| # taz.de -- Ermittlungen gegen Nazi-Täter: Allerspäteste Gerechtigkeit | |
| > Die Staatsanwaltschaft Coburg bereitet die Anklage gegen einen | |
| > 98-Jährigen vor, der als Wachmann im KZ Ravensbrück eingesetzt worden | |
| > sein soll. | |
| Bild: Inhaftierte Frauen des KZ Ravensbrück bei der Zwangsarbeit, 1944 | |
| Berlin taz | Auch 77 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes gehen die | |
| Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Gewalttäter weiter. Für das kommende Jahr | |
| wird derzeit ein neues Verfahren vorbereitet. Es geht um einen heute | |
| 98-Jährigen ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Ravensbrück. | |
| Dem Beschuldigten P. wird vorgeworfen, von April 1943 bis Mai 1945 dort | |
| Dienst getan und dadurch den Tod von Häftlingen erst ermöglicht zu haben. | |
| Es geht um eine mögliche Beihilfe zum Mord. | |
| Die Staatsanwaltschaft Neuruppin bestätigt, dass sie jüngst die | |
| Ermittlungen an die Behörden im bayerischen Coburg abgegeben hat. Das | |
| Verfahren mit dem Aktenzeichen 305 JS 39997-22 JUG soll dort stattfinden, | |
| weil der Beschuldigte in der Region lebt. Dieses Wohnortprinzip ist | |
| insbesondere bei Heranwachsenden gebräuchlich und würde einen möglichen | |
| Prozess erleichtern, da der Beschuldigte keine langen Anreisewege hätte. | |
| Weil P. zum Zeitpunkt seiner mutmaßlichen Taten noch nicht volljährig war, | |
| gilt für den Greis das Jugendstrafrecht. | |
| Nach Angaben des zuständigen Staatsanwalts in Coburg, Christopher | |
| Rosenbusch, sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Derzeit sei der | |
| Historiker Stefan Hördler mit der Erstellung eines Gutachtens über die | |
| Morde in Ravensbrück betraut. Ein medizinisches Gutachten deute auf eine | |
| Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten hin. Bei ihm handelt sich um einen | |
| sogenannten Volksdeutschen. So wurden in der Nazizeit Menschen deutscher | |
| Abstammung genannt, die außerhalb des Reichs lebten. Besonders gegen Ende | |
| des NS-Regimes waren viele „Volksdeutsche“ als KZ-Wachmänner eingesetzt, | |
| weil dies mit der Hoffnung auf eine raschere Einbürgerung verbunden war. | |
| Eine Anklage gegen den Mann könnte im Frühjahr 2023 erhoben werden, ein | |
| Prozess im Spätsommer desselben Jahres beginnen, heißt es aus | |
| Justizkreisen. | |
| Seit vielen Jahren vertritt Rechtsanwalt Thomas Walther in NS-Prozessen | |
| Überlebende und deren Nachkommen. Er sagte der taz, dass er sich derzeit | |
| darum bemühe, solche Nebenkläger zu finden. | |
| ## 120.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1.200 weibliche Jugendliche | |
| Ravensbrück, nahe dem ehemals mecklenburgischen Luftkurort Fürstenberg | |
| gelegen, diente ab 1939 als Frauen-KZ. Ab April 1941 war dort auch ein | |
| Männerlager eingerichtet, von Juni 1942 an kam ein Lager für junge Frauen | |
| und Mädchen hinzu. Dem KZ waren über 40 Nebenlager angeschlossen, in denen | |
| die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Der beschuldigte P. soll seinen | |
| Dienst nach Angaben der Staatsanwaltschaft Neuruppin im Hauptlager getan | |
| haben. | |
| In Ravensbrück wurden nach Angaben der Mahn- und Gedenkstätte zwischen 1939 | |
| und 1945 etwa 120.000 Frauen und [1][Kinder], 20.000 Männer und 1.200 | |
| weibliche Jugendliche gequält. Sie stammten aus über 30 Nationen, unter | |
