Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debütalbum von Waajeed aus Detroit: Funk und Dreck und Tech
> Der Dancefloor-Produzent Waajeed veröffentlicht sein Debütalbum „From the
> Dirt“. Es ist choreografiert wie ein Gospelgottesdienst.
Bild: Good god: Waajeed ist definitiv im House
„Funk ist der gemeinsame Nenner bei allem, was ich produziere. Funk habe
ich mit der Muttermilch aufgesogen, mit Künstlern wie George Clinton und
die [1][Ohio Players] bin ich aufgewachsen. James Brown steckt in meinem
Erbgut.“ Robert O’Bryant freut sich. Endlich ein Journalist, der die Musik
einordnet, die der Detroiter unter seinem Künstlernamen Waajeed fabriziert.
Waajeed ist in Detroit geboren. Und nach einer Unterbrechung Anfang der
Nullerjahre lebt der 43-Jährige heute wieder dort. In Detroit hat er auch
sein Debütalbum „From the Dirt“ produziert und auf seinem Label Dirt Tech
Rec veröffentlicht. Er nennt die Musik „new school“, der Sound sei nicht
den Regeln von Genres und der Aufmerksamkeitsökonomie des Mainstreams
unterworfen. „Ich bin weder Maler noch Fotograf noch Zeichner. Ich bin
Künstler.“ Wo er recht hat, hat er recht, [2][„From the Dirt“] ist Musik
ohne Weiteres. Sie klingt, als hätte die Muse ihren Komponisten besonders
intensiv geküsst.
Waajeed füttert den elektronischen Dancefloor mit einer Variante von House
und Techno, der man die HipHop-Wurzeln anhört. Einst hat er als Platinum
Pied Pipers Beats produziert und war mit [3][J Dilla] Teil der Crew Slum
Village. Wie Dillas Großtaten funktioniert auch „From the Dirt“ als
inspirierendes Ganzes, der Spannungsbogen der zehn Tracks ist bis zum
Äußersten gespannt. Zudem ist das Album choreografiert wie ein
Gospelgottesdienst: Was mit Eiltempo losgeht, zwischendurch runterschaltet,
aber an allen Ecken und Enden der zehn Tracks Überraschungsmomente
bereithält, steigert sich gegen Ende bei „I just wanna tell“ in Raserei.
## Rasierklingenscharfe Streicher
Ein funky Konzert für den Heiland auf dem Dancefloor, antreibend und in
jeder Sekunde erweckend. Nur ist der Spirit nicht einschmeichelnd, sondern
Hardcore. Selbst die Streichersounds, die aus einem Synthesizer für den
Track [4][„After you Left“] das Arrangement unterlegen, klingen nach
Rasierklinge. „From the Dirt“ hat die etwas andere affirmative Botschaft
und sie holt die HörerInnen raus aus der Besinnlichkeit: Bewegt euch!
Selbst die U-Bahn-Linie, die durch Detroit verläuft, heißt „People Mover“.
Waajeed repräsentiert auf seinem Debütalbum nie nur sich selbst, Detroit
ist immer dabei. Die Beats sind so direkt und straight, dass sie auch im
tiefen Winter Wärme spenden und das Selbstbewusstsein automatisch höher
rauscht. „Detroit is black“, hat er einen Track betitelt. Er nennt Detroit
„the bottom“, den Bodensatz. „From the Dirt, der Albumtitel, kommt vom
[5][Dreck] der Leute, die ein Leben lang marginalisiert worden sind.“
Alles, was er kann, habe er sich selbst erarbeitet, erklärt Waajeed. „Hier
wissen alle, ob Jung oder Alt, dass du dich nur auf dich selbst verlassen
kannst. Du wächst in dem Gefühl auf, der Staat ist für dich nicht
zuständig.“
Detroit is black: „Atmosphäre, Musik, Essen, all das steht für
eigenständige Kultur. Hier war ein Verkehrsknotenpunkt; Sklaven sind von
Detroit aus auf Vermittlung von Harriet Tubman und anderen mit der
Underground Railroad nach Kanada in die Freiheit geschleust worden.“ In der
Stadtmitte am Ufer des Detroit River erinnert ein Bronze-Denkmal an die
Zeit vor 150 Jahren: Eine Traube von Menschen macht sich daran, über den
Fluss nach Kanada zu flüchten.
