# taz.de -- Gespenstergeschichte des Klangs: Wie wir vom Spuken reden | |
> Allerlei Geräusche machen sich im Alltag akustisch bemerkbar. Versuch | |
> einer Analyse der Lebensräume unseres Klangspektrums. | |
Bild: Ein Votrax | |
Als ich acht Jahre alt war, lebte ich in einem Haus, in dem es angeblich | |
spukte. Wenn meine Mutter Nachtschicht hatte, blieb ich oft allein zu Haus. | |
Als Ersatz für ihre mütterliche Zuwendung ließ sie während ihrer | |
Abwesenheit das Radio laufen. Sein anheimelndes Rauschen wurde untermalt | |
vom Klirren des Bestecks in den Küchenschubladen. | |
Der Medienhistoriker Friedrich Kittler sagte einmal, dass der Tod vor allem | |
ein Radio-Thema sei. Manchen Abends klingelte das Telefon. Immer, wenn ich | |
den Hörer abnahm, war die Leitung tot. Eines späten Abends bin ich noch mal | |
aus dem Bett geschlichen, um unter einer Bank im Flur nach einem | |
Lebenshilfe-Magazin zu suchen. Darin klebte eine Flexidisc. Ich riss sie | |
heraus und legte sie in meinem Zimmer auf den Plattenspieler. | |
Als ich die Nadel aufsetzte, veränderten die nun ertönenden Kratz- und | |
Ploppgeräusche die Atmosphäre. Eine Männerstimme nuschelte in beschwörendem | |
Befehlston: „Hööörrre guuut zu!“ Eine halbe Ewigkeit blieb ich starr –… | |
wieder Leben in mich kam und ich die Füße in die Hand nahm. | |
## Wie eine Szene aus einem Horrorfilm | |
Die Flexidisc lief natürlich auf 45 Umdrehungen, der Plattenspieler war | |
jedoch auf 33 Umdrehungen eingestellt. Eine denkbar einfache technische | |
Erklärung, aber für mich hatte sich in diesem Moment eine Szene aus einem | |
Horrorfilm abgespielt. | |
Daraus habe ich viel gelernt: eine Schallplatte rückwärts abspielen, | |
unterschiedliche Geschwindigkeiten austesten, mit perfektem Timing Stellen | |
überspringen. Physische Tonträger wie Schallplatten sind die eine Sache, | |
das akustische Spektrum kann sich aber auch auf ein Objekt oder einen Ort | |
beziehen. Das sind die Lebensräume des akustischen Spektrums. Ihre | |
philosophischen Manifestationen sind mit der Geschichte der Objekte eng | |
verknüpft. | |
Als Kuratorin eines Technikmuseums befasse ich mich auch mit solchen | |
Dingen. Sie produzieren zwar nicht unbedingt Musik, aber übermitteln, | |
filtern oder nehmen sie auf. Des Weiteren geben sie Geräusche auf | |
unterschiedliche Weise wieder. Die Beschreibung dieser abseitigen und | |
eigentümlichen Seite von Klangproduktion soll eine Alternative zur gängigen | |
Geschichtsschreibung sein. | |
## Ansteigendes Rumpeln | |
Ein dunkles, fast leeres Theater. Auf der Bühne setzt der Künstler und | |
Designer Paul Elliman eine Aufnahme eines SC-01-Kreislaufs in Gang, auf der | |
die Maschine immer wieder selbst Text produziert. Ein ansteigendes Rumpeln, | |
das aus den Tiefen seiner elektronischen Eingeweide ertönt. Zunächst | |
stolpert das Gerät ein wenig mühsam über Worte, bis es in den Sprechmodus | |
kommt, Geschwindigkeit aufnimmt, das erste Wort hervorstammelt und dann | |
herausplatzt: „aa –a-bom-in—nuh-nation“ (abomination, dt. Abscheu). | |
Gäbe es eine Überlappung von Raum und Zeit zwischen 1963 und 2016, würde | |
Elliman in den spektralen Schuhen Jack Mortons oder zumindest in deren Nähe | |
stehen. Morton leitete beim Computerkonzern Bell Labs das | |
Transistor-Projekt und hat unserem Museum 1963 einen optischen Maser | |
desselben Entwicklungsstadiums geschenkt. Der Transistor ist tief in der | |