| ihnen Jüdinnen und Juden [2][sowie Sinti und Roma]. Zehntausende wurden | |
| ermordet, starben an Hunger, Krankheiten oder infolge von medizinischen | |
| Experimenten. | |
| Das Coburger Verfahren ist nicht das einzige gegen ehemalige KZ-Wachleute. | |
| Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ermittelt nach Angaben von | |
| Oberstaatsanwalt Cyrill Klement auch gegen eine heute 99-jährige Frau, die | |
| ebenfalls in Ravensbrück als Wächterin eingesetzt war. Weiterhin untersucht | |
| sie, ob ein 98-Jähriger angeklagt werden kann, der offenbar im KZ | |
| Sachsenhausen als Wachmann eingesetzt war. | |
| Nach Angaben des Leiters der Zentralen Stelle zur Aufklärung | |
| nationalsozialistischer Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg, | |
| Thomas Will, sind in Deutschland derzeit zwei weitere Verfahren bei | |
| örtlichen Staatsanwaltschaften anhängig. In Erfurt wird schon seit vier | |
| Jahren im Tatkomplex Buchenwald gegen einen Mann ermittelt. In Hamburg | |
| untersucht die Staatsanwaltschaft die mögliche Schuld eines ehemaligen | |
| Bediensteten des KZ Neuengamme. | |
| ## Kein einziger Fall mehr anhängig | |
| Dennoch neigen sich die Ermittlungen gegen ehemalige Nazi-Täter dem Ende | |
| entgegen, sagt Thomas Will. Derzeit untersuche seine Behörde in | |
| Vorermittlungen die Beteiligung weiterer möglicher Täter in | |
| Kriegsgefangenenlagern, wo sich die systematischen Morde an Rotarmisten mit | |
| den Taten in Konzentrationslagern ähneln würden. Daneben überprüfe die | |
| Zentrale Stelle „einige hundert“ Personen, deren Aufenthaltsort bisher | |
| nicht ermittelt werden konnte. Es handele sich hierbei vor allem | |
| „Volksdeutsche“, die kurz vor Kriegsende bis zu 40 Prozent der | |
| KZ-Wachmannschaften stellten und die nach dem Krieg möglicherweise ins | |
| Ausland verzogen sind. | |
| Bei der Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für NS-Verbrechen im | |
| nordrhein-westfälischen Dortmund ist derzeit kein einziger Fall mehr | |
| anhängig, sagte der Leiter der Behörde, Andreas Brendel, der taz. „Wir sind | |
| 30 oder 40 Jahre zu spät“, sagte Brendel und spielte damit darauf an, dass | |
| erst seit 2011 nach dem Urteil im Demjanjuk-Verfahren systematisch gegen | |
| einfache Wachmänner und -frauen ermittelt wird. Erst seitdem ist eine | |
| Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord auch dann möglich, wenn dem Täter oder | |
| der Täterin kein individueller Mordvorwurf nachgewiesen werden kann – was | |
| in den Konzentrationslagern mit seinen Tausenden einheitlich uniformierten | |
| Wachleuten praktisch unmöglich ist. | |
| Seither sind in dieser Phase der Spätverfolgung in Deutschland vier Urteile | |
| gegen KZ-Bedienstete erfolgt, zuletzt gegen Josef S. Der ehemalige Wachmann | |
| des KZ Sachsenhausen war im Juni zu einer fünfjährigen Haftstrafe | |
| verurteilt worden. Der 101 Jahre alte Beschuldigte hat Revision vor dem | |
| Bundesgerichtshof beantragt, daher ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. | |
| Das Landgericht Itzehoe verhandelt seit dem vergangenen Jahr [3][gegen die | |
| 97-jährige Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord]. Ihr wird vorgeworfen, im KZ | |
| Stutthof bei Danzig, dem heutigen Gdańsk, als Sekretärin des Kommandanten | |
