| # taz.de -- Ein Jahr nach den Protesten in Kuba: Eine historische Zäsur | |
| > Erst wurde in Kuba protestiert, dann begann das Klima der | |
| > Einschüchterung. Die Bilanz: Massive Polizeipräsenz und ein neues | |
| > Strafgesetzbuch. | |
| Bild: Eine von vielen Verhaftungen bei Protesten in Havanna im vergangenen Jahr | |
| Luz Escobar kann von ihrer Wohnung aus das Denkmal zu Ehren von [1][José | |
| Martí] auf dem Platz der Revolution sehen. Auf den Freiheitskämpfer, der | |
| 1895 im Unabhängigkeitskrieg gegen die spanische Kolonialherrschaft fiel, | |
| berufen sich viele innerhalb und außerhalb Kubas. Escobar ist mit dem | |
| Konterfei des Intellektuellen aufgewachsen. Ihre Eltern verehren den | |
| radikalen Humanisten und Unabhängigkeitsdenker. Escobar, 45, große Brille, | |
| schätzt es, dass Martí für die freie Presse und das Denken eintrat. „Das | |
| Wort existiert nicht, um die Wahrheit zu verbergen, sondern, um sie | |
| auszusprechen“, lautet eines ihrer liebsten Martí-Zitate. | |
| Schon als Neunjährige hat sie sich auf die Gedanken des kubanischen | |
| Nationalhelden berufen, vor allem auf dessen Thesen zur individuellen | |
| Freiheit und Unabhängigkeit. Das ist auch heute noch manchmal so, wenn sie | |
| mit überzeugten Anhängern der Revolutionsregierung diskutiert oder wenn | |
| die Staatssicherheit sie wieder einmal unter Hausarrest stellt, ihr den | |
| Zugang zu einer Veranstaltung oder einer Pressekonferenz verweigert. | |
| Das ist immer mal wieder der Fall, und [2][rund um den 11. Juli, den Tag | |
| der inselweiten massiven Proteste im letzten Jahr,] hinderte sie ein | |
| Mitarbeiter der Staatssicherheit, so heißt der kubanische Geheimdienst, 17 | |
| Tage daran, den vielgeschossigen Plattenbau zu verlassen. Sie wisse schon, | |
| weshalb, hieß es lapidar, so Escobar. In diesem Jahr wird sie erstmalig mit | |
| Ansage unter Hausarrest gestellt. Vom 11. bis zum 13. Juli darf sie ihre | |
| Wohnung nicht verlassen. | |
| In den vergangenen Jahren war das bisher anders. Eine richterliche | |
| Anweisung oder Rechtsgrundlage existiert nicht. Arresto domiciliario, in | |
| etwa Hausarrest, nennt sich das Vorgehen der Polizei. Der wurde in den | |
| letzten Jahren immer öfter gegen unabhängige Berichterstatter:innen | |
| wie Escobar, ihre Kollegin Camila Acosta oder den mittlerweile nach Spanien | |
| emigrierten Korrespondenten der Washington Post Abraham Jiménez Enoa | |
| sowie gegen etliche kritische Künstler:innen und Intellektuelle | |
| verhängt. | |
| ## Kriminalisierte Kunst | |
| Tania Bruguera ist eine von ihnen. Die 53-jährige Kunstaktivistin stand vom | |
| 16. November 2020 bis zum 27. August 2021 fast durchgehend unter Hausarrest | |
| in ihrem Apartment am Parque Coppelia im Zentrum Havannas. Als „die | |
| schlimmste Zeit ihres Lebens“ beschreibt am Rande der Documenta in Kassel | |
| die Performancekünstlerin diese Monate in Isolation gegenüber der taz. Dort | |
| koordiniert sie für das von ihr initiierte Hannah Arendt Institut für | |
| Artivismus (Instar) eine Ausstellung über die Geschichte unbequemer und in | |
| Kuba zensierter und kriminalisierter Kunst. „Die Namen der 260 | |
| Künstler:innen, die wir auf einer Wand festgehalten haben, sind genauso ein | |
| Schock für viele Besucher wie die Masken einiger ihrer Gesichter, die wir | |
| rundherum ausgestellt haben. Ihr Bild der kubanischen Revolution kommt ins | |
| Wanken“, erklärt Bruguera. Genau das ist das Ziel der Ausstellung, durch | |
| die Bruguera Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Documenta-Auftakt | |
| Mitte Juni führte. | |
| ## Ein Toter, etliche Verletzte | |
| Für Bruguera ist der 11. Juli der endgültige Wendepunkt. „Für mich kam die | |
| Protestlawine, die durch Facebook ins Laufen kam, vollkommen überraschend. | |
| Zigtausende haben ihren Wunsch nach einem grundlegenden Wandel spontan auf | |
| der Straße kundgetan, ihre Angst vor den Konsequenzen beiseitegeschoben und | |
| für ein anderes Kuba demonstriert“, erklärt Bruguera mit ruhiger Stimme. | |
| Das sei für sie, aber auch für andere Aktivist:innen eine Sensation | |
| gewesen. Ein totalitäres, ineffizientes System habe darauf mit Repression | |
| reagiert. | |
| Die Bilder von [3][prügelnden Polizist:innen], von martialisch | |
| auftretenden Spezialeinheiten in schwarzen Kampfanzügen und von | |
| Uniformierten mit gezückter Dienstwaffe gingen damals um die Welt. Ein | |
| Toter, etliche Verletzte, so lautete die offizielle Bilanz der Proteste, | |
| denen eine in Kubas jüngerer Geschichte noch nie da gewesene | |
| Verhaftungswelle folgte. 1.484 Verhaftete, 1.259 Männer und 218 Frauen, hat | |
| es laut einer gerade erschienenen Studie der juristischen | |
