| # taz.de -- NS-Verfolgung der Sinti und Roma: „Wir haben da ein großes Defiz… | |
| > Die Bedeutung des Marzahn-Lagers für die Verfolgung der Sinti und Roma | |
| > wurde lange unterschätzt, sagt Patricia Pientka – auch wegen bestehender | |
| > Vorurteile. | |
| Bild: Spätes Gedenken: Erst seit 2012 gibt es eine zentrale Gedenkstätte für… | |
| taz: Frau Pientka, Sie haben die Geschichte des NS-Zwangslagers für Sinti | |
| und Roma in Marzahn erforscht. Was hat Sie dabei am meisten überrascht? | |
| Patricia Pientka: Der Zustand des historischen Verfolgungsorts, so wie ich | |
| ihn Ende 2006 das erste Mal gesehen habe, als ich nach Berlin gezogen bin. | |
| Das Lagergelände ist überhaupt nicht mehr als solches zu erkennen. Es wurde | |
| nach der Wiedervereinigung komplett überbaut. Erst Ende 2006 wurden eine | |
| Straße und ein kleiner Platz nach Otto Rosenberg benannt, Überlebender des | |
| Zwangslagers und erster Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma. | |
| Davor gab es nur eine ganz kleine Tafel. Das fand ich angesichts der | |
| wichtigen Rolle, die dieses Lager für die lokale und auch überregionale | |
| Verfolgung von Sinti und Roma spielt, überraschend wenig. Es gibt ja sonst | |
| in der Stadt recht viele historische NS-Erinnerungsorte. | |
| Wie muss man sich das einstige Lager vorstellen? | |
| Es lag am Stadtrand, direkt daneben war ein Rieselfeld, es stank also sehr | |
| unangenehm. Ansonsten war es einfach nur ein Feld, auf dem die Leute mit | |
| ihren Wohnwagen zusammengepfercht und sich mehr oder weniger selbst | |
| überlassen wurden. | |
| Wer wurde dahin gebracht? | |
| Da das Hauptwohlfahrtsamt spätestens seit 1934 gemeinsam mit der Berliner | |
| Polizei die Lagergründung vorbereitete, ging es unter anderem um | |
| diejenigen, die von der Wohlfahrt lebten. Anhand der Quellen sieht man | |
| aber, dass im Juli 1936 rund 600 Menschen aus dem ganzen Stadtgebiet | |
| verhaftet und nach Marzahn verschleppt wurden. Sie wohnten teils in | |
| Wohnungen, teils in Wagen. Die Opfer kamen also aus sehr unterschiedlichen | |
| Verhältnissen. Daher war der Zugriff ohne die Orts- und Personenkenntnisse | |
| der lokalen Verwaltungsleute nicht möglich. Zu diesem Zeitpunkt verwendete | |
| man noch einen soziografischen Zigeunerbegriff. Dabei ging es vermutlich um | |
| als „typisch“ angenommene Lebensformen: Wohnwagen, viele Kinder, bestimmte | |
| Berufe wie etwa Artisten. Interessant ist, dass in den ersten sechs Monaten | |
| Menschen wieder das Lager verlassen durften, weil sich herausstellte, dass | |
| sie „der Rasse nach“ keine Sinti und Roma waren. | |
| Also gab es keine feste Definition, wer Sinti und Roma waren? | |
| Das ist das Bemerkenswerte an Zwangslagern wie Köln oder Berlin: Beide | |
| wurden eingerichtet, bevor Ende 1936 die Rassenhygienische Forschungsstelle | |
| unter Robert Ritter mit rassenbiologischen Prämissen ihre Arbeit aufnahm. | |
| Und erst 1938 hat diese Stelle Kriterien festgeschrieben, wer mit wie viel | |
| „Blutanteil“ „Zigeuner“ ist. | |
| Lebte denn die Mehrheit der Sinti und Roma in Wohnwagen? | |
| Das kann ich für Berlin anhand der Akten nicht bestätigen. Die Menschen | |
| wohnten überall, und die meisten Adressen von Opfern, die ich habe, | |
| beziehen sich auf Mietwohnungen. Nur eine Minderheit hat in Wagen gelebt. | |
| Aber wo wohnten dann die Menschen im Lager, die keine Wagen hatten? | |
| Unterhalb der Wagen von anderen zum Beispiel, das war wohl das Gängigste. | |
| Man sieht aber auch auf Bildern, dass Betten zwischen Wagen im Freien | |
| aufgestellt waren. Oder sie schliefen auf freiem Feld. 1938 ließ dann das | |
| Hauptwohlfahrtsamt drei alte Polizeibaracken aufstellen. Im folgenden | |
| Herbst lebten von insgesamt 853 Festgehaltenen 217 in den Baracken. Das war | |
| sehr, sehr beengt. | |
