| # taz.de -- Soziologin über Antiziganismus: „Wir werden nicht lockerlassen“ | |
| > Wenn Sinti* und Roma* im Schulunterricht erwähnt werden, dann meist als | |
| > Opfer des Völkermords, sagt Soziologin Patočková. Sie fordert ein | |
| > Umdenken. | |
| Bild: Gedenken an die Verfolgung von Sinti* und Roma* im früheren KZ Bergen-Be… | |
| taz: Frau Patočková, die Kultusministerkonferenz hat im Dezember | |
| beschlossen, künftig die Geschichte und aktuelle Situation der Sinti* und | |
| Roma* im Unterricht vermitteln zu wollen. Sie haben die Empfehlungen mit | |
| verhandelt und als Vertreterin des Bündnisses für Solidarität mit den Sinti | |
| und Roma Europas unterschrieben. Was erhoffen Sie sich von diesem | |
| Beschluss? | |
| Veronika Patočková: Ich hoffe, dass sich die Situation im Bildungswesen | |
| verbessert – und zwar sowohl für die Kinder und Jugendlichen aus den | |
| Communities der Sinti* und Roma* als auch für alle anderen. Es leben über | |
| eine halbe Million Roma* und Sinti* in Deutschland. Im Bildungswesen kommen | |
| sie aber kaum vor. Das muss sich ändern. Wir hoffen, dass der Beschluss ein | |
| erster Schritt dahin ist. | |
| Was lernen Schüler*innen in Deutschland momentan über Sinti* und Roma*? | |
| Nicht viel. Zum Beispiel hat das Georg-Eckert-Institut für | |
| Schulbuchforschung letztes Jahr 197 Lehrpläne für Geschichte, Politik und | |
| Geografie aus allen Bundesländern untersucht und dabei herausgefunden, dass | |
| die Situation der Sinti* und Roma* und deren Diskriminierung heute in | |
| keinem dieser Pläne thematisiert wird. Im Rahmen der Studie hat das | |
| Institut außerdem 23 Schulbücher identifiziert, die noch immer das Z-Wort | |
| nutzen, und zwar ohne jegliche Kontextualisierung. Wenn Sinti* und Roma* | |
| überhaupt im Schulunterricht erwähnt werden, dann meist als Opfer des | |
| Völkermords oder es wird rassistisch geprägtes Wissen vermittelt. Bislang | |
| unterrichten Lehrer*innen hauptsächlich die Täterperspektive, die auch | |
| in vielen Schulbüchern eins zu eins übernommen wird. | |
| Was heißt das konkret? | |
| Ich nehme ein Lehrbuch für Gesamtschulen aus dem Jahr 2016 als Beispiel: Da | |
| steht, dass Sinti* und Roma* verfolgt wurden, weil sie keinen festen | |
| Wohnsitz hatten, etwas anders aussahen und mit ihren Familien als | |
| Handwerker, Händler oder Musiker von Ort zu Ort gezogen sind. So hätten die | |
| Nationalsozialisten ihre Minderwertigkeit erklärt. Und die zugehörige | |
| Aufgabe lautet: „Erläutere, warum die Nationalsozialisten Sinti und Roma | |
| ermordeten.“ Was sollen die Schüler*innen antworten? Dass sie etwas | |
| anders aussahen und deshalb umgebracht wurden? Das ist doch falsch. Sinti* | |
| und Roma* haben über Jahrhunderte einen Beitrag zu Kultur und Politik | |
| hierzulande geleistet. Sie sind integraler Bestandteil der Gesellschaft. | |
| Dieser Perspektivwechsel muss auch in den Schulbüchern ankommen. Genau das | |
| will auch der Beschluss der Kultusministerkonferenz. | |
| Trotzdem ist es ja wichtig, auch über die Verfolgung im Nationalsozialismus | |
| zu berichten. | |
| Na klar ist es wichtig, die Verfolgung zu thematisieren. Es geht aber | |
| darum, wie man das tut. Kennen Sie zum Beispiel die polnische Romni Alfreda | |
| Noncia Markowska? Sie hat 50 Kinder aus Massenerschießungen und den Zügen | |
| nach Auschwitz gerettet. Über diese Heldin wird eigentlich nie gesprochen. | |
| Man muss auch Geschichten von Selbstbehauptung und Widerstand erzählen. | |
| Der Schulalltag zeigt, dass es oft von den Lehrkräften abhängt, welche | |
| Themen sie behandeln – selbst wenn die im Lehrplan stehen. Wie | |
| aufgeschlossen waren Lehrer*innen gegenüber Ihrem Anliegen? | |
| Unterschiedlich. Ich bin wissenschaftliche Co-Leiterin des | |
| Bildungsprogramms gegen Antiziganismus „Wir sind hier!“. In dessen Rahmen | |
| arbeiten wir auch mit Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften aus der | |
| Mehrheitsgesellschaft. Mein Eindruck ist, dass viele interessiert sind, | |
| zumal sie in ihrer Ausbildung gar [1][nichts über Antiziganismus] gelernt | |
| haben. Nur fehlen ihnen die Kapazitäten, sodass viele es auch jetzt nicht | |
| schaffen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. | |
| Defizite gibt es nicht nur bei der Vermittlung von Wissen über Sinti* und | |
| Roma*, sondern auch bei ihren Bildungschancen, wie [2][die | |
| RomnoKher-Studie] ergibt. Nur etwa 10 Prozent der Sinti* und Roma* in | |
| Deutschland haben Abitur, bei der jüngeren Generation sind es 17 Prozent. | |
| Überdurchschnittlich viele gehen ohne Abschluss von der Schule. Was ist aus | |
| Ihrer Sicht nötig, um die Bildungsbeteiligung zu erhöhen? | |
| Wir müssen drei Punkte angehen. Einerseits die mangelnde Repräsentanz: Für | |
