# taz.de -- Evangelikale gegen Referendum in Kuba: Sozialismus, Homoehe und die… | |
> Am Sonntag wird in Kuba per Referendum über ein Familiengesetz | |
> abgestimmt. Es soll die Ehe für alle legalisieren. | |
Bild: Diskussion über das Familiengesetz in Kubas Hauptstadt Havanna, März 20… | |
BERLIN taz | Mitte 2018 war bei einem Spaziergang durch Havanna an den | |
Türen einer ganzen Reihe von Häusern das gleiche Schild zu finden. Ein | |
einfacher bedruckter Bogen, der eine weibliche Figur, eine männliche Figur | |
und zwei kleinere zeigt: eine traditionelle Familie. Darunter stand: „Ich | |
befürworte das ursprüngliche Design.“ | |
Es war eine organisierte Kampagne christlicher Kirchen in Kuba. Zu dieser | |
Zeit fand die [1][Volksbefragung zum Entwurf der neuen Verfassung] statt, | |
die dann 2019 verabschiedet wurde, und die erste Version des Dokuments | |
beinhaltete die gleichgeschlechtliche Ehe. Artikel 68 regelte: „Die Ehe ist | |
die freiwillig geschlossene Lebensgemeinschaft zwischen zwei | |
geschäftsfähigen Personen.“ | |
Die von den religiösen Gruppen erzeugte Opposition war hartnäckig – so | |
etwas hatte es noch nie gegeben. Schließlich wurde die Verfassungsklausel | |
anders formuliert und die Frage der Eheschließung in das Familiengesetzbuch | |
überführt. Darüber wird am 25. September in einem weiteren Referendum | |
abgestimmt. | |
Neben der Möglichkeit, zu heiraten, eröffnet das neue Familiengesetz auch | |
nichtheteronormativen Paaren die Möglichkeit der Adoption, legalisiert die | |
Leihmutterschaft und die künstliche Befruchtung oder | |
In-Vitro-Fertilisation. Darüber hinaus wird die Kinderehe abgeschafft | |
(bislang können Mädchen mit 14 und Jungs mit 16 Jahren heiraten, wenn beide | |
Elternteile zustimmen) und Haus- und Sorgearbeit wird ausdrücklich | |
anerkannt. | |
## Mobilisierung und Heilsversprechen gegen Abtreibung | |
Die Kampagne für das „Nein“ kommt von den religiösen Gruppen und der | |
politischen Opposition. Außerdem wird es Denkzettel-Neins geben – unter | |
anderem als Ergebnis der allgemein [2][schlechten Lage und Verarmung], die | |
die Wirtschaftsmaßnahmen der letzten Jahre gebracht haben. Auch wenn damit | |
gerechnet wird, dass das Gesetz angenommen wird, weil es die volle | |
Unterstützung des Staates hat, dürfte es dennoch kein einfacher Sieg | |
werden. | |
Yeyé Hernández Molina, eine Aktivistin für die Rechte von LGBTI-Personen, | |
sagt, ihr sei schon vor Jahren die Zunahme von Fundamentalismen | |
aufgefallen. „Als ich Professorin an der Universidad de Oriente (Santiago | |
de Cuba) war, bemerkte ich, dass immer mehr Studenten am Wochenende | |
Gottesdienste besuchten. Was mich überrascht hat, war die Größe der | |
Organisation und die Anzahl der Menschen und der gesellschaftlichen | |
Bereiche, die sie erreicht hatte“, sagt sie. | |
Die Diskussionen über den Verfassungsentwurf fanden in Stadtvierteln und | |
Betrieben statt. „In der Debatte an der Universität“, erinnert sich | |
Hernández Molina, „haben sich jede Menge Wissenschaftler die Argumente der | |
Evangelikalen zu eigen gemacht. Und das ist beängstigend.“ | |
Im März veröffentlichte das Online-Magazin [3][Periodismo de Barrio] eine | |
Recherche darüber, wie bestimmte religiöse Antiabtreibungsgruppen im Osten | |
des Landes arbeiten. Sie erreichen verarmte Gemeinden und sogar | |
Krankenhäuser mit ihren Predigten von geistlicher Unterstützung und dem | |
Versprechen auf „Erlösung“ und materielle Hilfe für werdende Mütter, fal… | |
sie sich entscheiden, die Schwangerschaft nicht abzubrechen. In Kuba wurde | |
Abtreibung 1965 institutionalisiert, es gibt jedoch kein spezielles Gesetz, | |
das sie schützt. Die Evangelikalen und Fahrlässigkeit seitens des Staates | |
gefährden den uneingeschränkten Zugang zu diesem Recht. | |
## Der Staat knickt unter dem Druck ein | |
Im vergangenen Jahr sollte die Resolution 16/2021 des Bildungsministeriums | |
