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# taz.de -- „Räuberhände“ von İlker Çatak: Liebenswerte Istanbuler
> Der Regisseur İlker Çatak hat den Roman „Räuberhände“ von Finn-Ole
> Heinrich verfilmt. Es geht um Freunde, schwierige Mütter und fürsorgliche
> Männer.
Bild: Samuel (Mekyas Mulugeta) und Janik (Emil von Schönfels)
Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.
Vor allem in einer bestimmten Lebensphase: dem Übergang zwischen der
Kindheit und dem Erwachsenwerden, in dem die Herkunft, die einen prägte,
klar zur Vergangenheit wird, und die Ziele, die man sich steckt, zur
selbstbestimmten Zukunft.
Janik (Emil von Schönfels) und Samuel (Mekyas Mulugeta) sind solche besten
Freunde. Ihre Beziehung scheint enger als alle anderen Bindungen, die die
beiden Abiturienten pflegen. Wenn Janik in der gemeinsamen Gartenlaube mit
seiner Freundin schlafen will, platzt Samuel schon mal mitten im Akt
dazwischen – vielleicht ein wenig aus Eifersucht, vielleicht ein wenig aus
Neid, vielleicht auch einfach aus Bock.
Und wenn Samuel, dessen Mutter Irene (Katharina Behrens) zu viel trinkt, zu
viel feiert und zu wenig Verantwortung zeigt, bei Janik auftaucht, sitzt er
selbstverständlich mit am Abendbrottisch. Janiks Eltern, die
Lehrer:innen Jona und Ella (Godehard Giese und Nicole Marischka) sind
das gewohnt und geben sich jovial.
Freundschaft, das wird am Anfang von İlker Çataks [1][Kinoadaption des
Romans „Räuberhände“] von Finn-Ole Heinrich klar, hat also nichts mit
Klassismus zu tun, nichts damit, ob man unter zu wenig oder zu viel
Aufmerksamkeit seiner Erziehungsberechtigten leidet.
## In Istanbul den Vater suchen
Der Zusammenhalt zwischen Janik und Samuel ist so groß, dass die beiden
schon seit Jahren einen gemeinsamen Abitrip planen: Sie wollen nach dem
Ende der Schule nach Istanbul fahren, um dort, vielleicht, Samuels
unbekannten Vater ausfindig zu machen – Türke sei er gewesen, hat seine
Mutter behauptet, und auch wenn Samuel nicht mehr als den Vornamen weiß,
pocht er, dessen Haar so dunkel ist wie Janiks deutscher Schopf blond, auf
seine „Kultur“.
Der Auftakt von [2][Çataks Film] endet mit einem Paukenschlag: Die Reise
der beiden Freunde steht plötzlich in Frage. Denn zwischen Janik und Irene
ist etwas passiert, eine Grenze wurde überschritten. Als die jungen Männer
dennoch fahren, haben sich die Verhältnisse gewandelt, die Freundschaft ist
erschüttert. Doch in einem fremden Land, in einer fremden Stadt ist eine
Bezugsperson noch wichtiger als in der vertrauten Umgebung…
Heinrichs Roman, der in vielen Schulen Pflichtlektüre ist, und der lange
als Theaterstück unter anderem in Hamburg aufgeführt wurde, handelt von der
Frage nach Vergebung. Und ist gleichzeitig das anrührende Portrait eine
problematischen, verqueren Mutter-Sohn-Beziehung im prekären Umfeld. Çatak
hat dem sensiblen Drama jedoch eine wunderbare, nur scheinbar
nebensächliche Ebene hinzugefügt: Sein Film ist auch noch eine
Liebeserklärung – an türkische Männer und an die Stadt Istanbul.
## Liebenswürdige Istanbuler Männlichkeit
Während Janik und Samuel umeinanderkreisen, versuchen, Vertrauensbrüche zu
verarbeiten, Krisen mehr oder weniger gut meistern, taucht überall
liebenswürdige Istanbuler Männlichkeit auf: Ein alter Glatzkopf liegt
schnarchend in Schlappen auf dem Sofa des heruntergekommenen Hotels, in dem
die Jungen absteigen, erweist sich aber später als fürsorglicher
Rezeptionist, der mit Essen aushilft.
Ein paar junge Straßenmusiker mit zwiespältigen Intentionen vermitteln
Samuel und Janik den Kauf eines Busses – was sich als faules Geschäft
herausstellt. Aber als Samuel und Janik Probleme mit der Polizei bekommen,
sind die ambivalenten Kumpels am Start. Und Janik, der kein Wort Türkisch
beherrscht, lässt sich von freundlichen Straßenverkäufern beraten, als
Samuel sich eine Magenverstimmung zuzieht.
Immer wieder macht man sich – genau wie Janiks Eltern zu Hause ob der
dubiosen Pläne ihres Sohnes, dessen Geldforderungen und Kontaktunwilligkeit
– Sorgen, dass den beiden in der unübersichtlichen Metropole etwas
passiert. Und immer wieder kann man aufatmen.
Was dann tatsächlich passiert und einen klaren Schlussstrich unter das
„Kindsein“ zieht, hat somit gar nichts mit einem vermeintlich gefährlichen
Istanbul zu tun. Sondern mit dem Zuhause, dem angeblich dicht geflochtenen
Sozialnetz Deutschlands, durch das Menschen dennoch hindurchfallen können.
## Ohne Klischees und Stereotype
[3][Çataks große Stärke, die er bereits in seinem glänzenden Drama „Es gi…
das gesprochene Wort“] zeigte, ist die Darstellung sozialer Zustände, ohne
dabei Klischees oder Stereotype zu bedienen: Auch Samuels Mutter Irene,
deren Raubeinigkeit Katharina Behrens mit einer erschütternden
Verletzlichkeit kombiniert, ist mehr als einfach eine „Säuferin“, die das
Leben nicht im Griff hat; Janiks grässlich bildungsbürgerliche Eltern sind
nicht nur spießig. Und Janik und Samuel haben mehr im Kopf als Feiern, Sex
und Freiheit.
Im Grunde ist es die Vielschichtigkeit einer Beziehung, von der Çatak und
Heinrich erzählen. Sie muss sich mit den Herausforderungen wandeln. Denn
wenn man doch mal in der abgelegenen Gasse einer Großstadt in eine
nächtliche Prügelei gerät, dann ist es gut, einen Freund zu haben, der
einen da raushaut. Auch wenn dessen Lehrereltern das bestimmt nicht gerne
sähen.
1 Sep 2021
## LINKS
[1] /Literatur/!5149882
[2] https://youtu.be/Y-u7cEtSMEQ
[3] /Regisseur-ueber-Diversitaet/!5689453
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Film
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