein], dass wegen dieser Gruppe die Kunst in Tresore verschwinden | |
könnte. Im Angriff auf die letztlich kleinen Aktionen der „Letzten | |
Generation“ tritt auch zutage: Die, die Macht haben, möchten auch die Moral | |
des Widerstands besitzen. | |
Das symbolisch Alarmierende der Gruppe lässt sich als Versuch deuten, die | |
allumfassende Ohnmacht der Gesellschaft gegenüber den Bedingungen, mit | |
denen sie sich tagtäglich festigt und reproduziert, zu durchbrechen. Seit | |
über 50 Jahren weiß jeder politisch Verantwortliche, dass das Konzept der | |
Verwertung der Welt und die Strategie des ewigen Wachstum in eine globale | |
Destruktion kippt. Wesentliches getan wurde nichts, es hat die meisten | |
einfach nicht interessiert. Das ferne Desaster wird getoppt vom | |
unmittelbaren Interesse nach Fortsetzung des Bestehenden. Alle Versprechen, | |
gegen die in Gang gesetzte Zerstörung vorzugehen, blieben rhetorisch. Das | |
System setzt auf integrative Verdauung des Protests und kennt hier seinen | |
Erfolg. | |
In ihrer Analyse hat die Gruppe „Letzte Generation“ natürlich recht: | |
Politik in dem Sinn, dass sie die Dinge der Gesellschaft im Interesse der | |
Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit regelt, existiert nicht. | |
Die Reaktionen auf die „Letzte Generation“, die in der üblichen Eintracht | |
zwischen der politischen Kaste und ihren Medien auftritt, ist nicht weiter | |
überraschend. | |
Manche reagieren auf diese Gruppe so, als stünde ein neuer bewaffneter | |
Kampf vor der Tür. Die Hysterie ist ein bewährtes Mittel der | |
Diskursverschiebung. Tiefenpsychologisch könnte man denken: Die, die die | |
Macht haben, erwarten offenkundig eine Abstrafung. Sie wissen selbst, ihr | |
„grüner Kapitalismus“ ist eine Schimäre. Alle wissen: Sie werden gar nich… | |
ändern. | |
Es wird so weitergehen wie bisher. Manche wollen auch nichts anderes, weil | |
ihr Interesse mit dem des Kapitals identisch ist. Der Bezug auf die RAF hat | |
aber noch eine andere Seite: Sie enthält die Ankündigung, gegebenenfalls | |
alles einzusetzen, über jede Grenze zu gehen, wenn die Politik der „Letzten | |
Generation“ eine reale Machtfrage aufwerfen würde. | |
Vereint ist die politische Klasse im gleichen Blick auf die Gesellschaft. | |
Für ihre Handlungsorientierung des „Weitermachens“ hat die Gesellschaft zu | |
funktionieren. Das Verlangen der politischen Kaste ist simpel und | |
orientiert sich an der Betriebsführung: Die im Betrieb Eingebundenen haben | |
den Zustand ihrer Verwaltung zu akzeptieren. Belohnt werden sie mit Konsum | |
und Scheinfreiheiten – und, wenn es gerade kriselt, mit der Geste des | |
„großen Wumms“, der Abfederung ihrer neuen ökonomischen Nöte von oben, d… | |
aber auch nichts anderes ist, als die Lasten der Masse für die Zukunft zu | |
steigern. | |
Wo Protest und Widerstand die ihnen zugedachten dekorativen Rollen | |
verlassen, wird von offizieller und medialer Seite mit Verlogenheit und | |
Instrumentalisierung zurückgeschossen. Nach dem parallelen [2][Tod einer | |
Radfahrerin] zu einer Aktion der „Letzten Generation“ in Berlin wird diese | |
dafür verantwortlich gemacht. Zu Ende gedacht, dürfen Demonstrationen und | |
Proteste in Zukunft nur noch auf der entfernten Wiese durchgeführt werden. | |
Bis zum Jahresende 2022 werden etwa 400 Radfahrer im Straßenverkehr ums | |
Leben gekommen sein. Das war bis jetzt kein gesellschaftlicher Aufreger, | |
das gehört zur Normalität und wird de facto achselzuckend hingenommen. In | |
diesen Fällen bleibt jeder Tote ein individueller Schicksalsschlag, mit dem | |
die Angehörigen zurechtkommen müssen. Die Instrumentalisierung der toten | |
Radfahrerin gegen die „Letzte Generation“ verweist nur auf die | |
Hemmungslosigkeit der Ausbeutung und die Umkehrung dessen, was in Wahrheit | |
verantwortlich für alle Verkehrstoten ist. | |
„Meiner Meinung nach bleibt im Kunstschaffen immer ein bestimmter Raum | |
übrig, der ‚nicht integrierbar‘ ist.“ (Pier Paolo Pasolini, 1974) | |
Die „Letzte Generation“ nutzt auch die Kunst als Vehikel ihrer Botschaft. | |
Hinter den Attacken auf die „Letzte Generation“ steht auch der | |
eliminierende Wunsch gegenüber dem grundsätzlich Anderen, das in den | |
bestehenden Verhältnissen nicht integrierbar ist. Die Folgen davon liegen | |
auf der Hand: Ohne dieses Nichtintegrierbare herrscht nur die Fatalität des | |
Gegebenen, die es dann einfach macht, die daraus entwickelten | |
Schlussfolgerungen als „alternativlos“ darzustellen. | |
Das kennen wir seit Jahrzehnten. Die Welt der Verwertung gilt als | |
alternativlos. Das Nichtintegrierbare im eigenen Raum jedoch stört den | |
Frieden des Falschen. Es ist deshalb das, was von allen, die | |
Machtpositionen innehaben, gehasst wird. Es ist aber auch das, was am Ende | |
die Vernichtung auf sich zieht. Und doch ist es unverzichtbar. | |
13 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/zdf-morgenmagazin/claudia-roth-letzte-genera… | |
[2] /Tod-einer-Radfahrerin/!5890601 | |
## AUTOREN | |
Karl-Heinz Dellwo | |
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