# taz.de -- Binäre Genital-Erzählung: Zeit für Klitoris-Neid | |
> Die Komplexität der Klitoris wurde lange ignoriert, dabei gab es bereits | |
> vor 350 Jahren erste Abbildungen. Warum sich das dringend ändern muss. | |
Bild: Mehrdimensionales Genital im wahrsten Sinne des Wortes: 3-D-Modell einer … | |
Über Jahrzehnte wurde die Klitoris entdeckt, vergessen und wiederentdeckt – | |
eine ewige „Berg-und-Tal-Fahrt“, so die französische Autorin Julia Pietri | |
in ihrer im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen [1][„Kleinen | |
Anleitung zur weiblichen Masturbation“]. | |
In [2][vielen Medienberichten] und feministischen Blogs heißt es, die | |
Klitoris sei erst 1998 von der australischen Urologin Helen O’Connell | |
vollständig entdeckt worden. Tatsächlich hat O’Connell als Erste das Organ | |
fotografiert und einige Jahre später auch [3][MRT-Bilder gemacht]. | |
Dass die Klitoris existiert und viel größer ist als der äußere sichtbare | |
Teil – die Klitoriseichel – ist allerdings schon viel länger bekannt. | |
Die erste bekannte Abbildung einer Klitoris stammt aus dem Jahr 1672. Der | |
holländische Anatom Reinier de Graaf [4][zeichnet sie] in seinem Werk über | |
„Organe von Frauen, die der Zeugung dienen“. Über 100 Jahre früher wurde | |
das vollständige Organ das erste Mal in einem [5][französischen | |
Anatomiebuch erwähnt]. | |
## Kleiner Hügel war schon im antiken Griechenland bekannt | |
Aber die Geschichte der Entdeckung der Klitoris geht viel weiter zurück: | |
Schon im antiken Griechenland gab es ein Verständnis dafür, dass die | |
Klitoris sehr empfindlich und wichtig für guten Sex ist. Das Wort | |
„Klitoris“ kommt vom griechischen „kleitorís“ und bedeutet etwa „kle… | |
Hügel“. Unklar ist, ob die wahre Größe der Klitoris damals schon bekannt | |
war. | |
Wie in der Antike gab es dann auch wieder in der Renaissance, also im 15. | |
und 16. Jahrhundert, großes Interesse an Masturbation und Klitoris. „Damals | |
dachte man noch, dass Frauen nur schwanger werden, wenn sie einen Orgasmus | |
haben“, sagt die Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin [6][Louisa | |
Lorenz der taz]. | |
## Klitoris wurde für „überflüssig“ erklärt | |
Deshalb sei Lust einer der wichtigsten Aspekte der Ehe gewesen. „Es gibt | |
super viele historische Eheratgeber, die die Klitoris beschreiben und genau | |
erklären, wie man sie am besten stimuliert“, so Lorenz. In ihrem Buch | |
„Clit“ befasst sie sich mit der Geschichte der Klitoris. | |
Erst ab dem 19. Jahrhundert wird es düster für das weibliche Begehren. Es | |
ist die Zeit der Prüderie. Da erlebte die Klitoris viel Abwertung, so | |
Lorenz. „Da ist diese Vorstellung von Sexualität und Geschlecht entstanden, | |
wonach Frauen grundsätzlich weniger Lust auf Sex hätten als Männer, dass | |
Sex oder sexuelle Befriedigung weniger wichtig für sie wäre“, sagt sie. | |
Außerdem sei Selbstbefriedigung zur Krankheit erklärt worden. | |
Den großen Meilenstein in der Klitorisforschung setzte der deutsche Anatom | |
Georg Ludwig Kobelt dabei genau in dieser Zeit. Trotz Tabus interessierte | |
er sich für die menschlichen Lustorgane. 1844 fertigte er eine äußerst | |
genaue und [7][detaillierte Abbildung] des Klitoriskomplexes an – mit | |
Schwellkörper, Klitorisschenkel, Klitorisschaft und Nervensystem. „An | |
diesen historischen Abbildungen der Klitoris wird sichtbar, dass das Wissen | |
über die innere Anatomie der Klitoris nicht neu ist“, sagt Lorenz. | |
Kobelt beschreibt, wie sich das weibliche Lustorgan bei Erregung verhält | |
und sich mit Blut füllt. Er will damit beweisen, dass die weiblichen | |
Geschlechtsorgane den männlichen homolog sind. | |
