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# taz.de -- 1 Jahr Enteignungs-Volksentscheid: Berliner Avantgarde
> Ein Jahr nach dem gewonnen Volksentscheid fällt die Bilanz gemischt aus:
> Enteignet wurde nicht, aber der gesellschaftliche Wind hat sich gedreht.
Bild: Der Flaschengeist ist los
Berlin taz | Ein Jahr nach dem [1][erfolgreichsten Volksentscheid, den
Berlin je gesehen hat], sind die Wohnungen der großen Konzerne immer noch
nicht enteignet. Angesichts der derzeit explodierenden Nebenkosten müssen
Mieter:innen mehr denn je fürchten, überlastet zu werden. Doch die Luft
aus der Kampagne [2][Deutsche Wohnen & Co. enteignen] (DWE), die das
Stadtbild und -gespräch so lange prägte, ist raus; der visionäre Auftrag in
die Hinterzimmer einer intransparent arbeitenden Kommission verschoben.
Zeit also für eine Kater-Bilanz?
Manchmal lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten, um Erfolg oder
Misserfolg beurteilen zu können. Die Idee der Vergesellschaftung wurde nach
einer internen Debatte einiger mietenpolitisch Aktiver erstmals Anfang 2016
in einer Broschüre von Kotti & Co. [3][in die Öffentlichkeit getragen]. Sie
entlockte denjenigen, die überhaupt davon zu hören bekamen, selten mehr als
ein müdes Lächeln. Verstaatlichung, Enteignung, Vergesellschaftung – das
waren Rezepte wie aus der Mottenkiste aus einem vergangenen Jahrhundert und
alles andere als verheißungsvolle Zukunftsvisionen.
Fünf Jahre später haben sich mehr als eine Million Berliner:innen für
die Vergesellschaftung ausgesprochen. Wer heutzutage für die staatliche
Kontrolle jener Branchen plädiert, die die Grundbedürfnisse der Menschen
bedienen, wird kaum mehr schief angeschaut. Überall schicken sich
Initiativen an, der Profitlogik in zentralen Lebensbereichen ein Ende zu
bereiten. Und auch wenn Initiativen wie [4][RWE enteignen] oder
[5][Krankenhäuser statt Profite] längst noch nicht an dem Punkt angelangt
sind, den DWE so erfolgreich vorexerziert hat, sind sie doch Ausdruck einer
Haltung, die inzwischen als Mehrheitsmeinung gelten kann.
Die jüngste Entscheidung der Bundesregierung, den Gasversorger [6][Uniper]
zu [7][verstaatlichen,] ist selbst auf liberaler Seite kaum auf Kritik
gestoßen. Und dass vergangene Woche die Kampagne [8][Hamburg enteignet] mit
dem Sammeln von Unterschriften begonnen hat, zeigt, wie sehr die Hoffnung
vieler auf grundsätzliche Veränderungen der Besitzverhältnisse, nicht nur,
aber vor allem im Bereich Wohnen lebendig ist. Rouzbeh Taheri, einer der
Mitbegründer von DWE, sagt rückblickend nicht ohne Stolz: „Wir haben den
Geist aus der Flasche gelassen.“
Ein Jahr nach dem historischen Sieg, der vor allem der regierenden Berliner
SPD arge Kopfschmerzen bereitet hat, wird zudem immer deutlicher, dass die
regierende Politik keine Antworten auf die Zumutungen des freien Marktes
hat. Das von Franziska Giffey als Reaktion auf den
Vergesellschaftungswunsch geschmiedete [9][Wohnungsbündnis] mit einem Teil
der privaten Wohnungswirtschaft darf schon jetzt als gescheitert gelten. Es
wird den geplagten Mieter:innen dieser Stadt keine nennenswerten
Erleichterungen bringen. Genauso wenig verspricht Giffeys Mantra „Bauen,
bauen, bauen“ eine Erleichterung. Schon jetzt ist absehbar, dass die
Zielzahl von 20.000 Neubauwohnungen jährlich auch in den kommenden Jahren
nicht erreicht werden wird und dass die Mehrzahl jener Wohnungen, die
gebaut werden, am Bedarf der nicht zahlungskräftigen Mehrheit vorbeigehen.
