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# taz.de -- Graphic Novel „Das Erbe“: Rückkehr in die Friedhofsstadt
> Eine eigenwillige Jüdin kehrt nach Warschau zurück um ihr Geburtshaus
> zurückzubekommen. Der neue Comic erzählt spielerisch eine
> Holocaustgeschichte.
Bild: Der Holocaust ist immer anwesend: Cover von „Das Erbe“.
Ob Regina Segal schon immer einen Hang zur Renitenz gehabt haben mag – wir
werden es nicht erfahren. Jetzt jedenfalls blockiert die alte Dame laut
schimpfend die Flughafensicherheitsschleuse. Nachdem der Wachmann ihr die
Mitnahme der just erworbenen Wasserflasche verwehrt, besteht Regina darauf,
sie abfertigungsverzögernd vor Ort zu leeren, allen Überredungsversuchen
ihrer mitreisenden Enkelin Mika und den Protesten und höhnischen Kommentare
der wartenden Passagiere hinter ihr zum Trotz.
Regina, das erzählt uns die israelische Comic-Zeichnerin Rutu Modan auf
amüsant zu schauende Weise gleich zu Beginn ihrer Graphic Novel „Das Erbe“,
handelt nur nach ihren eigenen Plänen. So hat die israelische Jüdin ihrer
Umgebung offenbar auch den wahren Grund ihrer Reise nach Warschau
verschwiegen. Die vermeintlichen Rückübertragungsansprüche ihres
Geburtshauses, das Reginas polnisch-jüdischen Eltern einst gehörte, werden
sich jedenfalls als falsch erweisen.
Nicht nur Regina, auch der schmeißfliegenhafte Sohn einer Freundin, dem
Mika und Regina wohl doch nicht so zufällig im Flugzeug begegnen, spielt
mit verdeckten Karten. Dass Mika, kaum in Polen gelandet, einen Flirt mit
Tomasz, dem polnischen Comic-Zeichner und Führer durchs jüdische Warschau
beginnt, sorgt für weitere Verirrungen abseits ursprünglicher Anliegen und
Gewissheiten.
Es ist die vom Holocaust geprägte polnisch-jüdisch-israelische Geschichte,
die Rutu Modan in „Das Erbe“ auf fast schon spielerische Weise arrangiert.
Da gibt es die ebenfalls im Flugzeug mitreisende aufgedreht-lärmende
Schülergruppe, die sich auf Treblinka und Majdanek, inklusive Gaskammern,
freut, wobei Letzteres Auschwitz „in die Tasche steckt“ und „viel
grausiger“ sei.
## Schwierige Widersprüche
Neben Mika sitzt deren Lehrer, der auf eine lebendige Geschichtsstunde mit
einer Überlebenden hofft, aber enttäuscht feststellen muss, dass Regina
noch vor dem Holocaust nach Israel gekommen ist. Die mürrische Seniorin
stellt kategorisch klar: „Warschau interessiert mich nicht. Ein einziger
großer Friedhof.“
Aber Rutu Modan involviert auch diejenigen jüngeren Polen in ihre
Erzählung, die als Fremdenführer, koschere Köche oder Hobbyhistoriker ihren
Lebensunterhalt mit den immer zahlreicher gewordenen jüdischen Touristen
aus aller Welt verdienen. So ist der Holocaust zwar notwendig anwesend,
aber er wird nicht bebildert, sondern wird allein durch das Verhalten der
Figuren repräsentiert.
Die unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen der Protagonisten
veranschaulichen dabei auf erzählerisch spannende Weise, wie verschiedene
Deutungsansprüche und Lebensentwürfe notwendig miteinander konkurrieren. Es
gilt, Widersprüchliches auszuhalten. Wie schwierig das für viele Menschen
offensichtlich ist, hat eine muslimische Studentin der Uni Duisburg/Essen
vor Kurzem bewiesen, als sie ausgerechnet eine in der Bibliothek gezeigte
Collage mit friedensbejahenden Panels [1][aus Rutu Modans Comic
„Blutspuren“ zerstörte].
## Klar wie „Tim und Struppi“
Den Ambivalenzen des Daseins und den überraschenden Wendungen ihrer
Geschichte begegnet Rutu Modan dagegen auf der zeichnerischen Ebene mit
einer an Hergé („Tim und Struppi“) geschulten Klarheit. Die zurückgenomme…
Farbintensität der flächigen Hintergründe lässt die Gesten und Mimiken der
Protagonisten, ihre Beziehungen zueinander umso stärker hervortreten.
Tatsächlich hat Rutu Modan viele Szenen zuvor spielen lassen, wie sie im
„Abspann“ erläutert. Alte Comic-Weggefährten aus den Tagen erster
israelischer MAD-Hefte und der Gruppe Actus Tragicus wie Batia Kolton, aber
auch jüngere Zeichner wie Asaf Hanuka, haben so an der Entstehung von „Das
Erbe“ teilgehabt.
Die Renitenz dieser Zeichner und Autoren, die den israelischen Comic
überhaupt erst als eigenständige Form erwachsenen künstlerischen Ausdrucks
etabliert haben, ist unbedingt löblich. Rutu Modan jedenfalls hat sich mit
ihren eigensinnigen Arbeiten, den großartigen, preisgekrönten „Blutspuren“
und nun mit „Das Erbe“ den Ruf als herausragende Comic-Künstlerin redlich
verdient.
15 Nov 2013
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[1] /!119282/
## AUTOREN
Katja Lüthge
## TAGS
Graphic Novel
Holocaust
Warschau
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