| Welchen Zweck hatte das Lager? | |
| Nachträglich betrachtet dienten Lager wie dieses erst einmal der Exklusion, | |
| also der gewaltsamen Ausgrenzung der Sinti und Roma. Zur Durchsetzung der | |
| „Volksgemeinschaft“ war der erste Schritt, einen Teil der Bevölkerung | |
| auszuschließen. Langfristig gesehen waren die Lager auch ein Reservoir für | |
| Zwangsarbeit – und Ausgangspunkt der Deportation in verschiedene | |
| Zwangslager. Die erste gab es 1938, vor allem Männer kamen unter dem | |
| Stichwort der Kriminalitätsbekämpfung von Marzahn ins KZ Sachsenhausen. Ab | |
| März 1943 wurden die meisten nach Auschwitz-Birkenau deportiert. | |
| Wir war das Verhältnis der Nachbarn zum Lager? | |
| Darüber haben wir wenige Informationen. Eine stammt vom Zeitzeugen Oskar | |
| Böhmer, der sagt, die umliegenden Bauern seien „feindlich gesinnt“ gewesen, | |
| auch der Lebensmittelhändler des Dorfs. Die Inhaftierten mussten sich ja | |
| selbst mit Lebensmitteln versorgen. Aber der Händler verkaufte den | |
| Bewohnern wohl nur die Reste, die die Leute im Dorf übrig ließen. | |
| Die Leute konnten also das Lager verlassen? | |
| In den ersten Jahren – so erschließt es sich zumindest aus den Quellen. Es | |
| ist keine Lagerordnung überliefert, aber alle Zeitzeugen erinnern sich | |
| etwa, dass man abends um zehn Uhr dort sein musste. Ab 1939, als außer | |
| Alten und Kindern alle in Zwangsarbeitsverhältnissen waren, brachte der Weg | |
| zur Arbeit die Menschen aus dem Lager. | |
| Wo arbeiteten sie denn? | |
| Unterschiedlich. Die Zwangsarbeit war häufig beim Straßen- und Tiefbauamt, | |
| aber manche mussten auch in eine Seifenfabrik in Neukölln. Die | |
| ungewöhnlichste Zwangsarbeit war sicher die als Statist für Leni | |
| Riefenstahls Film „Tiefland“. | |
| Wie muss man sich die Verhältnisse im Lager vorstellen? | |
| Es gab eine Lagerwache, die aus mindestens fünf Polizisten oder | |
| Wachangestellten bestand. Zeitzeugen erinnern sich, dass sie einen Hund | |
| hatten, der auf Häftlinge gehetzt wurde und schwere Bissverletzungen | |
| verursachte. Die Polizisten schreckten nicht davor zurück, exzessiv Gewalt | |
| anzuwenden, mit Tritten, Faustschlägen, Schlägen mit dem Degen – teilweise | |
| wegen Übertretungen der nicht überlieferten Lagerordnung oder einfach so. | |
| Und was hat die Rassehygienische Forschungsstelle im Lager gemacht? | |
| Sie hat die Leute körperlich vermessen, nach ihren | |
| Verwandtschaftsverhältnissen befragt. Schon diese Untersuchungen sind | |
| natürlich gewalttätige Übergriffe. Aber es kam auch zu regelrechter | |
| Gewaltanwendung, wenn sich die Leute nicht entsprechend der Erwartungen der | |
| Rassenforscher verhielten. | |
| Sie haben nach Akteuren geforscht. Wer waren die Täter? | |
| Zentral sind, in Berlin und anderswo, die Ende 1938 in der Polizei | |
| eingerichteten Dienststellen für „Zigeunerfragen“. In Berlin hieß der | |
| Leiter Leo Karsten. Nach dem Krieg wurde er Kriminalrat in Ludwigshafen und | |
| im ganzen Bundesgebiet als Gutachter und Experte zu Entschädigungsfragen | |
| für Sinti und Roma geladen. Seine Aussage führte unter anderem dazu, dass | |
| der Senat das Marzahner Lager lange nicht als Zwangslager anerkannt hat – | |
| weil er sagte, die konnten sich dort frei bewegen. Wörtlich sagt er etwa: | |
| „Die Zigeuner konnten dort ihrer Art folgen.“ Diese Kontinuität gab es in | |
| vielen Fällen: Ausgerechnet die Täter wurden in der Nachkriegszeit als | |
| Zeugen geladen und haben antiziganistische Vorurteile bestätigt – etwa dass | |
| die Inhaftierten alle kriminell gewesen seien. | |
| Wie erforscht man die Opferseite? Mittels Erinnerungen von Überlebenden? | |
| Das ist ziemlich schwierig. Es gibt natürlich Aussagen, Erinnerungen und | |
| Zeugnisse von Überlebenden. Ich habe insgesamt 13 für Marzahn gefunden, das | |
