Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Soundscapes von Kristen Gallerneaux: Dröhnen und Flattern
> Auf dem Album „Strung Figures“ der Kanadierin Kristen Gallerneaux kommt
> es zu spannenden Klangkollisionen. Wer hinhört, wird belohnt.
Bild: Hohe sonologische Kompetenz: Die kanadische Künstlerin Kristen Gallernea…
Was der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer (1933–2021) als
Soundscape, als Grundrauschen der akustischen Hülle bezeichnet hat, also
die Gesamtheit aller auftretenden Geräusche, die unseren Alltag prägen,
führt seit Langem zu Diskussionen: Nehmen wir dieses Rauschen nur passiv
wahr und wenn nicht, wie viel haben wir daran aktiv Anteil? Ist Soundscape
Ergebnis oder nur Zwischenstand eines langwierigen Prozesses? Ist sie eher
kybernetisches Gebilde oder amorpher Zufall?
Schafer hat Soundscape als Zeichensystem beschrieben, in das technische,
soziale, kulturelle Faktoren einer Gesellschaft einfließen: das lässt
wiederum Rückschlüsse zu auf den Zustand selbiger. Die Unschärfe von
Schafers Theorie und ihre Widersprüche lassen sich nicht ohne Weiteres
auflösen. Und doch sind manche Argumente sinnvoll zur Beschreibung des
flüchtigen Charakters von aktueller elektronischer Musik.
Das gilt besonders seit Aufkommen von Sampling, Verfremdungseffekten wie
Time-Stretching und der kreativen Manipulation von Maschinen wider ihren
Bedienungsanleitungen durch die DJ-Kultur. Da zeigt sich manche
elektronisch generierte Musik auf ihren Klangebenen nahe am Knirschen und
Seufzen der sie umgebenden Welt und zugleich spielt sie mit dieser Umgebung
Harakiri.
## Mahlstrom der Klänge
Überprüfen lässt sich das anhand der beeindruckenden sonologischen
Kompetenz der kanadischen Produzentin Kristen Gallerneaux. „Strung
Figures“ heißt das eigenwillige Debütalbum der 42-Jährigen, die seit
Langem in [1][Detroit] lebt und an der lebhaften Dancefloor-Kultur ihrer
zweiten Heimat teilhat. Wenn man so will, ist „Strung Figures“ ein
durchgehender, mal brodelnder, mal beängstigend ruhiger, aber immer
gewaltiger Strom aus Sounds, Melodiefragmenten, Stimmensamples und Beats.
Seine Einzelteile ergeben in der Summe immer wieder neue magische
Geräuschkulissen. Einzelne Klangquellen verschlieren, man kann sich hier
nicht einfach durchzappen, sondern muss genau hinhören, wird dann aber
belohnt.
Stilistisch siedelt [2][Gallerneaux] die elf Tracks abseits von
Genrekonventionen an: Obwohl das rhythmische Gitter der Beats, ihr Ruckeln
und Zuckeln eine gewisse Faszination von Techno offenbart und damit
Melodiepartikel anschiebt, klingt kein Detail zu streng oder zu schlau
ausgedacht.
Im Gegenteil, für Gallerneaux, die an einer chronischen Innenohrerkrankung
leidet, ist die Produktion von Musik mit Hindernissen verbunden, wie sie
der taz schildert. „Oft nehme ich Klänge mumpfiger und basslastiger wahr,
als sie in Wirklichkeit sind. Zum Produzieren nutze ich Kopfhörer, um das
Hinhören für mich komfortabler zu gestalten. Ich habe Phasereffekte in mein
Hörgerät eingebaut, weil Musik für mich dann plastischer klingt. Und das
hat wiederum Auswirkungen, auf meine Hörfähigkeit. Was für mich normal ist,
mag für andere verzerrt wirken.“
Mit einem Casiosynthie hat Gallerneaux in ihrer Jugend spielen gelernt,
später auch akustische Instrumente ausprobiert. Erst am Mischpult hat sie
eine eigene Vorstellung davon entwickelt, wie Musik funktioniert. Den
Einsatz des Mischpults als Instrument hat sie sich vom Dub zweiter Ordnung
ausgeborgt, wie ihn etwa das Duo Demdike Stare aus Manchester fabriziert.
## Brummton verweht die Beats
Die schneidende Härte von Industrial Music blitzt als Marker ebenso auf wie
Dance-Sound aus der Detroiter Nachbarschaft. Und doch entschlüsseln diese
Einflüsse nicht vollständig die faszinierenden Klangkollisionen, wie sie
etwa in dem Track „Dressing a Skin“ durch einen Brummton entstehen, der
Beats und Synthesizer-Fahnen verweht. Oder in „White Noise“, in dem das
titelgebende Pixelflimmern mit tribalistischer Percussion und einem
enervierendem Jagdsignal aus der Reserve gelockt wird.
