# taz.de -- Dystopischer Comic „Little Bird“: Wie wabernde Puddings | |
> Ein von Christfaschisten regiertes Nordamerika: In seinem Comicdebüt | |
> erschafft Darcy Van Poelgeest eine bildgewaltige | |
> Science-Fiction-Dystopie. | |
Bild: Little Bird kämpft gegen die christfaschistische Regierung von New Vatic… | |
Selten war eine [1][dystopische Erzählung] so bildgewaltig wie Darcy Van | |
Poelgeests „Little Bird“ mit seiner gleichnamigen Heldin. Little Bird | |
streift durch ein verheertes Land, das einmal Kanada war. Der New Vatican | |
mit seinem christfaschistischen Anführer hat die Kontrolle über ganz | |
Nordamerika übernommen und ist nun die Brutkammer des neuen | |
Christenmenschen in den Vereinten Nationen von Amerika. | |
Der finstere, kahlköpfige Bischof zettelt Blutbäder an, um die letzten | |
Widerstandsnester auszumerzen. Little Bird wird zu seiner gefährlichsten | |
Widersacherin. Weil sie sich fest an die Hoffnung klammert. | |
Filmemacher Darcy Van Poelgeest greift in seinem Comicdebüt einen Plot auf, | |
der derzeit Konjunktur hat. Nicht zufällig fühlt man sich an [2][Stoffe wie | |
Handmaid’s Tale] erinnert. Umgesetzt im Medium Comic, in dieser | |
einzigartigen Bildwelt von Ian Bertram, coloriert von Matt Hollingsworth, | |
offenbart sich in „Little Bird“ die Verschmelzung von klassischer Comic- | |
und Filmkunst. | |
Die szenischen Schnitte und die dramaturgischen Entscheidungen stammen | |
direkt aus der Welt des filmischen Erzählens. Little Birds Abgleiten in | |
schamanische Visionen und traumhafte Bilder ermöglicht Zeit- und | |
Ortssprünge, die den Hintergrund der Geschichte liefern. | |
## Aggressives Rot und eisiges Blau | |
Die Erzählweise mystifiziert sowohl die Motive des finsteren Bischofs als | |
auch Little Birds Herkunft. Stück für Stück muss der Leser im Laufe des | |
Comics die Ereignisse, die zu Little Birds Freiheitskampf führen, | |
zusammenpuzzeln. Die eindringliche Bildsprache nimmt dabei gefangen: Ian | |
Bertrams Kunst manifestiert sich sowohl in den ausdrucksstarken, mit | |
aggressiven Tuschestrichen dynamisierten Einzelszenen wie auch im | |
Seitenaufbau. | |
Kolorist Matt Hollingsworth taucht die Szenen abwechselnd in aggressives | |
Rot und eisiges Blau. Die versehrten, ausgeweideten toten Leiber tauchen | |
ganze Szenen in Magenta, gefolgt von Räumen, die in kühlem Grau und | |
Grünblau die unmenschliche Grausamkeit des New Vatican fühlbar machen. Es | |
ist ein beinahe verstörendes, ästhetisch zugleich höchst befriedigendes | |
Erlebnis, durch diesen Comic zu blättern. | |
Mutantenleiber zerfließen unter ihren Talaren in Gewebe, das wie Gedärm | |
hervorquillt. Zerschmetterte Körper scheinen keine Knochen zu besitzen und | |
wirken wie aus Fleischerabfällen geformt. Die Geistlichen des Bischofs sind | |
allesamt fett, zergehen regelrecht in ihrer Leibesfülle, wie wabernde | |
Puddings, während der Bischof, kantig und knochendürr, an ein wandelndes | |
Skelett erinnert. | |
Little Bird mit ihrer Steampunk-Pilotenbrille sieht tatsächlich aus wie ein | |
Vogel, wie eine weit- und hellsichtige Eule. Visuell ist es allemal | |
reizvoll, die schamanische Erscheinung Little Birds und ihrer Mutter in ein | |
dystopisches Sci-Fi-Szenario überführt zu sehen. | |
Elliptische Verknappungen | |
[3][Science-Fiction] ist der Comic insofern, weil die Möglichkeiten der | |
Technik bzw. Medizin, die menschliche Gesellschaft nachhaltig zu verändern, | |
die Basis dieser Comicerzählung bilden. Im New Vatican finden nämlich | |
Genexperimente statt, die das ewige Leben ermöglichen sollen. | |
Nicht mehr im gottgefälligen Leben im Hier und Jetzt wird die himmlische | |
Ewigkeit antizipiert. Der offensichtlich bis auf die Knochen unmoralische | |
Anführer des New Vatican strebt nach einem eigenmächtigen Sieg über den | |
Tod, will zuletzt selbst Gott werden. | |
Der Comic greift hierfür, und das ist der einzige Einwand, auf eine allzu | |
bekannte und an sich problematische Trope zurück: Eine mädchenhafte, | |
indigene Unschuld lehnt sich gegen das männlich konnotierte und | |
technifizierte Böse auf. Hier ist das [4][Immergute, Naturverbundene], dort | |
ist die potenziell böse Kulmination einer Fortschritts- und | |
Technikgläubigkeit. | |
Die Faszination dieses Comics, das muss man klar sagen, besteht nicht | |
darin, was erzählt wird, sondern wie erzählt wird. Allerdings sind die | |
elliptischen Verknappungen des Erzählens womöglich nur deswegen möglich, | |
weil die Rahmenhandlung auf einer etablierten Trope und einem stabilen | |
Narrativ basiert. Die unglaubliche Bildgewalt von „Little Bird“ hebt diese | |
Schwäche allemal auf. | |
8 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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