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# taz.de -- Sexualkundeunterricht in Serbien: Abtreibung statt Unterricht
> Serbien gilt als Vorreiter bei reproduktiven Rechten. Für Aufklärung
> sieht er sich nicht zuständig. Eine Organisation versucht, Lücken an
> Schulen zu schließen.
Bild: Sexualkunde hatte schon zuvor keinen festen Platz in der Schule
Belgrad taz | Die provisorisch aufgestellten Sitzreihen auf dem
Dorćol-Platz im Zentrum der serbischen Hauptstadt Belgrad sind an diesem
Abend voll besetzt, viele müssen stehen. Auf der Bühne springen Mädchen und
junge Frauen in Bademänteln mit Herzchenmuster herum, wechseln ständig die
Rollen. Im Rampenlicht erzählen sie von der ersten großen Liebe und vom
ersten Sex, sie flexen den Bizeps, um sich zu behaupten, sie kuschen vor
der streng-orthodoxen Lehrerin, sie tanzen ihre Menstruation und zeigen am
Ende allen den Mittelfinger. Kurzum: Sie zeigen, was es heißt, als Mädchen
in Serbien aufzuwachsen.
Das Theaterprojekt der Organisation E8 ist ein seltener Rahmen für Fragen
über Pubertät oder Sex. An Serbiens Schulen können die Jugendlichen sie
nicht stellen, denn es gibt keinen Sexualkundeunterricht. Im Oktober hat
die serbische Regierung auch das letzte Überbleibsel davon getilgt: Auf
Druck der serbisch-orthodoxen Kirche und rechter Parteien wurde jener
Absatz aus Biologiebüchern für 8. Klassen gestrichen, der sich mit
sexueller Gesundheit und Geschlechtergerechtigkeit beschäftigte. Der
offizielle Grund: Diese Inhalte würden „Genderideologie“ verbreiten.
Schon zuvor hatte Sexualkunde an serbischen Schulen keinen festen Platz.
Und so wissen viele Serb:innen auch im Erwachsenenalter nur wenig über
Sex und Verhütung, erzählen Jelena Ivković und Tanja Ignjatović vom
Autonomous Women’s Center in Belgrad. „Nur 20 Prozent der Frauen benutzen
heute [1][moderne Verhütungsmittel] wie Kondome oder die Pille“, sagt
Ivković. Vor allem Männer würden sich oft weigern, Kondome zu nutzen. „Es
kursieren viele Mythen, etwa dass Frauen heimlich mit Nadeln Löcher
reinstechen.“ Die meisten Sexualpartner:innen würden auf Coitus
interruptus vertrauen – mit Abtreibung als eine Art Back-up.
Im europaweiten Vergleich gilt Serbien als Land mit einer der höchsten
Abtreibungsquoten. Laut dem Institut für öffentliche Gesundheit wurden 2021
insgesamt 10.880 Abtreibungen durchgeführt bei 59.854 Geburten. Doch
zuverlässig sind diese Zahlen nicht, denn nur staatliche Kliniken müssen
die Eingriffe melden. Laut Schätzungen soll die tatsächliche Zahl doppelt
so hoch sein, einige gehen sogar von bis zu 150.000
Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr aus.
## Pionier der reproduktiven Rechte
Abtreibungen sind in Serbien ab einem Alter von 16 Jahren bis zur 10.
Schwangerschaftswoche legal. Danach braucht es ein Gutachten von einem
Gremium aus mehreren Ärzt:innen. Dabei gilt der Nachfolgestaat des
ehemaligen Jugoslawiens als Pionier auf dem Feld reproduktiver Rechte.
Schon ab 1952 erlaubte die jugoslawische Verfassung
Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen. Das Recht, bis zur
10. Woche abzutreiben, geht auf das Jahr 1969 zurück.
Doch die Legalisierung zu dieser Zeit brachte auch ihre Tücken mit sich,
die bis heute nachwirken. Verhütungsmittel waren damals noch nicht
flächendeckend zugänglich. Abtreibungen wurden zu einer Art der Verhütung –
bis heute, sagt Jelena. Dass es keinerlei sexuelle Aufklärung an Schulen
gibt, macht sie für das Problem mitverantwortlich.
Dabei gab es von 2013 bis 2016 ein vielversprechendes Projekt an Schulen in
der Region Vojvodina im Norden Serbiens. Eine Umfrage unter Schüler:innen,
die meisten 14 bis 15 Jahre alt, brachte schockierende Ergebnisse zutage:
„Sie wissen nicht, dass ein Kondom sowohl vor einer Schwangerschaft als
auch vor Infektionen schützt, sie wissen nicht, was Geschlechtskrankheiten
sind oder wie der Menstruationszyklus abläuft“, zitiert Balkan Insight das
Vojvodina Institut für öffentliche Gesundheit. Die meisten hätten ihr
Wissen aus dem Internet oder von Gleichaltrigen.
## Sexualkunde in ganz Serbien einführen
Daraufhin konnten Schüler:innen von 66 Oberschulen das Fach Sexualkunde
wählen. Ziel der Projekts war es, das Fach in ganz Serbien einzuführen. Man
habe viele positive Effekte festgestellt, sagt Ivković. „Trotzdem wurde das
Projekt auf Druck von Konservativen, Rechten [2][und der Kirche
eingestellt].“ Die Argumente lauteten ähnlich, wie sie beispielsweise auch
in Victor Orbáns Ungarn zu hören waren: Sexualkunde würde die Kinder
sexualisieren.