## Kommission tagt geheim
Angesichts der demokratischen Legitimation und der offensichtlichen
Notwendigkeit einer Vergesellschaftung ist der Status quo jedoch
ernüchternd. Eine vom Senat eingesetzte Expertenkommission wird mindestens
bis April 2023 darüber beratschlagen, ob sie die Enteignung für gangbar
hält. Entgegen dem berechtigten Anspruch der Initiative und ihrer
Wähler:innen [10][tut sie das überwiegend unter Ausschluss der
Öffentlichkeit]. Der weiteren Debatte in der Stadt ist damit vorerst der
Wind aus den Segeln genommen – auch weil DWE den von der Kommission
gesetzten Spielregeln momentan nichts entgegenzusetzen hat, wie Taheri
selbst kritisiert.
Das Ergebnis der Kommissionsarbeit lässt sich schon erahnen: Eine Mehrheit
wird auftragsgemäß einen Weg zur Vergesellschaftung aufzeigen, einige
Experten aber – die Vermutung liegt nahe: jene [11][von der SPD Ernannten]
– werden in Minderheitenvoten ihre verfassungsrechtlichen Bedenken
formulieren. Für jene Sozialdemokrat:innen, die sich mehr als Anwälte der
privaten Immobilienlobby denn der Mieter:innen verstehen, wird das die
ausreichende Vorlage sein, um sich gegen ein Vergesellschaftungsgesetz zu
stellen.
Doch es kann auch alles anders kommen. Wer hätte es für möglich gehalten,
dass Vonovia ein Jahr nach der 19 Milliarden Euro schweren Übernahme der
Deutschen Wohnen selbst nur noch einen Börsenwert von 18 Milliarden Euro
aufweist? Wer hätte geglaubt, dass der Filetgrundstücksspekulant [12][Adler
Group] so schnell vor der Pleite steht? Und wer kann sich eigentlich sicher
sein, dass Deutsche Wohnen & Co. enteignen nicht noch einmal einen Druck
entfaltet, der mehr erzwingt, als derzeit vorstellbar ist?
## Die Kampagne lebt weiter
Trotz des erwarteten Abflauens nach dem Hoch des Volksentscheids und der
darauf folgenden Ernüchterung und trotz einer generellen Schwächephase der
Mieter:innenbewegung lebt die Kampagne weiter. Soeben sind ein Buch
und eine Dokumentation über den erfolgreichen Kampf erschienen, die
Kiezteams sind aktiv, DWE veranstaltet Konferenzen, Podiumsdiskussionen und
macht Beratungen für Mieter:innen in der Energiepreiskrise. Am Samstag
lädt man zur „Vergesellschaftungsfete“ auf den Rosa-Luxemburg-Platz.
Für Katerstimmung gibt es keinen Anlass. Die Zeit für Vergesellschaftung
geht gerade erst los.
23 Sep 2022
## LINKS
[1] /Deutsche-Wohnen--Co-enteignen/!5803072
[2] /Deutsche-Wohnen--Co-enteignen/!t5764694
[3] /Gastbeitrag-Mietenbuendnis/!5278275
[4] /Vergesellschaftung-der-Stromkonzerne/!5800789
[5] /Notstand-in-der-Pflege/!5794168
[6] /Gaskrise-und-Gesellschaft/!5878291
[7] /Energiekrise-in-Europa/!5883126
[8] /Berlin-als-Vorbild/!5877683
[9] /Kritik-an-Giffeys-Wohnungsbuendnis/!5874972
[10] /Volksbegehren-Deutsche-Wohnen-Enteignen/!5873282
[11] /Expertengremium-fuer-DW-Enteignen-steht/!5843777
[12] /Immobilienkonzern-in-Turbulenzen/!5861050
## AUTOREN
Erik Peter
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