| Beratungsorganisation Cubalex gegeben. Die Organisation, 2010 in Kuba | |
| gegründet, arbeitet seit 2016 aus den USA und wertet soziale Medien, | |
| Regierungsangaben, aber vor allem die Informationen von Familien aus Kuba | |
| aus. | |
| Cubalex, die mit der in Kuba aktiven Opferorganisation Justicia 11J | |
| (Gerechtigkeit 11. Juli) eng zusammenarbeitet, genießt bei | |
| Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights | |
| Watch hohe Glaubwürdigkeit. Laut der Studie kam es bisher zu 669 | |
| Verurteilungen zu Haftstrafen von bis zu 30 Jahren, in weiteren 125 Fällen | |
| wurden Geldstrafen verhängt. Mehrere andere Prozesse, die unter Ausschluss | |
| nationaler unabhängiger und internationaler Medien stattfinden, obgleich | |
| die kubanischen Gesetze das formal garantieren, sollen folgen. | |
| Internationale Aufmerksamkeit erregte zudem die Verurteilung zweier | |
| bekannter Aktivisten des kritischen Künstlerkollektivs Bewegung San Isidro | |
| (MSI), die gar nicht an den Protesten teilnahmen: Maykel „Osorbo“ Castillo | |
| und Luis Manuel Otero Alcántara. „Osorbo“, Mitverfasser der | |
| grammyprämierten Protesthymne „Patria y Vida“ (Vaterland und Leben) wurde | |
| zwei Monate vor dem 11. Juli festgenommen, sein Freund, der | |
| Performancekünstler Otero Alcántara, am 11. Juli beim Verlassen seiner | |
| Wohnung. Zu neun Jahren Haft wurde „Osorbo“ verurteilt, zu fünf Jahren | |
| Otero Alcántara, und weder zum Prozess noch zur Urteilsverkündung waren | |
| Vertreter:innen von Botschaften zugelassen. | |
| Für Tania Bruguera ist die Welle an rigiden Urteilen ein Beleg für die | |
| Angst der Regierung die Kontrolle zu verlieren. „Die Urteile sollen Angst | |
| schüren, einschüchtern und den Protest im Keim ersticken. Doch das wird | |
| nicht lange funktionieren“, prophezeit die Künstlerin und posiert neben dem | |
| Bild des gerade verurteilten Maykel „Osorbo“ Castillo in der Ausstellung. | |
| ## Blockierte Medien | |
| Zentrale Gründe dafür sind die extrem prekären Lebensbedingungen unter | |
| latenter Nahrungsmittelknappheit sowie lähmende Perspektivlosigkeit, die | |
| Kuba prägen, sagt Bruguera. Die Einschätzung teilt auch Luz Escobar in | |
| Havanna. „Hier ist der Unmut quasi greifbar. Das stundenlange Anstehen für | |
| Lebensmittel macht die Menschen mürbe. Wer kann, stimmt mit den Füßen ab | |
| und geht – auch unter hohem persönlichen Risiko“, erklärt die Journalisti… | |
| Sie berichtet kontinuierlich über laufende Prozesse, Übergriffe der Polizei | |
| und deren massive Präsenz auf den Straßen. Für ihre Hintergrundartikel | |
| wurde sie gerade mit dem Journalistenpreis der spanischen Tageszeitung El | |
| Mundo ausgezeichnet. Diese erscheinen vor allem in der Onlinezeitung | |
| 14ymedio. In Kuba ist der Zugang zu deren Website blockiert und lässt sich | |
| nicht öffnen. | |
| Das gilt auch für viele andere internationale Medien: Eine Hürde, die das | |
| nationale Kommunikationsministerium dank chinesischer Programme errichtet | |
| hat, erläutert Iván García, Korrespondent des in Miami erscheinenden Diario | |
| Las Américas. Der Afrokubaner arbeitet seit 1994 als freier Korrespondent | |
| in Havanna. Er ist auch immer wieder in den Armenvierteln Havannas mit | |
| ihrer maroden Infrastruktur unterwegs. Für ihn markieren die Proteste des | |
| 11. Juli gleich aus doppelter Perspektive eine Zäsur: „An ihnen nahmen | |
| viele 20- bis 30-Jährige, oft afrokubanischer Herkunft, teil. Es sind die | |
| Unbekannten ohne Kontakte ins Ausland, die jetzt im Gefängnis sitzen“, so | |
| García. | |
| Das sei neu, was auch die Cubalex-Studie belege. Früher habe sich die | |
| Repression des kubanischen Apparats gegen Dissidenten sowie gegen | |
| politische und künstlerische Aktivisten wie Tania Bruguera gerichtet, nun | |
| richte sie sich gegen breite Bevölkerungsschichten. Eine Tatsache, die auch | |
| der offiziellen Darstellung widerspricht, wonach die Proteste vom 11. Juli | |
| von den USA angestiftet und von dort finanziert worden seien, wie in den | |
| offiziellen Regierungsmedien immer wieder zu lesen ist. | |
| Der Strategiewechsel des kubanischen Sicherheitsapparats schürt jedoch den | |
| schwelenden Konflikt: „Hier wird versucht, ein Feuer mit Benzin zu | |
| löschen“, meint García. Diese Einschätzung teilen Tania Bruguera und Luz | |
| Escobar und verweisen auf den Tod des 17-jährigen Zidan Batista Álvarez am | |
| 2. Juli in Santa Clara. Er wurde von einem Polizisten erschossen. Sein | |
| Vater hat dem Beamten Willkür unterstellt. Zidan war Afrokubaner und hat an | |
| den Protesten am 11. Juli in Santa Clara teilgenommen. | |
| 11 Jul 2022 | |
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| Knut Henkel | |
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