| tätig gewesen zu sein und so den Mord an mehreren Tausend Häftlingen | |
| mitzuverantworten. Mit einem Urteil ist nach Angaben einer | |
| Gerichtssprecherin zum Jahresende zu rechnen. | |
| ## Das Versagen der bundesdeutschen Justiz der 1950er/1960er | |
| Zugleich endeten in den letzten zehn Jahren Dutzende Verfahren ohne ein | |
| Urteil. Häufig stellte sich heraus, dass die Beschuldigten aufgrund ihres | |
| hohen Alters nicht mehr verhandlungsfähig oder schon verstorben waren. In | |
| Hanau starb ein angeklagter ehemaliger Auschwitz-Wachmann kurz vor | |
| Eröffnung des Hauptverfahrens. Im westfälischen Münster musste der Prozess | |
| gegen einen Wachmann des KZ Stutthof abgebrochen werden, weil der | |
| Beschuldigte nicht mehr in der Lage war, diesem zu folgen. Und erst am | |
| vergangenen Freitag teilte das Berliner Landgericht mit, dass die Anklage | |
| gegen einen ehemaligen Wachmann in einem Kriegsgefangenlager der Wehrmacht | |
| in der besetzten Ukraine nicht zugelassen wird. Der 99-Jährige gilt als | |
| dauerhaft verhandlungsunfähig. | |
| Den Vorwurf, mit den jetzigen Ermittlungen gegen vermeintlich „kleine | |
| Täter“ das Versagen der bundesdeutschen Justiz in den 1950er und 1960er | |
| Jahren kaschieren zu wollen, weist der Richter im Sachsenhausen-Prozess, | |
| Udo Lechtermann, zurück. „Für mich gilt das nicht“, sagte er in der letzt… | |
| Woche auf einer Veranstaltung in Berlin. Es gebe keine „Verfahren zur | |
| Gewissensberuhigung“. Lechtermann berichtete von „jeder Menge“ Zuschriften | |
| von Menschen, die den Prozess angesichts des hohen Alters des Angeklagten | |
| für überflüssig hielten. | |
| Auch Anwalt Thomas Walther hält den Vorwurf für falsch. „Es geht nicht um | |
| die Rechtfertigung verspäteten Tuns“, sagt er. „Zu spät ist das alles | |
| nicht. Gerechtigkeit kennt kein Verfallsdatum.“ | |
| Schon gar nicht ginge es um „kleine Täter“. Denn der Job der KZ-Wachmänner | |
| war es nicht nur, die Häftlinge an einer Flucht zu hindern. In vielen | |
| Fällen ist ihre Beteiligung an Massenerschießungen belegt. Sie sorgten | |
| dafür, dass SS-Ärzte ungestört tödliche medizinische Experimente | |
| durchführen konnten. So wie in Ravensbrück. | |
| ## Das Ende der Ermittlungen, weil die greisen Täter sterben | |
| Im dortigen Krankenrevier nahmen SS-Ärzte Zwangssterilisationen und | |
| Zwangskastrationen vor, schreibt die Mahn- und Gedenkstätte. Mehrere | |
| tausend Häftlinge wurden im Rahmen systematischer Krankenmordaktionen | |
| getötet. Jungen Frauen wurden die Beine aufgeschnitten und diese mit Eiter | |
| erregenden Bazillen infiziert. Manchen wurden Holz- und Glassplitter in | |
| offene Wunden gelegt. | |
| Doch: Die Täter sterben aus. So bleibt der bundesdeutschen Justiz nur, der | |
| menschlichen Biologie zu folgen. Noch arbeiten die Zentrale Stelle in | |
| Ludwigsburg, die mit den Vorermittlungen gegen mutmaßliche Nazi-Straftäter | |
| betraut ist, und die Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft in Dortmund weiter. | |
| Doch in Dortmund ist Andreas Brendel längst auch mit anderen Verfahren | |
| betraut. „Ein Ende der Ermittlungen ist absehbar“, sagt Thomas Will in | |
| Ludwigsburg. Nur ein Datum dafür ist noch nicht festgelegt. | |
| 8 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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