# taz.de -- Graphic Novel „Tunnel“ von Rutu Modan: Jäger(in) des verlorene… | |
> Tim und Struppi auf Israelisch. „Tunnel“ ist eine spannende | |
> Abenteuergeschichte. Und raffinierte Satire auf den | |
> palästinensisch-israelischen Konflikt. | |
Bild: Bei der illegalen Grabung von israelischen Soldaten erwischt. Szene aus d… | |
Unter der Erde, da treffen sie sich alle: Archäologen, Kunstfreaks, | |
palästinensische Schmuggler, jüdische Fundamentalisten, islamistische | |
Extremisten – Männer, Frauen, heimlich Homosexuelle und ein | |
smartphonesüchtiges Kind. Die israelische Comicautorin Rutu Modan ist | |
international längst ein Star. Sie zeichnet im Stil der Ligne Claire, hat | |
aber ansonsten Hergés [1][Tim-und-Struppi-Universum] gründlich reloaded und | |
modernisiert. | |
In ihrem neuen Comicroman „Tunnel“ ist die Hauptfigur Nili | |
selbstverständlich weiblich. Ihr ständiger Begleiter ist kein Hund Struppi, | |
sondern der siebenjährige Sohn („der Doktor“). Und Nili ist auf der Jagd | |
nach der sagenumwobenen Bundeslade. Denn diese soll wirklich existieren. | |
Bis heute suchen und graben Archäologen im Heiligen Land tatsächlich nach | |
ihr. Die vergoldete Holztruhe soll laut biblischer Überlieferung die | |
ursprünglichen Steintafeln mit den Zehn Geboten enthalten, die den Bund des | |
Volkes Israel mit Gott symbolisieren. Seit der Eroberung und der Plünderung | |
Jerusalems und seiner Tempelanlagen durch die Babylonier (587/86 vor | |
Christus) blieb sie verschwunden. | |
Ob sie jemals existierte, ist unter Forschern allerdings umstritten. Sollte | |
es sie oder Überreste von ihr heute irgendwo geben, so vermutet man diese | |
in antiken Tunnelanlagen auf heute israelischem, palästinensischem oder | |
jordanischem Gebiet. | |
Der große nationale und religiöse Mythos scheint wie geschaffen, um ihn | |
einer spannenden Handlung in der Jetztzeit als Motiv zu hinterlegen. Steven | |
Spielberg und George Lucas taten dies schon 1981; sie heimsten für ihre | |
erste Indiana-Jones-Verfilmung gleich vier Oscars ein. Anlässlich des | |
Erscheinens der Graphic Novel „Tunnel“ sagte Autorin Modan jetzt der | |
israelischen Zeitung Haaretz, die Bundeslade stelle so etwas wie „Gottes | |
Walkie-Talkie“ dar. Sie ist der ganz heiße Draht nach oben, wie ihr jemand | |
bei der Recherche gesagt habe, der selber nicht religiös sei. | |
Motke stoppen! | |
„Archäologie ist ein Thema,“ sagt Modan, „das alles bietet: Geschichte, | |
Verbrechen, Wahnsinnige, Fälscher, Räuber, Gelehrte und unendlich viel | |
Politik“. Eine hervorragende Grundlage, um in einer unterhaltsamen | |
Erzählung verschiedene Aspekte der israelisch-palästinensischen Gegenwart | |
zu kreuzen und zu erörtern. Und so lässt Modan in ihrer „Tunnel“-Geschich… | |
Nili, die Tochter des berühmten israelischen Archäologen Broshi, akademisch | |
unautorisiert in dessen wissenschaftliche Fußstapfen treten. | |
Als Kind war Nili bereits zugegen, wenn ihr Vater in alten Stollen nach der | |
Bundeslade grub. Doch Broshi senior ist mittlerweile an Demenz erkrankt. | |
Und Nilis etwas naiver, jüngerer Bruder arbeitet zudem für den | |
wissenschaftlichen Hauptkonkurrenten Broshi seniors, einen gewissen | |
Professor Motke. Er sucht dessen Anerkennung, die er vom leiblichen Vater | |
wohl nie bekam. | |
Motke, selber ein gekränkter Mann, stand lange im Schatten Broshi seniors. | |
Er war dessen graue Büromaus, die den Archiv- und Textkram erledigte, | |
während Broshi heroisch im Feld buddelte. Nun offenbart Motke völlig | |
skrupellose Züge, die seine akademische Umgebung verkennt; er versucht sich | |
das gesamte Erbe Broshis heimtückisch anzueignen und wird im Laufe der | |
Handlung auch immer krimineller, was den fernöstlichen Handel mit Antiken | |
betrifft. | |
Doch Handel bietet auch immer die Chance zum Wandel. Das hat Nili erkannt, | |
die als Kind spielerisch ihr Wissen in (der notgedrungenen) Begleitung des | |
