| # taz.de -- „Das Lehrerzimmer“ im Kino: Pädagogik und geschwollene Augen | |
| > İlker Çataks Spielfilm „Das Lehrerzimmer“ inszeniert aufreibenden Alltag | |
| > an einer Schule als perfide Mobbinghölle – aus der es kein Entkommen | |
| > gibt. | |
| Bild: Auch die stärkste Lehrerin verzweifelt: Leonie Benesch als Carla Nowak | |
| Carla Nowak hat ihr Referendariat sicherlich mit Bestnote bestanden. Ihr | |
| Unterricht ist makellos. Nach dem alle Sinne aktivierenden „Guten Morgen“, | |
| nicht apathisch dahin gemurmelt, sondern vor Freude quietschend geklatscht | |
| und gesungen, liegen alle Arbeitsmaterialien auf dem Tisch. | |
| Jedes Kind erhält eine individuelle Rückmeldung, ermutigend, freundlich, | |
| auf den Punkt diagnostisch präzise, während der Rest der Klasse die | |
| Warm-up-Aufgabe bearbeitet. | |
| Die Guten werden gefördert, die Schwachen nie bloßgestellt, und wenn es | |
| doch mal zu laut wird, ist es nach dem ritualisierten rhythmischen | |
| Klatschen wieder mucksmäuschenstill. Talente werden sofort erkannt, | |
| Förderbedarf direkt gesehen. | |
| Strahlend und lachend spielt diese Lehrerin im Sportunterricht mit den | |
| Kindern, ist fair, nie bevorzugend, nie distanziert. Carla Nowak, | |
| herausragend dargestellt von Leonie Benesch, ist das, was man eine | |
| engagierte Lehrerin nennt. | |
| ## Natürlich ist alles in Ordnung | |
| Um diese Pädagogin baut das neue Werk des preisgekrönten [1][Regisseurs | |
| Ilker Çatak] eine Geschichte, die verstört. Der Titel des [2][Films „Das | |
| Lehrerzimmer“, auf der Berlinale zweifach ausgezeichnet] und siebenfach für | |
| den Deutschen Filmpreis 2023 nominiert, deutet an, was die Zuschauer nach | |
| diesen ersten glücklichen Szenen zwischen Butterbroten, Gymnastikbällen und | |
| kichernden Kindern ertragen müssen. | |
| Im Klassenzimmer ist alles in Ordnung. Das Böse, Unberechenbare, das, was | |
| mit beängstigender, nervenaufreibender Filmmusik unterlegt ist, lauert in | |
| der Erwachsenenwelt: im Lehrerzimmer. Und es bleibt nicht dort. | |
| Diebstähle an der Schule sind das initiierende Moment und die Mehrzahl der | |
| erwachsenen, pädagogisch jahrelang ausgebildeten, studierten Mitglieder | |
| dieser „Schulfamilie“, wie es so emotional heißt, scheint schlechter in der | |
| Lage zu sein, miteinander und mit den Anschuldigungen umzugehen, als die | |
| Zwölfjährigen derselben „Familie“. | |
| ## Es gibt kein Machtgefälle | |
| Perfides Ausnutzen von Machtgefälle durch ein Negieren desselben („Wer | |
| nichts zu verbergen hat, braucht sich auch keine Sorgen zu machen“) | |
| wechselt sich mit Psychospielen in polizeiähnlichen Verhörsituationen ab | |
| („Du musst nicht reden, du kannst auch einfach nicken“). | |
| Diese Lehrer erziehen Kinder und sind zugleich in einem derart infantilen, | |
| gereizten und unehrlichen Umgang untereinander gefangen, dass das | |
| Lehrerzimmer zur Hölle wird: Zwischen freundlichen Geburtstagsgrüßen und | |
| völliger Entgleisung, zwischen kollegialen Hilfsangeboten und vulgärer | |
| Beleidigung liegt in diesem Film nur eine ertönende Schulklingel. | |
| Der Mikrokosmos des Klassenzimmers funktioniert reibungslos und | |
| selbstverständlich, bis die Erwachsenenwelt ihre metapolitischen | |
| Grundsatzvorstellungen einer „Null-Toleranz-Politik“ invasiv und plump in | |
| die sensible Gemeinschaftsdynamik von Kindern knallt und der Explosion | |
| hilflos und apathisch zuschaut. Die Egos der Erwachsenen, ihre Eitelkeiten | |
| und Machtkämpfe, sind es, die alles Schlimme beginnen und eskalieren | |
| lassen. | |
| ## Rufmord und Demütigungen | |
| Der von Erwachsenen begonnenen Gewaltspirale können sich, hier bestätigt | |
| sich die „Familienlogik“ der Institution Schule, die Schüler nicht | |
| entziehen: Der Rufmord, den die Schülerzeitung betreibt, die unmenschliche | |
| Demütigung von Kindern in Schulklassen, körperliche Gewaltausbrüche, die zu | |
| geschwollenen Augen führen, werden vom Kollegium mit wüsten Forderungen | |
| nach Bestrafung beantwortet – eine pädagogische Ohnmachtserklärung. | |
| Allein Carla Nowak verzweifelt, nicht an den Kindern, sondern an den | |
| Erwachsenen. Allein sie sieht, was es bedeutet, Pädagogin zu sein: Als | |
| Erwachsene Verantwortung für das zu übernehmen, wofür Kinder noch keine | |
| Verantwortung übernehmen können. | |
| In diesem Film setzen Erwachsene eine intakte Kinderwelt in Brand und sehen | |
| beim Abfackeln der Unschuld bestürzt zu. Diese Pädagogen versagen darin, | |
| kindliches Gewaltverhalten als Reaktion auf eine kaputte und empathielose, | |
| sich zerfleischende Erwachsenenwelt zu begreifen. | |
| Im Lehrerzimmer wird über Kinder gesprochen, als wären sie Erwachsene mit | |
| autonomen Handlungsoptionen, die nicht verstanden, sondern bestraft werden | |
| müssen. Während die Kinder des Films kindlich im normalsten und gesündesten | |
| Sinne des Wortes sind, mit allen hellen und dunklen Seiten, die dieser | |
| Zustand beinhaltet, sind die Erwachsenen kindisch, ohne | |
| Verantwortungsübernahme und innere moralische Orientierung. | |
| Und obwohl auch Carla Nowak schwere Fehler in diesem Erwachsenenkosmos | |
| begeht und infiziert wird von einem Wahrheitsverständnis, das alle Mittel | |
| heiligt, bleibt sie die Anwältin der Kindheit. Bis das böse Kind, das die | |
| Erwachsenenwelt erschaffen hat und nun loswerden will, in all seiner | |
| Friedlichkeit und Unschuld neben ihr einschläft und endlich zur Ruhe kommen | |
| kann.„Das Lehrerzimmer“ umkreist meisterhaft die Macht der Erwachsenen und | |
| die Ohnmacht der Kinder. | |
| 5 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marie-Sofia Trautmann | |
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