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# taz.de -- Comic „Ein anderer Blick“: Streicheleinheiten für die Klitoris
> Emmas Comic „Ein anderer Blick“ ist eine gute Grundlage für einen
> Perspektivwechsel auf den gewöhnlichen Alltag und seine Aufgaben.
Bild: Szene aus dem besprochenen Band
„Wissen Sie, was Mental Load ist?“, fragte die Journalistin Teresa Bücker
in ihrer SZ-Kolumne vor wenigen Wochen. Ihre Frage bezog sich auf den
[1][Jahresrückblick] einer großen deutschen Wochenzeitung, der 50 Dinge
aufzählte, die 2020 wohl ganz okay liefen und der auf Platz 40
prognostizierte, (manche) Männer wüssten seit diesem Jahr endlich, was sich
hinter dem Begriff Mental Load verberge. Hiermit möchte ich Frau Bückers
Frage an Sie weitergeben.
Wissen Sie nichts mit dem Begriff anzufangen, sind sie vermutlich keine
Frau und/oder haben keine Kinder. Denn was sich dahinter verbirgt,
beschreibt gedankliche, oft unsichtbare Arbeit, die beim Organisieren von
Alltagsaufgaben entsteht. So richtig zur Belastung wird das meist im
familiären Kontext, wenn man nicht mehr nur seinen eigenen Tagesablauf,
sondern auch den vom Nachwuchs und dem*der Partner*in organisieren oder
zumindest mitdenken muss.
Wer holt wann die Kinder ab? Wer behält den Überblick, was eingekauft
werden muss? Wer besorgt das Geschenk für die (Schwieger-)Eltern? Wer backt
für den Kuchenbasar in der Schule? Wer hat Vorsorge- und Impftermine im
Blick? Gerade in heterosexuellen Beziehungen sind es immer noch
hauptsächlich Frauen, denen diese Aufgaben zufallen oder die diese
delegieren müssen.
## Die unsichtbare To-do-Liste
„Mental Load heißt, immer an alles denken zu müssen“, schreibt die
französische Bloggerin Emma in ihrem Comic „Faillait demander“ (auf
Deutsch: „Du hättest nur fragen müssen“) über die unsichtbare To-do-Liste
im Kopf. Um die Mehrfachbelastungen von Kindern, Job und Partnerschaft
drehen sich die Zeichnungen, die Emma 2017 auf ihrem Blog emmaclit
veröffentlichte und die damals über Facebook viral gingen. Unter dem Titel
„Ein anderer Blick“ ist nun erstmals eine Sammlung all ihrer Comics auf
deutsch erschienen.
„Du hättest nur fragen müssen“ bezieht sich auf die Planung alltäglicher
Aufgaben und die damit einhergehende Verantwortung. Das sei an sich schon
ein Vollzeitjob, schreibt Emma begleitend zu ihrem Comic. Für die alleinige
Ausführung bleibe da kaum mehr Zeit. „Als ich bei der Arbeit angefangen
habe, Projekte zu leiten, habe ich schnell aufgehört, an der Umsetzung
mitzuarbeiten“, schreibt sie.
Im Familienkontext aber falle nicht nur die Organisation meist auf Frauen
zurück, sondern auch ein Großteil der Aufgabenausführung. Männer wären
häufig nur Befehlsempfänger, wenn es um den Haushalt und familiäre
Verpflichtungen ginge. Um zu verdeutlichen, auf wem die Hauptverantwortung
liegt, ergänzt Emma ihre Zeichnungen mit wohlbekannten Aussagen wie die
titelgebende oder den Klassiker „du hast ja nichts gesagt“.
Die mentale Belastung, die dadurch entsteht, ist nicht immer greifbar und
noch schwieriger zu benennen. Dabei existiert der Begriff Mental Load wohl
bereits seit den siebziger Jahren – auch dort waren es Feminist*innen die
ihn prägten. Einzug in einen aktuellen gesellschaftlichen Diskurs erhielt
er aber erst durch die leicht zugänglichen Emma-Comics.
Mit ihren „hässlichen“ Skizzen – wie sie sie selbst in sozialen Medien
anpreist – schafft sie es auch, undurchsichtige Sachverhalte ganz leicht
aufzubereiten. Neben der auf patriarchalen Strukturen basierenden
Aufgabenteilung, widmet sich Emma auch weiteren aktuellen Problematiken wie
[2][Rassismus], [3][Polizeigewalt], [4][Gaslighting] oder dem stetig
objektivierenden [5][Male Gaze].
Ein Kapitel ihrer aktuellen Comic-Sammlung widmet sich ausschließlich
[6][der Klitoris]. Sie beschreibt Emma als „tote[n] Winkel aller
wissenschaftlichen Literatur“ und entführt deshalb den*die Betrachter*in in
„Mach den [7][Vulva-Check]“ auf eine Reise durch die kulturhistorische
Repräsentation des weiblichen Schwellkörpers. Gezeichnet sieht das Ganze
aus wie eine Mischung aus Lungenflügel, Mikropenis und einem traurigen
Fabelwesen, das darauf wartet, gestreichelt zu werden.
## Die Künstlerin ist eigentlich Informatikerin
Überhaupt scheint sich der Stil der Zeichnungen weniger an einem
Ästhetikanspruch zu orientieren, als viel mehr Wert darauf zu legen,
komplexe Inhalte möglichst einfach zu transportieren. Schwarze Umrandung,
einfarbige Flächen, wenige Details; beinah erinnern die Comics an das, was
man einst mit einer längst überholten Grafiksoftware malte.
Die vielen weiß bleibenden Flächen unterstützen diesen Eindruck, der
vielleicht sogar gewollt ist, immerhin arbeitet die Künstlerin
hauptberuflich als Informatikerin. Trotz ihrer Schnörkellosigkeit wirken
Emmas Figuren aber keineswegs lieblos – ihre Mimik verrät trotz der
bescheidenen Umsetzung problemlos den jeweiligen Gemütszustand.
Wer nichts gegen etwas Womensplaining hat – im Gegenteil sogar bereit ist,
ein wenig zu lernen (und lachen!) –, dem bietet „Ein anderer Blick“ eine
gute Grundlage für einen Perspektivwechsel.
31 Dec 2020
## LINKS
[1] /Kolumne-Berlin-viral/!5737427
[2] /Kulturwissenschaftlerin-ueber-Sklaverei/!5728681
[3] /Polizeigewalt-in-Frankreich/!5731885
[4] /Gaslighting-und-Rassismus/!5693141
[5] /Der-maennliche-Blick/!5731502
[6] /Kulturwissenschaftlerin-ueber-Klitoris/!5564998
[7] /Sex-Education-und-Goop-Lab/!5656694
## AUTOREN
Sophia Zessnik
## TAGS
Französischer Comic
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