| ist gar nicht so wenig. Teilweise sind die Berichte auch sehr, sehr | |
| ausführlich, vor allem die von Otto Rosenberg, Ewald Hanstein und Oskar | |
| Böhmer – leider stammt keiner dieser ausführlichen Berichte von einer Frau. | |
| Ergänzend habe ich eine Liste mit allen Namen erstellt, die mir in den | |
| Quellen begegnet sind. Dank dieser Übersicht sind jetzt 340 Personen | |
| namentlich bekannt, die in Marzahn festgehalten wurden. Die Liste zeigt | |
| auch, dass der größte Teil der Internierten Kinder und Jugendliche waren. | |
| Gab es Widerstand im Lager? | |
| Um das herauszufinden, habe ich versucht, die Quellen gegen den Strich zu | |
| lesen. Man hängt ja sehr an dieser Quellensprache, die die Menschen als | |
| asozial, kriminell und so weiter bezeichnet. Da ist es schwer, eine andere | |
| Perspektive zu gewinnen. Aber beispielsweise beschreibt der Rassenforscher | |
| Gerhard Stein, dass – entgegen den „rassehygienischen“ Überlegungen – | |
| Männer aus dem Lager weiterhin mit schlesischen Arbeiterinnen verkehrten | |
| oder „romantische Beziehungen“ zu ihren Freundinnen in der Stadt pflegten. | |
| Das deute ich als Selbstbehauptung: ein Festhalten an romantischen | |
| Liebesbeziehungen außerhalb rassistischer Vorstellungen. Auch das | |
| Festhalten an Körperhygiene unter diesen Bedingungen lässt sich so lesen. | |
| Oskar Böhmer beschreibt, dass er immer an der Lagerwache vorbeimusste, aber | |
| die hätten ihn nie als Zigeuner erkannt, weil er aussah wie aus dem Ei | |
| gepellt, trotz der schlimmen Bedingungen. Er schreibt, wie er jeden Abend | |
| die Wäsche von seinen Geschwister und sich gewaschen hat. Wie er also | |
| unheimlich viel Mühe darauf verwandte, wenigstens ein bisschen Würde zu | |
| bewahren. Zudem sind zwei Fluchtfälle dokumentiert, die ich in meinem Buch | |
| genauer beschrieben habe. | |
| Wie hat sich Berlin nach 1945 gegenüber den Überlebenden verhalten? | |
| Eigentlich gar nicht. Der Platz war bis 1949 von ehemaligen Zwangsarbeitern | |
| bewohnt. Die meisten gingen zwar weg aus Berlin, auf der Suche nach | |
| überlebenden Verwandten, aber einige blieben hilflos zurück. Raimar | |
| Gilsenbach hat den in der DDR lebenden Sinti und Roma in den 60ern zu einer | |
| Rente verholfen. In Westdeutschland gab es das BGH-Urteil von 1956, dass | |
| die Verfolgung von Sinti und Roma vor 1943 keine rassistische war, sondern | |
| kriminalpräventiv – das wurde nicht entschädigt. 1963 wurde diese Grenze | |
| auf 1938 heruntergesetzt. Das hat also den Berliner Betroffenen, die ja ab | |
| 1936 inhaftiert wurden, auch nicht geholfen. Erst 1977 erkannte das | |
| Kammergericht die Inhaftierung in Marzahn als rassistische Verfolgung an. | |
| Heute reden wir viel über Roma, die aus Südosteuropa nach Berlin kommen – | |
| und meist ist von Problemen die Rede. Ist das Antiziganismus? | |
| Man kann auf jeden Fall sagen, dass die rassistische Verfolgung der Sinti | |
| und Roma im Nationalsozialismus bis heute nicht breit kritisch hinterfragt | |
| wurde. Wir haben da ein riesengroßes Defizit. Das zeigt sich auch daran, | |
| dass Roma, die heute aus Südosteuropa, etwa Serbien, kommen, absolut nicht | |
| als Nachfahren von Holocaustopfern wahrgenommen werden – was sie definitiv | |
| sind. Zudem wird ein „Roma-Problem“ in vielen europäischen Ländern | |
| konstruiert, was teils lebensgefährliche Folgen für die Betroffenen hat. | |
| Ich gehörte zu einem Team, das ein Methodenhandbuch zum Thema | |
| Antiziganismus für schulische und außerschulische Bildungsarbeit | |
| herausgegeben hat. Anlass war die Feststellung, dass „Zigeuner“ ein | |
| gängiges Schimpfwort auf Berliner Schulhöfen ist. | |
| 21 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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