# taz.de -- Deutschlands Klimapolitik: Zurück in der Gegenwart | |
> Erst geht der Berliner Klima-Volksentscheid verloren, dann weicht die | |
> Ampel ihre Klimapolitik auf. Was folgt daraus für den Kampf gegen die | |
> Erderhitzung? | |
Bild: Gute Klimapolitik arbeitet nicht gegens Reihenhaus, sondern mit ihm. Sola… | |
Vergangene Woche hat sich, man kann da ruhig grundsätzlich werden, etwas | |
verändert. Nicht die Klimakrise, die bleibt so bedrohlich, wie sie ist. | |
Aber der Umgang mit ihr. Und das könnte mittelfristig sogar eine gute | |
Nachricht sein. Die Klimapolitik ist aus dem Jahr 2030 ziemlich unsanft in | |
die Gegenwart zurückgekommen, und die ist fossil-schmutzig und ziemlich | |
widersprüchlich. | |
Was ist passiert? Und was folgt daraus für die Klimapolitik? | |
## Es fehlt Unterstützung von unten | |
Es fing am vergangenen Sonntag an mit dem Volksentscheid Klimaneutral 2030 | |
in Berlin. Und vielleicht ahnten seine prominentesten | |
Befürworter*innen schon etwas, als sie am Vortag auf der Bühne vor dem | |
Brandenburger Tor standen: „Realistisch ist, was wir realistisch machen!“, | |
[1][rief Luisa Neubauer ins Publikum]. Allein: Beim realistischen Blick von | |
der Bühne schaute sie nicht auf 35.000 MitstreiterInnen, die angekündigt | |
worden waren. Sondern auf rund 1.500 Menschen. | |
Am Sonntag dann das ernüchternde Ergebnis: [2][Der Volksentscheid hat das | |
Quorum nicht geschafft]. Deutlich weniger als die benötigten 25 Prozent | |
stimmten dafür, dass Berlin sich per Gesetz verpflichten solle, bis 2030 | |
klimaneutral zu werden. Überraschender als die geringe Wahlbeteiligung war, | |
wie viele Menschen ihr Haus verließen und gegen den Volksentscheid | |
stimmten. Am Ende wurden fast so viele Nein-Stimmen wie Ja-Stimmen gezählt. | |
Grund genug, dass man sich für einen Moment auch außerhalb des Sendegebiets | |
des RBB für diesen Volksentscheid interessieren darf. | |
Zwei Dinge hat der Volksentscheid gezeigt: Zunächst die Schwäche der | |
Klimabewegung. Die Aufregung über die Letzte Generation hat manche in den | |
vergangenen Monaten darüber hinweggetäuscht, aber dem Volksentscheid fehlte | |
eine aktivistische Basis. | |
Es gab, und das ist ein Widerspruch, zwar noch nie so viele Klimabewegte | |
wie heute. Gleichzeitig findet das Bewegtsein momentan keinen Ausdruck. | |
[3][Fridays for Future ist tot], und die Letzte Generation ist eine | |
avantgardistische Performancetruppe für 150-Prozentige. Die Bewegung | |
braucht ein neues Ziel, das radikal genug und gleichzeitig erreichbar ist. | |
Der Volksentscheid war es offensichtlich nicht. | |
Wer, zum Vergleich, 2021 in den Wochen vor dem [4][Volksentscheid zur | |
Enteignung von Wohnungsunternehmen] durch Berlin lief, konnte sich kaum | |
retten vor AktivistInnen in lila Warnwesten, die für ihr Ziel warben. | |
Es wäre aber unfair, das Scheitern allein der Schwäche der Bewegung | |
anzulasten. Denn der Volksentscheid hat auch handwerkliche Fehler, aus | |
denen sich etwas darüber lernen lässt, wie Klimapolitik nicht funktioniert. | |
## Radikale Ziele reichen nicht | |
Nehmen wir zum Beispiel Berlin-Britz, ein Stadtteil mit 43.000 Einwohnern | |
außerhalb des S-Bahn-Rings. In manchen Wahllokalen stimmten hier über 70 | |
Prozent gegen den Volksentscheid. Es gibt hier: Mehrfamilienblocks mit | |
Satellitenschüsseln am Balkon, Kleingartensiedlungen mit Gartenzwergen, | |