## Der Punch von Joe Louis
Ganz in der Nähe steht auch eine Skulptur der geballten Faust des Boxers
Joe Louis. „Sein Punch erinnert uns daran, dass der Kampf gegen Rassismus
weitergeht und damit auch die Mühen, denen wir als Schwarze ausgesetzt
sind. Egal, wer gerade der Bürgermeister ist, unser Mann bleibt Coleman A.
Young. Er verkörpert den ultimativen schwarzen Widerstandswillen“, erklärt
Waajeed.
Coleman A. Young (1918–1997) war der erste schwarze Bürgermeister Detroits,
er regierte von 1974 bis 1994. In seine Amtszeit fiel der sogenannte white
flight, der Wegzug der weißen Mittelklasse in die Vororte und somit der
Verlust wichtiger Steuergelder. Detroit geriet nicht nur deshalb in
Schieflage. Young konnte die Autoindustrie in der Stadt halten, aber sie
hatte der Konkurrenz aus Japan und Europa wenig entgegenzusetzen. Die
Kommune ging bankrott, deswegen endete keineswegs die kulturelle Bedeutung
Detroits als Musikstadt.
Obwohl das berühmte Detroiter R&B-Label [6][Motown] Records 1972 den
Firmensitz an die Westküste verlegte, lebt der Mythos von Motorcity Detroit
auch im Technozeitalter weiter. Auch auf Waajeeds Album „From the Dirt“
erklingen die No-Nonsense-Haltung und der Einfallsreichtum der Musikszene.
Young sprach von „the class struggle and [7][the ass struggle“]. Das
definiert Waajeed so: „In der Phase des Niedergangs tobte hier Banden- und
Drogenkriminalität, der sich selbst der Bürgermeister ausgesetzt sah.
Trotzdem verweigerte er die Kontrolle durch US-Bundesbehörden. Seit
Colemans Zeiten gilt für uns daher die Maxime: do it yourself.“
„Do it yourself“ haben einst die Punks angewandt, heute ist es
Grundbedingung von Techno und House in Detroit: Es fehlt schlicht an
Kapital und Logistik, also bringen die Akteure das Material unter die
Leute, sobald Geld aufgetrieben wird. Den Sommer über kündigte Waajeed
„From the Dirt“ mit zwei Maxisingles an. Inspirierenden House und Broken
Beats gab es da zu hören. Über das Jetzt muss sich Waajeed keine Sorgen
machen und der Zukunft sieht er gelassen entgegen. „Momentan fühlt sich die
Stimmung in Detroit an wie ein Winter in Berlin. Aber der nächste Frühling
kommt bestimmt. White supremacy ist in ihren letzten Zuckungen, ein 400
Jahre alter Drache, der noch mal die Zähne fletscht, bevor er jämmerlich
verendet.“
24 Nov 2018
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=fAgS0Tf8qSY
[2] https://waajeed.bandcamp.com/
[3] https://www.youtube.com/watch?v=5nO7IA1DeeI&list=PLgkDOHABadp7mhXiUEHvi…
[4] https://www.youtube.com/watch?v=V5KzsTjcMBY
[5] https://www.youtube.com/watch?v=9yULNWlaj7g
[6] https://www.youtube.com/watch?v=gEtnJx1JS34
[7] https://www.youtube.com/watch?v=FkOLF6JA24w
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Detroit
House
Berliner Nachtleben
Soul
HipHop
Klang
Free Jazz
Black Lives Matter
Schwerpunkt Rassismus
US-Sklaverei-Geschichte
Kraftwerk
Techno
Gospel
Rio de Janeiro
Detroit
House
Pop
## ARTIKEL ZUM THEMA
Lebensbilanz von Dimitri Hegemann: Der Powerfinisher
Dimitri Hegemann ist eine Legende des Berliner Nachtlebens. Seine Clubs
gehören zum Inventar der Stadt. Nun fordert er: Gebt der Jugend ihren Raum.