Geschichte der Kreisläufe verankert, die den Votrax antreiben. | |
Der Votrax Type ’n Talk ist ein Synthesizer, der Text in Sprache umwandelt. | |
Er wurde 1970 von Richard Gagnon erfunden. Tagsüber arbeitete Gagnon als | |
Informatiker bei Federal Screw Works. Abends tüftelte er in seinem Keller, | |
entwickelte dort einen Prototyp – und wurde daraufhin Leiter einer neu | |
eingerichteten Sprachabteilung. Der Votrax war sein persönliches Projekt: | |
Er konnte einem Bildschirmgerät Worte diktieren, was Gagnons nachlassende | |
Vorstellungskraft unterstützte. | |
## Laut für Laut | |
Der Votrax hauchte der synthetischen Stimme etwas Menschliches ein – | |
mittels der Kraft von Phonemen. Diese kleinsten bedeutungsdifferenzierenden | |
Spracheinheiten wurden vom Votrax Laut für Laut gebündelt, um daraus einen | |
Sprechvortrag zu formen. Die Formate und Reibungen geben Antwort, Hertz für | |
Hertz – es wird phonetisch. | |
Florian Schneider von Kraftwerk entdeckte den Votrax während der | |
„Autobahn“-Tour seiner Band in Detroit. Im Song „Numbers“ (vom Album | |
„Computerwelt“) sind Fragmente von Gagnons Stimme zu hören und ein | |
YouTube-Videoausschnitt des Detroiter Konzerts zeigt eine Frau, die zu den | |
Klängen von „Numbers“ auf der Tanzfläche erscheint, zunächst einen Spagat | |
vollführt (in Stöckelschuhen!) und sich dann durch die klatschenden | |
Zuschauer improvisiert. | |
Hier zeigt sich, dass der Votrax für die Entwicklungsgeschichte | |
elektronischer Musik wichtiger ist als für seinen eigentlichen | |
„Arbeitsbereich“, das Umwandeln von Text in Sprache. Der Votrax will | |
einfach singen! Wenn man den Computer herunterfahren würde, ohne den Votrax | |
vorher abzuschalten, würde er schreien, als hätte sein letztes Stündlein | |
geschlagen. Aber dieser Protest ist nur Schall und Rauch, denn der Votrax | |
erwacht immer wieder zum Leben. Gemäß dem alten Werbeslogan der | |
Herstellerfirma: „Jetzt sprichst du!“ | |
## In Moogs Keller | |
Eine andere berühmte Geschichte beschreibt das erste Treffen zwischen dem | |
experimentellen Komponisten Herbert Deutsch und dem Synthesizer-Pionier Bob | |
Moog. Deutsch erklärte Moog, dass er gern ein Instrument hätte, das es noch | |
nicht gab. Es sollte „diese Sounds erzeugen, die woo-woo-whh-woo-woo“ | |
machen. In Moogs Keller brüteten sie darüber, ob das Instrument Tasten | |
haben sollte oder nicht, bis Moog beim Kauf einer Türklingel und eines | |
Spannungsreglers eine Eingebung hatte. | |
Ich frage mich, ob der Votrax-Chip, als er das Wort „abomination“ | |
herauspresste, auf eine unbewusst mit dem Moog Synthesizer geteilte | |
technische Gemeinsamkeit zurückgriff – der von seinen Erfindern liebevoll | |
„the old Abominatron“ genannt wurde. Meine Verbindung mit dem Prototyp des | |
Moog ist persönlich – er steht als Objekt 1982.68.1 unter meiner Fürsorge | |
als Ko-Kuratorin. | |
Der Moog ist in seiner Beschaffenheit so angelegt, dass er bereits | |
Existierendes miteinander vermischt und so Neues entsteht. Man sagt, dass | |
wir vom Spuken nur indirekt reden können; den Vorgang nur durch andere | |
Dinge zu beschreiben ist eine Auffassung, die durch den Moog hartnäckig | |
fortlebt. Das elektronische Instrumental-Album „Black Mass Lucifer“ des | |
kanadischen Komponisten Mort Garson schabt an den dunkelsten Ecken des | |
Okkulten. | |
Der Soundtrack von Kenneth Angers Film „Invocation of My Demon Brother“ | |