Vaters erlangte. Sie will die Pläne Motkes durchkreuzen. Dafür benötigt sie | |
die Hilfe eines wohlhabenden Antikensammlers (ein verträumter Herr Abuloff | |
mit undurchsichtigen Quellen im Mittleren Osten), der Nilis neuerliche | |
Grabung nach der Bundeslade absichert. Heimlich, versteht sich, wegen | |
Konkurrent Motke, der überragenden Bedeutung des gesuchten Objekts und weil | |
die Grabung illegal im Grenzgebiet stattfinden soll, von Israel aus unter | |
der Grenzmauer hindurch in das palästinensisch kontrollierte | |
Westjordanland. | |
Modans Nili ist eigenwillig, schlau, uneigennützig, praktisch, erfinderisch | |
und redlich. Von daher kann sie – schöne romatische Idee – völlig | |
divergierende Interessengruppen für sich gewinnen. Sie schafft es, | |
orthodoxe jüdische Expansionisten für ihre Grabung einzuspannen, und hat | |
auch einen Draht zu den palästinensischen Tunnelbauern, die von der anderen | |
Seite her unterwegs sind und ihr Geschäft suchen. | |
Auch die israelische Armee wird von der Harmlosigkeit des Archäologencamps | |
überzeugt und darf Wache schieben. Wären da nicht der ewige Motke auf der | |
einen und der nervende IS auf der anderen Seite, die Geschichte könnte | |
friedlich verlaufen. Tut sie aber nicht bzw. anders als erwartet, da der | |
jüngste Teilnehmer der Expedition und ständige Begleiter Nilis (der | |
„Doktor“) unverhofft seine große Bewährungsprobe erhält und besteht. | |
Sechs Jahre hat Modan an der Umsetzung der Geschichte mit den 270 | |
gezeichneten Seiten für „Tunnel“ laut eigenen Angaben gearbeitet. Die 1966 | |
in Tel Aviv geborene Autorin lehrt an der Jerusalemer Bezalel-Akademie für | |
Kunst und Design. Für ihre teilweise autobiografisch motivierten | |
[2][Graphic Novels „Blutspuren“ und „Das Erbe“] wurde sie international | |
ausgezeichnet. | |
## Individuelle Geschichte | |
Modan ist bekannt dafür, dass sie sich viel Zeit für Entwicklung und | |
Umsetzung ihrer Geschichten lässt. Sie handeln dabei durchaus von „harten“ | |
Stoffen wie der Schoah („Das Erbe“), dem Konflikt mit den Palästinensern | |
(„Blutspuren“). Aber aus einer indirekten Perspektive, die Geschichte eher | |
über Individuen und deren Alltags- und Beziehungsleben skizziert. | |
Auf Deutsch liegt auch ein fantastisches [3][Kinderbuch von ihr vor. | |
„Ketchup für die Königin“], 2013 im Kunstmann Verlag erschienen. Darin | |
lösen sich klassische Vater-Kind-Erziehungsprobleme sehr entspannt auf. | |
Nach Arbeitsweise und Vorbildern befragt, nennt die israelische Autorin | |
neben Hergé oder Art Spiegelman auch Winsor McCay. Der war ein berühmter | |
Comicautor („Little Nemo in Slumberland“) und ein Pionier des frühen | |
amerikanischen Zeichentrickfilms. Auch Modan nutzt für ihre Zeichen- und | |
Erzähltechnik verschiedene Darstellungskünste. | |
## Mit Schauspielern erprobt | |
Nachdem sie das Szenario einer Geschichte entworfen hat, spielt sie es mit | |
Schauspielern zunächst durch. Sie lässt sich von Darsteller:innen, deren | |
Improvisationen und Körpersprachen inspirieren und zeichnet auch nach den | |
so gewonnenen Videosequenzen und Fotos. Ebenso fotografiert sie mögliche | |
Handlungsschauplätze. | |
Das Ergebnis ist faszinierend. Modan schafft es trotz der Komplexität ihrer | |
Geschichten und aller Liebe zu Details, unterhaltsam und lebendig zu | |
erzählen. Mit klarem Strich und wenigen Mitteln kreiert sie unglaublich | |
schlüssig wirkende Figuren. Ein produktiver Mix aus dokumentarischer | |
Recherche und künstlerisch erweiterten Prinzip. | |
In den geheimen Tunneln unter den Grenzanlagen lässt Modan die | |
unterschiedlichen Parteien aufeinander treffen. Alles Tragische hat auch | |
eine komische Seite. Wäre die Welt ein wenig mehr nach Modans Wille und | |
Vorstellung geprägt, sie wäre eine andere – wenn auch nicht gänzlich. | |
15 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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