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# taz.de -- Auswanderungswelle in Kuba: Den Leuten fehlt die Perspektive
> Am Dienstag feiert Kubas Regierung den Jahrestag des Beginns der
> Revolution. Dabei erlebt das Land gerade die größte Ausreisewelle seit
> 1959.
Bild: Menschen vor einem Lebensmittelladen. In Kuba werden Lebensmittel rationi…
Hamburg taz | Wenn der kubanische Staat an diesem Dienstag wie jedes Jahr
den 26. Juli feiert, den Jahrestag des gescheiterten Überfalls von Fidel
Castros Guerilleros auf die Moncada-Kaserne 1953, eine zum Beginn der
Revolution verklärte Niederlage, dann sind wieder weniger Menschen auf der
Insel als noch im letzten Jahr. Denn Kuba erlebt derzeit die größte
Auswanderungswelle seit der Revolution von 1959.
157.339 Migrant:innen aus Kuba haben die US-amerikanischen Grenzbehörden
zwischen Januar und Ende Juni registriert. „Jeden Monat kommen zwischen
30.000 und 35.000 Menschen hinzu“, berichtet Omar Everleny Pérez,
Sozialwissenschaftler und freier Analyst, mit sorgenvoller Miene. „Es gehen
meist die unter 40-Jährigen, die gut Qualifizierten, und zwar ohne
Rückfahrticket. Sie sehen keine Perspektiven mehr in Kuba“, meint der
Sozialwissenschaftler.
Zahlreiche Reportagen unabhängiger Journalisten in Kuba geben ihm recht.
Selbst Unternehmer:innen wie Camila, eine Software-Entwicklerin aus
Havanna, die gut durch die Pandemie gekommen ist, plant zu gehen, weil sie
in Kuba keine Perspektive sieht. Ähnlich geht es Irene, die ihr Hostel in
Santa Clara verkauft hat und derzeit ihre Dokumente erneuert, um alsbald
der Insel den Rücken zu kehren.
Interviewt hat beide der kubanische Journalist Iván García. Er schreibt für
das [1][Diario Las Américas], eine Tageszeitung aus Miami, und berichtet
seit fast dreißig Jahren als unabhängiger Journalist. „Sieben von zehn
Selbstständigen, die ich gesprochen habe, planen ihre Ausreise“, meint
García.
## Mit jeder Ausreise gehen mindestens 10.000 US-Dollar
Für die schwindsüchtige Ökonomie der Insel eine doppelt miese Nachricht.
Zum einen gehen Unternehmer:innen mit Erfahrung, weil sie offen das
fehlende Bekenntnis zum Privatsektor vonseiten des Staates kritisieren, zum
anderen versilbern sie ihren gesamten Besitz, um anderswo den Neustart zu
wagen.
„Mit jeder und jedem Ausreisenden verliert Kuba mindestens 10.000 US-Dollar
für die Reisekosten und die Bezahlung der Schlepper“, meint Omar Everleny
Pérez. Manchmal deutlich mehr. Rund 1,5 Milliarden US-Dollar haben die
Karibikinsel in den letzten Monaten verlassen, so die Kalkulation des
Ökonomen. Das wichtigste Reiseziel der Kubaner:innen bleiben die USA.
Das Gros reist legal per Flugzeug nach Managua, Hauptstadt Nicaraguas, um
dann auf dem Landweg Richtung USA weiterzukommen. „Das ist die typische
Route“, seit Nicaraguas Regierung im November letzten Jahres die
[2][Visapflicht für Kubaner:innen aufhob], weiß Pavel Vidal,
kubanischer Ökonom und Finanzexperte mit Lehrauftrag an einer katholischen
Universität in Cali. „Diese Auswanderungszahlen sind für jede Ökonomie
alarmierend. Für die kubanische Gesellschaft mit einem hohen
Altersdurchschnitt und extrem niedriger Geburtenrate sind sie jedoch
verheerend.“
Mitverantwortlich dafür macht er nicht nur die prekären Lebensbedingungen
auf der Insel, wo das mindestens dreistündige tägliche Schlangestehen für
Grundnahrungsmittel quasi obligatorisch ist und wo mitten im Hochsommer
Kraftwerke wegen Reparaturen ihre Arbeit einstellen und die Leute ohne
Strom dasitzen.
Bei annähernd vierzig Grad Celsius, ohne Kühlschrank, ohne Klimaanlage oder
zumindest Ventilator dazustehen, ist in Kuba ein Trauma, das viele schon
von der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1990er Jahre kennen. „Damals fehlte
das Erdöl, um die Kraftwerke zu betreiben, heute ist die zentrale Ursache,
dass in den letzten Jahren zu wenig Geld in Erhalt und Austausch
notwendiger Anlagen investiert wurde“, meint Pavel Vidal.
Doch der Effekt ist der Gleiche – damals wie heute. Die Menschen sind
ausgelaugt, müde und wer kann, geht. Es wird mit den Füßen abgestimmt, weil
die Lebensbedingungen auf der Insel prekär sind und weil die Regierung von
Präsident Miguel Díaz-Canel nicht erst seit den [3][Protesten vom 11. Juli
2021] auf [4][Kontrolle und Polizeipräsenz] setzt.
Das trägt dazu bei, dass auch Menschen darüber nachdenken zu gehen, die das
vor einem Jahr noch kategorisch ausgeschlossen hatten, wie die unabhängige
Journalistin Luz Escobar. Sie will ihren beiden Töchtern Perspektiven
bieten, und um die steht es nicht nur in Havanna alles andere als gut.
Genau deshalb ist sie ins Nachdenken gekommen. Nicht mehr, aber auch nicht
weniger.
26 Jul 2022
## LINKS
[1] https://www.diariolasamericas.com/
[2] /Visafreiheit-fuer-Kubaner-in-Nicaragua/!5817776
[3] /Ein-Jahr-nach-den-Protesten-in-Kuba/!5863914
[4] /Verfahren-gegen-Kuenstler-in-Kuba/!5855205
## AUTOREN
Knut Henkel
## TAGS
Kuba
Migration
USA
Wirtschaftskrise
Erdöl
Haiti
Kuba
Schwerpunkt Pressefreiheit
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