rosa gestrichene Einfamilienhäuser mit mittelgroßen Autos in der Einfahrt. | |
Hier wohnen Fahrlehrerinnen neben Systemadministratoren und | |
taz-Redakteuren. Und es gibt Verkehr, viel Verkehr. Wenn man durch die | |
Straßen spaziert und in die Vorgärten schaut, sieht man vor ein paar | |
Häusern einen hässlichen, kleinen Kasten im Garten stehen, eine Wärmepumpe. | |
Die sind aber selten, ungefähr so selten wie große SUVs. | |
Es ist also alles in allem ziemlich durchschnittlich hier, könnte man | |
meinen. Oder man sieht es wie die bildungspolitische Sprecherin der Grünen | |
Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. [5][Die schrieb bei Twitter,] dass | |
in der Innenstadt mehr Menschen dem Volksentscheid zugestimmt hätten als | |
dort, „wo es Platz für den SUV in der eigenen Garage gibt“. | |
Daran schließen sich nun allerhand Fragen an, zum Beispiel, wann die | |
Grünenpolitikerin das letzte Mal ihr Kreuzberger Dorf verlassen hat, und ob | |
sie immer noch glaubt, dass Klimaschutz am wirkungsvollsten sei, wenn man | |
Bürger moralisch tadelt oder anschreit. | |
Es ist einigermaßen absurd, davon auszugehen, dass alle Menschen, die gegen | |
den Volksentscheid stimmten, und jene, die gar nicht erst hingingen, gegen | |
Klimaschutz wären. Man könnte auch unterstellen, dass diese sich mit dem | |
Vorschlag auseinandergesetzt und entschieden haben: So geht das nicht. Weil | |
selbst [6][Linken-Politiker] vor der Abstimmung die mangelnde | |
Finanzierbarkeit kritisierten. Oder weil Menschen Angst haben, bald ihr | |
Auto zu verlieren, aber in ihrem Stadtteil der Bus am Sonntag nur alle 30 | |
Minuten fährt, wenn er nicht ganz ausfällt. Oder dass der Umbau ihrer | |
Heizung sie ruiniert. | |
Für jemanden, der heute ein neues Auto oder eine Heizung braucht, ist das | |
Jahr 2030 nicht die Zukunft, sondern Gegenwart. Das Ding soll schließlich | |
eine Weile halten. | |
Wenn der Volksentscheid zu der Erkenntnis führt, dass es nicht reicht, | |
radikale Ziele für die Zukunft zu setzen, solange die Umsetzung in der | |
Gegenwart unklar ist, hätte sich sein Scheitern gelohnt. | |
## Technik kann uns nicht retten | |
Robert Habeck jedenfalls scheint das verstanden zu haben. Nach dem ewigen | |
Koalitionsausschuss sprach er beim [7][Auftritt in der Talkshow von Markus | |
Lanz] zwar nicht direkt über den verlorenen Klimaentscheid. Aber „die | |
öffentliche Debatte“ sei „durchaus eingeflossen in die Diskussion“. | |
Man kann die neuen Kompromisse der Ampelkoalition zur Klimapolitik dann | |
trotzdem für falsch halten, aber man kann nach dieser Woche auch nicht | |
behaupten, dass die gemeine Regierung und die rückgratlosen Grünen die | |
Bevölkerung ausbremsen würden, die so irre gern radikale Klimapolitik | |
hätte. Die Grünen sind nun mal eine 14,8-Prozent-Partei, und bisher wurde | |
ihnen für ambitionierte Klimapolitik nicht unbedingt an der Wahlurne | |
gedankt. | |
Den Beschlüssen der Ampel sieht man deshalb ihre Kompromisshaftigkeit an. | |
Die Worte stehen da schwarz auf weiß, aber es benötigt nicht viel Fantasie, | |
um die Halbsätze in den Farben Gelb und Grün zu markieren. | |
Ihr, liebe FDP, kriegt eure Planungsbeschleunigung für einige Autobahnen, | |
wenn wir Grüne sie mit Photovoltaik zupflastern. Ihr bekommt eure | |
Wärmepumpen, liebe Grünen, wenn wir Gasheizungen mit Wasserstoff betreiben | |
dürfen. Es ist die Ausweitung des Prinzips E-Fuel, nicht nur technisch, | |
sondern politisch. | |
