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# taz.de -- Netflix-Serie über Roma: Das Gegenteil von gut
> Die Netflix-Serie „Infamia“ über die Rückkehr einer Roma-Familie nach
> Polen zeigt Mut – und kommt am Ende doch nicht über Klischees hinaus.
Bild: Mehr als ein Klischee? Szene aus „Infamia“
Der Trend hin zu länderspezifischen Serien auf Netflix ist ungebrochen und
bringt bisweilen für die jeweiligen Gesellschaften herausfordernde Formate
hervor. Die gerade erschienene polnische P[1][roduktion „Infamia“]
behandelt ein Thema, an das sich Filmschaffende bislang kaum herangewagt
haben: Eine Drama-Serie über eine Roma-Familie, die nach einem langjährigen
Wales-Aufenthalt in ihre Heimat Polen zurückkehrt. Protagonistin ist die
17-jährige Gita, die davon träumt HipHop-Künstlerin zu werden. Der Umzug
ihrer Familie in die alte Heimat ist dabei ein herber Rückschlag. Neben
Vorurteilen und überkommenen Moralvorstellungen der eigenen Verwandten
schlägt der Familie in Polen auch der Rassismus der polnischen
Mehrheitsgesellschaft entgegen.
Zunächst macht die Serie einiges richtig: dem Zuschauenden wird [2][der
Hass gegen die Roma]-Familie sehr eindrücklich vor Augen geführt. Dies
beginnt im Schulalltag von Gita, die deshalb [3][versucht, ihre Herkunft
an ihrer polnischen Schule geheim zu halten], und gipfelt im brutalen
Mord an Tagar, dem Freund von Gita.
Tagar stammt aus einer armen Roma-Siedlung und wird von seinen polnischen
Mitschülern brutal umgebracht. Auslöser dafür ist ein fataler Zwischenfall
mit Tagars Hund, in dessen Folge eine polnische Passantin eine Frühgeburt
erleidet. Der brennende Hass der Mehrheitsgesellschaft richtet sich gegen
den jungen Mann, der selbst von der polnischen Polizei keine Hilfe zu
erwarten hat. In einer anderen Szene stehen mehrere Beamte abwartend
daneben, während er brutal zusammengeschlagen wird.
Hoch problematisch und klischeehaft ist dagegen die Darstellung von Gitas
Familie. Ihr Vater ist spielsüchtig und hat viele Schulden, weshalb er
seine Tochter gegen eine hohe Summe in eine tschechische Roma-Familie
zwangsverheiraten will – Geschäftspartner des Onkels von Gita, der es mit
illegalem Tablettenhandel zu einigem Reichtum gebracht hat. Die weiblichen
Figuren in Gitas Familie werden allesamt als unmündig dargestellt, fest
den starren Regeln des Patriarchats folgend. Einzige Ausnahme ist die
Großmutter, ihr wird in der Familie Respekt gezollt. Sie schafft es
bisweilen, aus den Denkgewohnheiten auszubrechen und Verständnis für die
Lage ihrer Enkelin aufzubringen. Und hier wird das größte Problem der Serie
offenbar: Die Ursachen für den gesellschaftlichen Rassismus gegen die Roma
werden in deren Verhalten gesucht und hier auch gefunden.
## Ohne Pogrome
Überhaupt zementiert die Serie ein [4][massives Othering]: hier die Roma,
die scheinbar eigenen Kulten und überkommenen Riten folgen und dort die
Polen, die katholisch und zumindest in manchen Personen sympathisch und
progressiv in der Serie auftreten. Das auch die Roma überwiegend dem
christlichen Glauben angehören, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs an
Fehlern. Die Realität ist viel brutaler. Davon zeugen die zahlreichen
Pogrome gegen Roma – 1981 ausgerechnet in Oświęcim, dem früheren Auschwitz
– und 1991 in Mława. Doch davon erfährt der Zuschauende nichts.
Ebenfalls unerwähnt bleiben transgenerationelle Traumata infolge des
NS-Völkermords an der Minderheit – das Verbrechen spielt keine Rolle in der
Serie, obwohl es auch die polnischen Roma-Familien für Generationen
zerstört und ihnen die ökonomischen Lebensgrundlagen genommen hat. Zwar
sprayen in einer Zwischensequenz Vermummte einmal den Slogan „Zigeuner ins
Gas“ auf ein Auto von Gitas Verwandten, über ein kurzes Beklagen der
Familie darüber wird dies jedoch nicht weiter thematisiert. Und ein
weiteres gravierendes Problem hat die Serie: Der „Zigeuner-Begriff“ wird in
der deutschen Synchronisation ebenso als Fremd- wie auch als
Eigenbezeichnung verwendet. Im Original wird zwar auch das Wort „cyganka“
gebraucht, welches auch in Polen als abwertende Fremdbezeichnung genutzt
wird.
Doch selbst wenn einzelne Angehörige der Minderheit den Begriff infolge
einer selbstdefinitorischen Umdeutung benutzen sollten, so müssen sich
Filmschaffende ihrer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst
sein. Besonders in der deutschen Synchronisation muss man mehr als sensibel
mit dem Begriff umgehen – an dem Wort kleben Blut und Leid.
16 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.netflix.com/title/81427796
[2] /Sintizze-und-Romnja-in-Deutschland/!5960763
[3] /Schul-Beauftragter-ueber-Antiziganismus/!5824968
[4] /Antiziganismus-in-Hannovers-Verwaltung/!5961191
## AUTOREN
Sebastian Lotto-Kusche
## TAGS
Roma
Polen
TV-Serien
Schwerpunkt Rassismus
Verband Deutscher Sinti und Roma
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