(MINED) ein umfassendes Sexualaufklärungsprogramm mit einem Ansatz zu | |
Gender und sexuellen und reproduktiven Rechten in Schulen umsetzen. Es | |
folgte eine weitere Runde mit Stellungnahmen der Kirchen, Beiträgen in | |
sozialen Netzwerken sowie einer Botschaft der katholischen Bischöfe. | |
„Für viele ehrenwerte Bürger wäre es schmerzhaft, sich in dem Dilemma | |
wiederzufinden, ihre Kinder nicht zur Schule zu bringen oder sie demütig | |
dem sektiererischen Bombardement einer Ideologie auszuliefern, die wir | |
ablehnen“, erklärte die Baptistenkonvention von Westkuba. „Wir freuen uns | |
darauf, dass unserer Bitte Rechnung getragen wird“, schloss das in Umlauf | |
gebrachte Dokument. | |
Und tatsächlich wurde das Programm auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, „bis | |
die notwendigen Voraussetzungen geschaffen sind“, heißt es in einer | |
[4][Mitteilung] des MINED. In der offiziellen Antwort wurde behauptet, die | |
wirtschaftliche und epidemiologische Situation mache es unmöglich, die | |
Herstellung von Lehrbüchern zu garantieren, und habe die Vorbereitung der | |
Lehrer eingeschränkt. | |
Der Soziologe Pedro Álvarez Sifontes, der das Christentum im Land | |
untersucht, weist darauf hin, dass ein Antwortschreiben evangelikaler | |
Kirchen nach eigenen Angaben von Tausenden von Menschen unterzeichnet | |
wurde. Sie erreichten zwar keine Mehrheit der Bevölkerung, seien aber | |
auffallend, betont der Experte. „Noch nie hat eine religiöse Gruppe eine | |
solche Unterstützung erreicht.“ | |
## Die permanenten Krisen ebnen den Weg der Evangelikalen | |
Die Merkmale und Ursprünge des kubanischen christlichen Fundamentalismus | |
sind ähnlich wie andernorts in Lateinamerika. Gemeinsam ist ihnen laut | |
Álvarez Sifontes der Einsatz von Informationstechnologien, das dogmatische | |
Lesen heiliger Texte, die sogenannte Theologie des Wohlstands und die | |
Heilung, die spirituelle Gaben als den einzigen Weg zur Erlangung | |
körperlicher Gesundheit preist. | |
Der Boom der letzten Jahre wiederum ist das Ergebnis der derzeitigen | |
Umstände und der jüngeren Geschichte der Insel. „Die in jeder Hinsicht | |
permanenten Krisen, die Kuba seit geraumer Zeit durchlebt, ebnen den Weg | |
dafür“, erklärt Yuniel de la Rua, ebenfalls Soziologe, der dieses Phänomen | |
untersucht. Lange Perioden der Knappheit und Instabilität bringen Angst, | |
Unsicherheit und letztendlich Hoffnungslosigkeit mit sich. | |
„Ich denke, dass dieses Bedürfnis, eine Antwort zu haben, nach einem | |
Anführer zu suchen, der die Probleme löst und etwas Sicherheit gibt, eine | |
der Ursachen ist, die es diesen Gruppen ermöglicht, sich im Land | |
auszubreiten“, bemerkt der Forscher. | |
Aber auch jenseits der religiösen Sphäre finden sich konservative | |
Positionen. Tatsächlich nähren sich Fundamentalismen aus dem Mangel an | |
Rechtskultur, gepaart mit Machismo und Homophobie, die schon immer in der | |
kubanischen Gesellschaft vorhanden waren. Auch viele Menschen, die sich zu | |
keinem Glauben bekennen, beziehen Stellung gegen die Ausweitung von Rechten | |
für die LGBTI-Gemeinschaft und andere Gruppen. | |
## Keine Partei, aber großer Einfluss auf Entscheidungsträger | |
Im Übrigen geraten auch liberale Gläubige ins Visier der Fundamentalisten. | |
Haydee Padrón Rodríguez, Pastorin der Bethania Baptist Church, sieht sich | |
diskriminiert, weil sie eine Frau und alleinerziehende Mutter ist. Die | |
fundamentalistische Expansion verändert das Bild von Kirche: „Das Erste, | |
was sie fragen, ist: ‚Was ist in Ihrer Kirche verboten?‘ Und wenn wir | |
sagen, dass nichts verboten ist, denken sie, dass wir zu liberal sind“, | |
sagt sie. | |
Padrón Rodríguez arbeitet im Kulturhaus ihrer Gemeinde Perico (Matanzas). | |
„Dort betreue ich vom Afronachkommen bis zum Bauern“, betont sie. „Aber | |
mich auf einem Festival afrikanischer Traditionen zu sehen, ist für | |
Fundamentalisten eine Provokation, eine Todsünde.“ | |