Die Koalition hat sich, auch mit Blick auf den Widerstand in der | |
Bevölkerung, dafür entschieden, die Klimakrise mit zwei in der deutschen | |
Politik bewährten Methoden zu bearbeiten: Mit Kompromissen. Und mit | |
Technik. Kann der Ausbau der Erneuerbaren so schnell vorangehen, dass wir | |
weiterleben können wie bisher? Die Koalition sagt: Top, die Wette gilt. | |
Nur lassen sich zwar mit dem Koalitionspartner Kompromisse machen, aber | |
nicht mit dem Klima. Und je mehr Ausnahmen und Autobahnbrücken beschlossen | |
werden, desto radikaler muss die Klimapolitik der nächsten Jahre werden. | |
Das ist Physik, nicht Politik. | |
Was allerdings Politik ist: all die Schienen, Wasserstoffheizungen und | |
Wärmepumpen muss jemand bezahlen. Im Papier der Ampel findet sich auf der | |
Einnahmeseite nur einer: Der Lkw-Spediteur, der nun eine höhere Maut | |
bezahlen soll. Kosten also, die Verbraucher mit jeder aus Spanien | |
importierten Gurke bezahlen werden. | |
Die Ampel hat sich entschieden, die soziale Frage vorerst nicht zu | |
beantworten, auch das hat sich in Deutschland bewährt. „Niemand wird im | |
Stich gelassen“, heißt es im Abschlusspapier vage. Ob das bedeutet, dass | |
jeder Mittelschichtsfamilie ihre Wärmepumpe subventioniert wird wie bisher | |
und wie das mit der Schuldenbremse zusammengeht, beantwortet das Papier | |
nicht. | |
## Mehr Populismus wagen | |
Was bedeutet es, dass die Klimakrise nun in der Gegenwart und „im | |
Heizungskeller“ angekommen ist, [8][wie die Zeit schreibt]? | |
Dass sie dort schleunigst wieder rauskommen muss. | |
Im Privaten hat die Klimakrise nämlich nichts zu suchen. Und das hat nichts | |
mit Bequemlichkeit zu tun und dem Unwillen, aufs Auto verzichten zu wollen. | |
Wer darauf wartet, dass irgendwann Mehrheiten aus Vernunft und Überzeugung | |
für unbequemen Klimaschutz sind, glaubt auch, dass Menschen aus Vernunft | |
nach einer Pandemie weiter Masken tragen. | |
Menschen engagieren sich oder gehen wählen, weil sie sich einen Vorteil für | |
ihr Leben und das ihrer Mitmenschen erhoffen. Das ist auch nicht | |
verwerflich. | |
Will Klimapolitik erfolgreich sein, kann sie die soziale Frage, die nach | |
der Verteilung der Kosten nicht weiter ausklammern, wie es die | |
Bundesregierung tut. Die ärmere Hälfte der deutschen Gesellschaft hält sich | |
schon heute [9][nahezu an die Grenze von höchstens 5,3 Tonnen CO2 pro | |
Person – dem Ziel der Bundesregierung für 2030]. | |
Die soziale Frage mit der Klimafrage verbinden, das heißt: Mehr Populismus | |
wagen. [10][Klimasteuern für Reiche], das wäre ein Anfang. Von einer | |
Ampelkoalition wäre das zu viel verlangt. Aber was macht eigentlich die | |
Klimabewegung? | |
1 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neubauer-ueber-Klima-Volksentscheid/!5924307 | |
[2] /Volksentscheid-in-Berlin-scheitert/!5924254 | |
[3] /Weniger-Proteste-fuers-Klima/!5916193 | |
[4] /1-Jahr-Enteignungs-Volksentscheid/!5879890 | |
[5] https://twitter.com/BurkertEulitz/status/1640384790237966336 | |
[6] /Klimavolksentscheid-in-Berlin/!5920322 | |
[7] https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-28-maerz-2023-1… | |
[8] https://www.zeit.de/2023/14/klimaschutz-ampel-koalition-beschluesse | |
[9] /Ungleiche-Emissionen-in-Deutschland/!5922585 | |
[10] /Ungleicher-Ausstoss-von-Treibhausgasen/!5922788 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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