Field Recordings werden von Gesangssamples unterpflügt, durch
Kontaktmikrofone geschürfte Geräusche ergeben Musik. Ihr Einsatz erinnert
an die Funktion des Kartenspiels „Trucco“ in einer Kurzgeschichte von Jorge
Luis Borges, wo aus sinnlosem Zeitvertreib metaphysische Qualitäten
herausgekitzelt werden. „Ich arbeite oft mit Klängen, die
nicht-musikalischen Ursprungs sind. Summtöne, Lautsprecherdurchsagen und
Tastengeklimper, aber auch Interferenzen und Feedback. Mir fällt dazu ein
Zitat vom Kölner Produzenten [3][Conny Plank] ein. Sinngemäß sagte er, wir
Menschen mögen bestimmte Klänge und gegen andere hegen wir Abneigungen.
Diejenigen, die wir mögen, verwandeln wir in Musik.“
## Prägende Klänge
Aufgewachsen ist Kristen Gallerneaux in der kanadischen Provinz Ontario auf
dem Land. Gefragt nach prägenden Lauterinnerungen, erklärt sie:
„Einerseits mit Natur konnotierte Sounds und zum anderen ein schroffer,
industriell geprägter Geräuschpegel. Größter Arbeitgeber am Ort war eine
Stahlfederfabrik, in der viele Familienangehörige gearbeitet haben.
Das Dröhnen der Walzen und der Pfeifton beim Schichtwechsel haben sich mir
eingebrannt. Als Schülerin habe ich auf Maisfeldern Kolben entfahnt, harte
körperliche Arbeit in der Gluthitze. Ich denke an das Flattern von
Vogelschwärmen, wenn sie aus den Wassergräben um die Felder aufgeschreckt
wurden. Prägend waren auch Trommeln und Chanten bei den Pow Wows in einem
angrenzenden Reservat. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu meiner
Heimat. In Detroit fühle ich mich sehr wohl.“
Gallerneaux gehört den Métis an, Nachfahren der ersten französischen
Trapper und Native Canadians. „Indianische Kultur war mir in der Kindheit
stärker vertraut. Mit Musik nähere ich mich an diese verschütteten
Traditionen wieder an: Ich hege nostalgische Gefühle ein und stelle aus der
Ferne Kontakt mit einer Gemeinschaft wieder her, von der ich seit meiner
Jugend separiert bin. Seit Beginn der Corona-Epidemie konnte ich nicht mehr
nach Kanada reisen, die Grenze ist dicht.“
Mit „Two Chiefs“ ist Kristen Gallerneaux eine Anrufung dieser Vergangenheit
gelungen, ein lauter, aber auch eleganter, nicht zu folkloristischer
Dancetrack. Wobei: Das Tribalistische wird hier nicht verklärt, sondern aus
der sicheren Distanz nachempfunden. Allmählich rumpelt sich Gallerneaux’
Sound frei. Und das ist auch das Tröstliche von „Strung Figures“, wenn die
Musik noch so düster und chaotisch daherkommt, wie unsere Zeit nun mal ist,
die Sperrigkeit bleibt immer sinnlich und ist keine Behauptung.
24 Aug 2021
## LINKS
[1] /Debuetalbum-von-Waajeed-aus-Detroit/!5552345
[2] /Gespenstergeschichte-des-Klangs/!5318037
[3] /Filmdoku-ueber-Conny-Plank/!5448205
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Klang
Experiment
Dub
Native Americans
Berlin Ausstellung
Klang
Basisdemokratie
Musik
Elektropop
Detroit
Noise
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung über Musik und Kunst: Töne sehen, Farben hören
„Broken Music Vol. 2“ im Hamburger Bahnhof Berlin widmet sich dem
Verhältnis von Bildender Kunst und Musik. Und erinnert an einen
Plattenladen.
Klangpoetin Ain Bailey: Geräusche erinnern und vergehen
Klänge stellen Gemeinschaft her und erzählen Geschichten. Das erforscht die
britische Künstlerin Ain Bailey, auch auf dem Festival „Poetica“ in Köln.
Musikduos als demokratische Bastionen: Aller guten Dinge sind zwei
Das Duo ist die kleinste Gemeinschaft, um zusammen Musik zu machen. Vier
packende neue Duo-Alben, vier unterschiedliche Modelle der Arbeitsteilung.
Dub-Duo Space Afrika: Musik fürs Kopfkino
„Honest Labour“ von Space Afrika sind Klänge zum Tagträumen. Bei endlosen
Busfahrten durch triste urbane Gegenden oder an müden Sonntagen.
Künstler:innen LUMP über ihr neues Album: „Bis mich die Muse küsst“
Die britischen Künstler:innen Laura Marling und Mike Lindsay reden bei
der Arbeit nicht viel. Im Interview sprechen sie über Drone-Sounds und die
Lust zu tanzen.
Debütalbum von Waajeed aus Detroit: Funk und Dreck und Tech
Der Dancefloor-Produzent Waajeed veröffentlicht sein Debütalbum „From the
Dirt“. Es ist choreografiert wie ein Gospelgottesdienst.
US-Komponist Raven Chacon im Gespräch: „Schiefe Tonalität ist für mich nor…
Raven Chacon ist Stipendiat der American Academy in Berlin. Ein Gespräch
über den Klang der Wüstenwinde, Lärm als Zufallsprodukt und stillen
Protest.
Gespenstergeschichte des Klangs: Wie wir vom Spuken reden
Allerlei Geräusche machen sich im Alltag akustisch bemerkbar. Versuch einer
Analyse der Lebensräume unseres Klangspektrums.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.