Beide Experten sind sich einig, dass die religiösen Gruppen in Kuba im | |
Gegensatz zu anderen Gebieten der Region noch keine Vertretung in der | |
politischen Sphäre haben. Trotzdem aber, betont Álvarez Sifontes, üben sie | |
Einfluss auf Entscheidungsträger aus, insbesondere auf kommunaler Ebene. | |
In einem Artikel von September 2020 warnte die Akademikerin und Feministin | |
Aylinn Torres Santana: „Neokonservatismen aller Art und insbesondere die | |
religiösen […] testen erneut ihre Fähigkeit zur Mobilisierung und zum | |
Ausüben politischen Drucks. Dabei geht es nicht nur um Fragen der | |
Sexualmoral. Heute sind sie eine Kraft mit einer umfassenden und | |
ausgesprochen politischen Agenda.“ | |
## Der Staat will die frontale Konfrontation vermeiden | |
Aktivistin Yeyé Hernández Molina sagt, dass diese Gruppen mehr Wurzeln | |
außerhalb der Städte haben. „Das Problem ist, dass in ländlichen Gebieten | |
die Kirche alles ist; sie wird schließlich zum kulturellen Zentrum, das | |
auch eine Reihe von problematischen Situationen löst. […] Sie wachsen dort, | |
wo der Staat nicht hinkommt und wo die Menschen keine andere Wahl haben. | |
Nicht nur in Kuba: Das Muster ist auf der ganzen Welt das gleiche“, fügt | |
sie hinzu. | |
Aber wie ist es möglich, dass sonst jede abweichende Meinungsäußerung auf | |
[5][Repression] stößt, das Auftreten der Fundamentalisten aber nicht? „Ich | |
denke, dass die Regierung frontale Konfrontation vermeidet, die mehr Feinde | |
schaffen könnte; jede Reibung mit diesen Gruppen kann zu einer sozialen | |
Krise führen, da sie immer mehr Einfluss in den Lücken haben, die der Staat | |
nicht besetzt“, sagt Álvarez Sifontes. Pastorin Padrón Rodríguez fügt | |
hinzu, dass den Beamten mitunter einfach das Wissen über religiöse Fragen | |
und die verschiedenen Konfessionen fehle. | |
Der säkulare Charakter des kubanischen Staates impliziert eine gewisse | |
Vorsicht bei öffentlichen Stellungnahmen gegenüber Religionen. „Der Staat | |
ist zutiefst besorgt über den Aufstieg des Fundamentalismus und hat sich | |
dem Versuch verschrieben, ihn zu verstehen“, sagt De la Rua und nennt als | |
Beispiel die Treffen zwischen Präsident Miguel Díaz-Canel und mehreren | |
religiösen Führern. „Ich denke, das grundlegende Problem ist Ignoranz, | |
Unwissenheit, Angst; und diese Dinge werden nicht per Dekret vermieden oder | |
beseitigt“, sagt der Forscher. | |
Die Experten plädieren für Partizipation, Dialog, Bildung und die | |
Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. „Der Dialog zwischen denen, die die | |
gleichen Kriterien haben, ist sehr bequem. Aber ich glaube, dass wir gerade | |
mit denen ins Gespräch kommen müssen, die anderer Meinung sind“, | |
argumentiert De la Rua. | |
Aber das ist in einem zentralisierten System schwer zu machen. Der | |
Zivilgesellschaft bleibt kaum Raum für eigene Initiativen, und nach sechs | |
Jahrzehnten binärer und ausschließender politischer Rhetorik – „alles | |
innerhalb der Revolution, nichts gegen die Revolution“, wie es Fidel Castro | |
1961 proklamierte – sind viele Menschen auf diese Art des | |
Freund-Feind-Diskurses konditioniert. | |
Hernández Molina glaubt, dass der kubanische Staat nicht bereit ist, sich | |
dem Phänomen zu stellen – und dass Aktivisten auch nicht über die | |
notwendigen Werkzeuge verfügen. „So sehr es uns auch belastet, es ist | |
etwas, das weiter wachsen wird. Ich bin in diesem Sinne nicht sehr | |
optimistisch“, gesteht er, „weil dies außerdem eine globale Maschinerie | |
ist, gut geölt, mit allen Ressourcen. Es wird sehr schwierig für uns, da | |
herauszukommen. Aber hey, wir versuchen es zumindest.“ | |
Aus dem Spanischen: Bernd Pickert | |
24 Sep 2022 | |
## LINKS | |
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[5] /Ein-Jahr-nach-den-Protesten-in-Kuba/!5863914 | |
## AUTOREN | |
Eileen Sosin Martínez | |
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