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# taz.de -- Klangpoetin Ain Bailey: Geräusche erinnern und vergehen
> Klänge stellen Gemeinschaft her und erzählen Geschichten. Das erforscht
> die britische Künstlerin Ain Bailey, auch auf dem Festival „Poetica“ in
> Köln.
Bild: Ain Bailey im Gespräch auf dem Poetica Festival am 3. Mai in Köln
Man kann sich wundern, dass es aus den Anfangstagen der Phonographen und
Schellackplatten auffällig wenig autobiografisches Material gibt. Was es
gibt, sind Lieder und Reden, doch erst später sprachen Persönlichkeiten,
die gerade ihre Biografie verfasst hatten, diese auch auf Tonträgern ein.
Selbst heute ist die Anzahl von Hörbuch-Autobiografien gering. Der
stundenlange Aufnahmeprozess schreckt ungeübte Sprecher*innen ab.
Generell ist es sehr viel einfacher, seine Gefühle niederzuschreiben, als
von ihnen zu erzählen.
Die englische Klangkünstlerin und DJ Ain Bailey setzt mit ihrer Arbeit da
an. Sie entwirft und entwickelt Klang-Collagen, die eben nicht über das
Wort, sondern vornehmlich über Musik und einem breiten Spektrum von Klang
die Narration herstellen: Die Künstlerin nennt ihre Form „Sonic
(Auto)Biography“ – Klang-Autobiografien.
Bailey, 1970 in London geboren, ist von [1][der US-Komponistin Pauline
Oliveros (1932–2016) beeinflusst, die als Begründerin des deep listening
gilt]. Dahinter verbirgt sich eine Gruppen-Methode, Klänge zu durch- und
beleuchten, verschiedene Qualitäten auszumachen. Stets folgen kollektive
Deep-listening-Sessions vorher bestimmten Verabredungen, wie „Was hören
wir genau?“, „Womit kann man das vergleichen?“, aber auch: „Was sagt mir
der Klang?“.
Oliveros Methode war eine Antwort auf die wachsende Anzahl von Tonträgern,
die Mitte des letzten Jahrhunderts zum Massenprodukt wurden. Ihr Diktum:
Man muss trotzdem genau hinhören!
## Die Lücken im kollektiven Klanggedächtnis
Die letzten 120 Jahre haben mit ihrer Möglichkeit, Klang und Musik zu
bannen, zu vervielfältigen und damit wiederabspielbar zu machen, das
Verhältnis von uns Menschen zu sonischen Ereignissen grundlegend verändert.
So sind uns nicht nur die Bilder der beiden vernichtenden Weltkriege im
Gedächtnis, sondern auch ihre Klangkulisse: Maschinengewehrsalven, die
Brüllton-Reden der Nazis (und der Alliierten), Sieg-Heil-Rufe und das
Knattern von Panzerketten auf Asphalt. Aber auch Aussprüche wie „Ich bin
ein Berliner“ oder „Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich�…
klingen in unseren Ohren nach.
Nicht nur individuell, sondern als Gemeinschaft speichern wir diese
auditiven Ereignisse ins kollektive Gedächtnis. Die Konkretheit dieser
Ausdrücke versperrt derweil den Blick auf ebenso wichtige Ereignisse, deren
Klänge eben nicht in allen Medien ausgespielt werden, sondern sich im
Kleinen abspielen: Das Geräusch, das Boote voller Geflüchtete auf dem
Mittelmeer machen, wenn die Wellenbrecher aufbrausen, oder der Klang der
Familie, die einen nicht mehr unter sich haben möchte, weil man nicht ins
christlich-konservative Gefüge passt.
Schon für ihre Doktorarbeit erforschte die Londonerin Ain Bailey diese
Frage: „Wie nutzen queere Frauen und nicht binäre People of Colour Klang,
um Gemeinschaft/Raum zu schaffen?“ Seit 2017 entwickelte sie ihre eigene
Methode, die sie eben Sonic Autobiographys nennt.
## Gefühle triggern, je stärker, je besser
Zwei Jahre später begann sie dann in der Londoner Serpentine Gallery mit
Geflüchteten und LGBTQIA+ zusammenzuarbeiten; hier bietet sie Workshops an.
Die Teilnehmer*innen bringen Sounds mit – MP3s aus dem Internet,
Aufnahmen auf dem Handy – und gemeinsam erforscht man ihre Substanz und
ihre Bedeutung. Bailey bittet die bisweilen traumatisierten Personen
verschiedentliche Soundquellen zu „schröpfen“: Seien es die Geräusche des
Kochens, Aufnahmen von der eigenen Flucht oder auch aus einem Club, in dem
man Spaß hatte.
Gefühle sollen getriggert, also ausgelöst werden. Je stärker, desto besser.
Langsam spannen sich so narrative Strukturen auf, die von Verbannung und
Flucht, von Trauma und Angst berichten. Diese prozessuale Arbeit, die immer
nur im Moment der einzelnen Workshops Bestand hat, ist ephemer und
vergänglich. Es entsteht danach kein marktgerechtes Produkt; man sucht
vergeblich nach Veröffentlichungen der Künstlerin und Musikerin. Im Fokus
steht dabei das Zusammenspiel zwischen individueller Klangerinnerung,
gemeinsamem deep listening und Austausch über die mitgebrachten Klänge.
Dies ist der eine Teil des Werks der Klangkünstlerin, die zur Poetica 7 (2.
– 7. Mai) in Köln eingeladen ist. Der andere Teil besteht aus
(Klang-)Installationen und DJ-Mixen. Hier geht sie mit einer ähnlichen
Methode vor: In Field-Recordings, Found-Footage-Material und Musik sucht
sie nach klanglichen Spuren. Durch die Montage und Collage der
verschiedenen Quellen entstehen demnach Narrative des Selbst, des
jeweiligen Ortes oder der Community.
Baileys Methode macht sie indes zu einer schwer greifbaren Künstlerin. Das
temporäre Moment ihrer Werke, die nur an Ort und Stelle ausgespielt werden
können, bricht mit Erwartungen – Mixe, wie etwa jener für das englische
Magazin The Wire, sind nur Nebenprodukte des eigenen Vorgehens.
Aber selbst Internet-Mixe zeugen von ihrer extremen Methodik: Bailey
untersucht auf Mixtape-Länge das eigene Verhältnis zu Jazzmusik als
Ausdruck der Schwarzen Diaspora. Auf Streicherquartette mit folkigen
Einschlag und Minimal Music-Perkussionen folgt dann ein experimentelles
Stück für Kontrabass und Stimme. Schreckliche Schreie der Verzweiflung und
höllenhafte Qualen vernehmen wir dann. Es sind solche Arbeiten und Mixe,
die ihr 2019 den „Oram Award“ beschert haben: Benannt nach der Pionierin
der elektroakustischen Musik, Daphne Oram, ist es die Auszeichnung des
britischen Senders BBC und dort beheimateten Radiophonic Workshop für
herausragende Arbeit im Bereich Sound, Musik und klanglicher Ereignisse.
6 May 2022
## LINKS
[1] /Komponistin-Pauline-Oliveros-in-Berlin/!5274561
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Klang
Musik
Biografie
Erinnerung
Geschichte
Flucht
Familie
Klang
Ökologie
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