Nachruf auf Lamont Dozier: Architekt des Motown-Sounds
Der US-Produzent und Songwriter Lamont Dozier ist mit 81 Jahren gestorben.
Würdigung eines begnadeten Arrangeurs und Strippenziehers.
Buch über Hip-Hop-Produzent J Dilla: Besonderes Taktgefühl
Der Autor Dan Charnas hat die Biografie „Dilla Time“ veröffentlicht. Darin
bekommt der Detroiter Produzent J Dilla eine längst überfällige Würdigung.
Soundscapes von Kristen Gallerneaux: Dröhnen und Flattern
Auf dem Album „Strung Figures“ der Kanadierin Kristen Gallerneaux kommt es
zu spannenden Klangkollisionen. Wer hinhört, wird belohnt.
Album von US-Drummer Gerald Cleaver: Groove und wildes Denken
Jazzdrummer Gerald Cleaver weicht ab von der Norm. Auf „Griots“ mischt er
analoge Polyrhythmik mit elektronischer Klangerzeugung.
Elektronikproduzent über Lage der USA: „Systematische Benachteiligung“
Der New Yorker Künstler DeForrest Brown Jr. tritt beim Berliner Festival
CTM auf. Hier spricht er über Kybernetik als Waffe und Techno-Automation.
Juneteenth und Autor Ralph Ellison: Schöne Illusion
Ein Auftritt Donald Trumps in Tulsa weckt Erinnerungen an Juneteenth und
ein rassistisches Massaker. Zur Aktualität von Ralph Ellisons Werk.
Augenzeugenbericht der Sklaverei: Verschleppt in Ketten
In „Barracoon“ erzählt Zora Neale Hurston das Leben des Sklaven Oluale
Kossola. Vor zwei Jahren veröffentlicht, erscheint das Buch nun auch auf
Deutsch.
Nachruf auf Florian Schneider-Esleben: Fahr'n, fahr'n, fahr'n
Florian Schneider-Esleben ist tot. Das Mastermind der Düsseldorfer
Elektronikpopband Kraftwerk ist an einem Krebsleiden gestorben.
Nachruf auf US-Produzent Mike Huckaby: Im Groove der tiefen Töne
Der Detroiter Technoproduzent Mike Huckaby ist am Freitag mit nur 54 Jahren
an einer Covid-19-Infektion gestorben. Ein Nachruf.
Gospel mit Schmackes: Barbershop Erleuchtung
Zwei fantastische Compilations zeigen, welche unglaubliche Hoffnung aus
US-Gospelsongs spricht. Die Musik verleiht im Kampf gegen Ungleichheit
Flügel.
Neues Album des Brasilianers Kassin: Stil auf dem Vulkan
Der Multiinstrumentalist Kassin aus Rio de Janeiro und sein Werk „Relax“:
Anatomie eines Lieblingsalbums des zu Ende gehenden Jahres.
Houseproduzentin Viola Klein: Aus Gründen der Wertschätzung
Egalitär hören und feiern: Die Kölner Produzentin und Künstlerin Viola
Klein macht elektronische Tanzmusik mit ethnografischer Genauigkeit.
Dancefloor-Sommerkollektion 2018: Wo ist mein Wristband?
Elektronische Musik ist zukunftsweisend, Und zwar dann, wenn sie dem
Update-Imperativ nicht folgt: Neues aus New York, Detroit, Chicago und
Berlin.
Debütalbum des Elektronikduos Rezzett: Reizvolle Monster
Die Produzenten Lukid und Tapes veröffentlichen als Rezzett ihr Debütalbum.
Der euphorische Sound löst spätpubertäre Ekstase aus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.