| die Kinder ist die Schule ein Ort, an dem sie mit einem wichtigen Teil | |
| ihrer Identität unsichtbar bleiben oder abgewertet werden. Man hat keine | |
| Identifikationsfigur, keine Vorbilder, man lernt nicht über die eigene | |
| Geschichte und Kultur, fühlt sich also gar nicht gesehen. Außerdem fehlt es | |
| an Schutz vor Diskriminierung: Das Z-Wort wird in den Pausenhöfen weiterhin | |
| als gängige Beleidigung verwendet. In den meisten Fällen ist niemand da, | |
| der etwas dagegen unternimmt – kein*e Lehrer*in und auch kein*e | |
| Sozialarbeiter*in. Immer wieder damit konfrontiert zu werden, dass man | |
| keine Unterstützung bekommt, schwächt das Selbstwertgefühl. | |
| Und der dritte Punkt? | |
| Das ist der häufig unbewusste Rassismus von Lehrer*innen. Er äußert sich | |
| nicht unbedingt in Form einer direkten Abwertung. Da geht es auch darum, | |
| den Kindern nicht viel zuzutrauen. Wir wissen aus Studien, dass es eine | |
| sehr deutliche Korrelation gibt zwischen dem, was Lehrkräfte den | |
| Schüler*innen zutrauen, und dem, was sie dann wirklich schaffen. Eine | |
| Entwicklung freut uns sehr: Bald will die KMK eine Empfehlung aufsetzen, | |
| die sich explizit [3][dem Thema Antiziganismus] an Schulen widmet. Das ist | |
| auch im aktuellen Beschluss festgehalten. | |
| Die Große Koalition hat sich geweigert, junge Sinti* und Roma* gezielt zu | |
| fördern. In anderen EU-Ländern ist das längst der Fall. | |
| Eine gezielte Förderung wäre sicherlich sinnvoll. Ich selbst komme aus | |
| Tschechien, da gibt es seit 2010 jährlich rund 50 Stipendien für | |
| Schüler*innen und rund 30 Stipendien für Studierende aus der Community. | |
| Die sind nicht hoch, reichen aber für Bücher und andere Dinge, die man für | |
| die Schule braucht. Allein schon das Gefühl, gesehen und unterstützt zu | |
| werden, macht einen ganz großen Unterschied. Durch die Stipendien entsteht | |
| zudem Vernetzung unter den Studierenden. Man spürt, dass man nicht allein | |
| ist. | |
| Welche Maßnahmen der gezielten Förderung kann sich Deutschland noch aus | |
| anderen Ländern abschauen? | |
| In Rumänien hat man Quoten von Studienplätzen festgesetzt, die für | |
| Studierende aus der Roma*-Community freigehalten werden. Ob das in | |
| Deutschland sinnvoll ist, darüber kann man sich streiten. Jedenfalls sind | |
| die Resultate in Rumänien sehr positiv. Andere gute Ergebnisse erzielen | |
| Mentoringprogramme. Die existieren teilweise auch in Deutschland. In Berlin | |
| ist die Arbeit der Schulmediator*innen erfolgreich und wichtig. Um | |
| Empowerment geht es auch bei den Workshops unseres Programms „Wir sind | |
| hier!“: Wir bilden junge Menschen zu Peer-Trainer*innen aus, die sich mit | |
| der Geschichte und Gegenwart von Sinti* und Roma*, aber auch Themen wie | |
| Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Intersektionalität auseinandersetzen und | |
| lernen, anschließend selbst Workshops für andere junge Menschen zu geben. | |
| Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz sind nicht bindend. Wie stellen | |
| Sie sicher, dass es nicht bei Absichtserklärungen bleibt? | |
| Wir von der Selbstorganisation RomaTrial haben in unserer jahrelangen | |
| Arbeit die Erfahrung gemacht, dass es meist die Betroffenen selbst sind, | |
| die Sachen voranbringen – egal in welchem Bereich. Übrigens geht auch die | |
| neue Empfehlung der Kultusministerkonferenz auf ein Bündnis zurück, das wir | |
| zusammen mit der Stiftung Denkmal gegründet haben. Die KMK hat getan, was | |
| sie konnte. Jetzt sind die Bildungsministerien der Länder am Zug. Wir | |
| werden Kontakt zu ihnen aufnehmen, sie an die Vereinbarung erinnern und | |
| nicht lockerlassen. | |
| Mit wie viel Offenheit rechnen Sie? | |
| Klar, das Dokument ist rechtlich nicht verbindlich, aber es hat politisches | |
| Gewicht. Diese Karte müssen wir spielen. Die Kinder und Jugendlichen der | |
| Sinti* und Roma* müssen gleichberechtigt gebildet werden. Auf den Beschluss | |
| der KMK können wir uns berufen. Klar, es wird sich nicht in jeder Schule | |
| sofort etwas verändern. Dennoch ist die Erklärung ein Meilenstein: Auf der | |
| politischen Ebene ist der Perspektivwechsel hin zu Sinti* und Roma* als | |
| selbstbestimmter und selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft endlich | |
| gelungen. | |
| 6 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Antiziganismus-in-der-Ukraine/!5872653 | |
| [2] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/2021_RomnoKher_Unglei… | |
| [3] /Antiziganismusbeauftragter-ueber-sein-Amt/!5840059 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
| Franziska Schindler | |
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