## Menschen sind sich anatomisch viel ähnlicher | |
Heute weiß man, dass sie aus demselben Gewebe entstehen und sich im Laufe | |
der Schwangerschaft formen. Lustigerweise kritisiert Kobelt selbst, dass | |
der Klitoris nicht die gleiche Beachtung wie dem Penis geschenkt und in | |
Lehrbüchern nicht dargestellt werde. Doch seine Untersuchungen wurden | |
weitestgehend ignoriert. | |
„Die Klitoris ist der Beweis dafür, dass sich Menschen einfach | |
geschlechtsunabhängig anatomisch sehr viel ähnlicher sind, als unser | |
gesellschaftliches Konzept von Geschlecht es zulässt“, sagt Louisa Lorenz. | |
Trotz dieser Ähnlichkeit haben wir immer noch ein stark binäres System, das | |
darauf aufbaut, dass Männer und Frauen als etwas Gegensätzliches verstanden | |
werden.“ Die korrekte Darstellung der Anatomie der Klitoris würde die | |
gesellschaftliche Geschlechterordnung durcheinanderbringen. | |
Im Jahr 1875 entdeckte ein belgischer Biologe, wie menschliche Eizellen | |
befruchtet werden: Der Beweis, dass die Klitoris nicht zur Fortpflanzung | |
dient. Sie wird für [8][überflüssig erklärt.] | |
## Freud, der alte Sexist | |
Lange hieß es auch, nur Hermaphroditen hätten eine Klitoris, also | |
intergeschlechtliche Frauen. Sie galten als Verführerinnen, die Sex mit | |
Frauen haben. Helen O’Connell stellte fest, die Klitoris habe als | |
vermeintliche Ursache für viele Krankheiten gegolten, etwa Hysterie. | |
Dagegen war dann Klitoridektomie die Lösung, also die Entfernung der | |
äußeren Klitoris. | |
Für viele Genderforscherinnen trägt auch der Psychoanalytiker Sigmund Freud | |
Anfang des 20. Jahrhunderts zur Abwertung der Klitoris bei. Freud rief den | |
Mythos des klitoralen und des vaginalen Orgasmus ins Leben, wonach | |
klitorale Orgasmen „unreif“ seien. | |
Damit verlagert er weibliche Lust auf die Vagina, die jedoch längst nicht | |
so sensibel wie die Klitoris ist. Obwohl es für seine Ansichten keine | |
empirischen Beweise gibt, halten sich Freuds Mythen hartnäckig. Penetration | |
und Sex werden immer noch gleichgesetzt. | |
## Nach taz-Recherche passten viele Verlage Abbildung an | |
Jedoch reicht für viele Frauen vaginale Stimulation nicht aus, um zu einem | |
Orgasmus zu kommen. Wie die Gesellschaft mit der Klitoris umgehe, daran | |
könne man unglaublich viel ablesen, findet Lorenz. „Das erzählt uns sehr | |
viel über Geschlechterrollen und Geschlechtergerechtigkeit, aber auch über | |
das gesellschaftliche Verständnis von Sex und Sexualität.“ | |
In Deutschland bilden Schulbuchverlage erst seit dem vergangenen Jahr die | |
Klitoris in ihren Lehrbüchern vollständig ab. [9][Nach einer taz-Recherche] | |
im Jahr 2020 passten die Verlage Klett, Westermann und Cornelsen ihre | |
Abbildungen an. | |
Zuvor zeigten Abbildungen nur die Klitoriseichel – oder auch gar nichts. | |
Deshalb wissen heute viele Mädchen und [10][junge Frauen nicht], dass sie | |
eine Klitoris haben – und wozu sie dient. | |
7 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kunstmann.de/buch/julia_pietri-mit_fingerspitzengefuehl-9783956… | |
[2] https://www.spiegel.de/wissenschaft/empfindsame-zwiebel-a-ba7811f0-0002-000… | |
[3] https://www.academia.edu/22796305/Anatomy_of_the_Clitoris | |
[4] https://archive.org/details/BIUSante_34292/page/n205/mode/2up | |
[5] https://www.academia.edu/15260100/_The_Rediscovery_of_the_Clitoris_French_M… | |
[6] /Kulturwissenschaftlerin-ueber-Klitoris/!5564998 | |
[7] https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kobelt1844 | |
[8] https://www.researchgate.net/publication/257328445_Hohepunkte_aus_der_Gesch… | |
[9] /Biolehrerin-ueber-veraltete-Schulbuecher/!5830756 | |
[10] /Studie-zu-weiblichen-Orgasmen/!5384318 | |
## AUTOREN | |
Julika Kott | |
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