(ein satanisches Begräbnis seiner Katze) ist so beängstigend, weil Mick | |
Jagger ihn mit einem schabenden Moog-Sound versehen hat. Elektronische | |
Sounds wurden gern genommen, um Angst und Schrecken zu erzeugen. Im | |
Generieren von synthetischen Signalen steckt gewisse rituelle Kraft: ein | |
Knarzen in die eine oder in die andere Richtung zu schwenken, bis es eine | |
regelrechte Erscheinung wird, bestimmen, wie und ob es als Sound überlebt | |
oder sich in Lärm auflöst. | |
## Signale vom Mars | |
Als 1924 die Distanz zwischen Erde und Mars besonders gering war, wurde die | |
US-Öffentlichkeit von einem seltsamen Fieber ergriffen. Wissenschaftler | |
wollten die Beobachtungen des Astronomen Percival Lowell bestätigen, der | |
1895 behauptet hatte, auf der Marsoberfläche Kanäle entdeckt zu haben, die | |
von Marsianern errichtet wurden. Der Wunsch, zum Mars zu reisen, kam auf, | |
und Wissenschaftler überlegten fieberhaft, wie viel Wasser einem | |
Marsmenschen wohl „täglich zum Trinken, Baden und Rasieren“ zur Verfügung | |
stehe. | |
Die „kontinuierliche Radio-Foto-Nachrichten Übertragungs-Maschine“, kurz | |
„Radio Camera“, des Fernseh-Pioniers Charles Francis Jenkins war das „Ohr… | |
der Operation. Er schloss ein Nesco-SE950-Radio an einen langen, mit | |
Fotopapier gefüllten Holzkasten an, und die Maschine wandelte das Gebrabbel | |
der Radiowellen in Bilder um. | |
Das US-Verteidigungsministerium verfügte, dass drei Tage lang kein Radio | |
gesendet werden durfte – in der Hoffnung, Signale intelligenten Lebens vom | |
Mars empfangen zu können. Für die Aufnahmen stand alles bereit, alle | |
lauschten und warteten. Als der Film 36 Stunden später entwickelt war, | |
waren auf ihm sich regelmäßig wiederholende, Apohänie induzierende | |
„Nachrichten“ zu erkennen, bestehend aus Punkten und Strichen und „einem | |
schemenhaft gezeichneten Gesicht“. | |
## Störsignale von Radiowellen | |
Jenkins, der erwartet hatte, dass auf dem Film nichts zu sehen sein würde, | |
veröffentlichte das Ergebnis nur unter Vorbehalt: „Es ist sehr | |
wahrscheinlich, dass die aufgenommenen Geräusche Störsignale von | |
Radiowellen sind. Der Film zeigt in gleichmäßiger Wiederholung etwas, das | |
aussieht wie das Gesicht eines Mannes. Es ist ein Freak, für den es keine | |
Erklärung gibt.“ | |
Gespenster geistern durch unser kollektives Gedächtnis von reproduzierenden | |
Soundtechniken – seien sie in Museen archiviert oder bei uns zu Hause. Die | |
verschwommenen Trennlinien zwischen den oben genannten Objekten sind Beweis | |
ihrer lebendigen und seltsamen Sachlogik, die bisweilen etwas sperrig ist | |
und dennoch von unheimlichem nicht körperlichem Klang nur so strotzt. | |
Diesen Objekten haftet etwas Irrationales an. | |
Sie wurden lebendiger, indem sie zu Museumsartefakten wurden und nicht als | |
Gebrauchsobjekte weiterleben. Sie existieren – und sie existieren nicht. | |
Sie sind präsent, und trotzdem schimmern ihre Wellenformen wie Traumbilder, | |
wie symphonisches Geisterrauschen. Gemäß dem passenden Ausspruch des | |
Medienwissenschaftlers und Autors Ian Bogost sind sie „schwarzes Rauschen“, | |
das nur darauf wartet, beachtet zu werden. | |
Übersetzung aus dem Amerikanischen Englisch: Sylvia Prahl | |
5 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Kristen Gallerneaux | |
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