Dabei stellt Sexualerziehung ein Menschenrecht dar, festgelegt in
zahlreichen internationalen Abkommen. So forderte die Internationale
Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) schon 1994 die
Regierungen ausdrücklich auf, für Aufklärung über Sexualität zu sorgen. Sie
sollte sowohl in Schulen als auch auf Gemeindeebene stattfinden und so früh
wie möglich beginnen. „Stattdessen kopieren wir gerade fleißig Orbáns
Lehrbuch“, sagt Ignjatović vom Autonomous Women’s Center.
Ganz in diesem Sinne würde gerade in den letzten Monaten der Druck auf das
Recht auf Schwangerschaftsabbruch steigen, sagt Ignjatović. Rechte Parteien
und Organisationen, von denen einige Geld von entsprechenden Gruppen aus
den USA und Russland erhalten würden, sowie die serbisch-orthodoxe Kirche
würden das Thema vermehrt in Talkshows und auf Social Media bringen.
Abtreibungsstatistiken würden aufgebauscht und damit werde Stimmung
gemacht. „Offiziell gibt sich Vučić pro choice“, sagt Ignjatović. Doch d…
serbische Präsident stehe unter Druck von diesen Stimmen, die noch rechter
sind als seine Regierungspartei SNS.
## Frauen sollen mehr Kinder gebären
Zudem will die Regierung serbische [3][Frauen dazu bringen, mehr Kinder zu
gebären]. Seit Jahrzehnten leidet das Land, so wie alle Westbalkanstaaten,
unter massivem Wegzug vor allem junger Menschen. Bis 2050 soll die
Bevölkerung nochmal um 20 Prozent schrumpfen. Rechte und religiöse Kreise
machen auch die vielen Abtreibungen dafür verantwortlich. Sie warnen: Das
„serbische Volk“ werde nach und nach wahlweise durch Migrant:innen aus
Asien oder Albaner:innen aus dem Kosovo verdrängt.
„Die aktuelle Situation macht mir große Sorgen“, sagt Minja Bogavac,
Kreativdirektorin der Organisation E8, die mit Jugendlichen arbeitet. Sie
sitzt in ihrem Büro, ein paar Straßenzüge vom Dorćol-Platz entfernt, wo in
wenigen Tagen das von ihr konzipierte Theaterstück uraufgeführt wird. „Wir
haben jetzt eine Kirche, die Entscheidungen über Wissenschaft und Erziehung
fällt“, sagt sie.
Die Auswirkungen davon merkt sie in ihrer täglichen Arbeit. „Auf dem Feld
der reproduktiven Gesundheit hat sich die Situation dramatisch
verschlechtert“, sagt Bogavac. Als sie vor zehn Jahren mit Workshops zu
Geschlechtergerechtigkeit, Sexualität und Verhütung begann, sei die
Unterstützung noch groß gewesen. „Die Gesellschaft dachte, es sei wichtig,
dass junge Leute über diese Dinge Bescheid wissen“, sagt sie. „Aber heute
beschuldigen uns Medien, an den Schulen Genderideologie zu verbreiten.
Eltern machen regelmäßig Aufstände gegen unsere Workshops. Jetzt schrecken
auch die Schulen öfter zurück.“
## Die meisten Kinder können nicht mit Eltern reden
Den Grund sieht sie in einer stetigen „Re-Traditionalisierung“ der
serbischen Gesellschaft. „Ständig wird uns eine religiöse Ideologie
propagiert, die auch mit der prorussischen Stimmung in der Gesellschaft zu
tun hat“, sagt Bogavac. Im ständigen Herumschlingern zwischen Ost und West,
zwischen Russland und der EU, fehlt eine klare politische Linie. Und da
werden die Themen Gender und Sexualität zu umkämpften Feldern. „Wenn diese
Dinge tabu sind, wird es gefährlich“, sagt Bogavac.
Auch mit ihren Eltern können die meisten Jugendlichen nicht über Sex reden.
„Viele Eltern bevorzugen es, wenn jemand anderes diesen Job übernimmt.“
Weil das aber nicht passiert, bleibt den Jugendlichen nur das Internet – wo
sie meist bei Pornos landen würden, sagt Bogavac und berichtet von
Gewaltfantasien gegen Frauen, die sie bei ihrer Arbeit mit Schülern
beobachtet.
Damit die Jugendlichen im Internet auch verlässliche und altersgerechte
Informationen rund um Sex erhalten, hat Bogavac' Organisation das
Onlineprojekt „Prazi se(x)“ geschaffen. „Wir sagen den Jugendlichen immer:
Das ist eine Website über Sex, die du nicht wegklicken musst, wenn deine
Eltern das Zimmer betreten“, sagt sie. Hier wird in lockerem Ton
Heterosexualität genauso erklärt wie Homo- oder Bisexualität, warum Coitus
interruptus nicht sicher ist, wie man damit umgeht, wenn sich der Körper in
der Pubertät verändert, und wie man auf Ausreden reagiert, wenn der Typ
kein Kondom benutzen will („Sie machen sie nicht in meiner Größe!“).
„So viele Organisationen machen hierzulande einen tollen Job“, sagt
Bogavac. Aus ihrer Sicht wäre es aber viel besser, wenn es ein reguläres
Fach oder zumindest den Biologieunterricht gäbe, um diese wichtigen Themen
im Unterricht zu behandeln. Die Organisationen allein könnten nicht alle
Schüler und Schülerinnen erreichen. Vor allem auf dem Land gebe es wenige
solcher Angebote. Mit Blick auf die Entwicklung der serbischen Gesellschaft
sagt Bogavac: „Ich muss bei unserer Arbeit oft an ‚Alice im Wunderland‘
denken: Wir laufen so schnell wir können, nur um an derselben Stelle zu
bleiben.“
14 Jun 2023
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## AUTOREN
Jana Lapper
## TAGS
Serbien
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